Bürgermeister vergrätzt die Atomlobby (17.5.1988)

Bürgermeister vergrätzt Atomlobby

Begrüßungsrede auf Atomforum

■ Zur Jahrestagung Kerntechnik 88 in Lübeck–Travemünde fordert der Bürgermeister, Lübeck nicht als Umschlagplatz für Atommüll zu mißbrauchen / Lokales Bündnis in Lübeck organisiert Protestaktion

Aus Travemünde G. Rosenkranz

Für einen Eklat sorgte das Grußwort des neugewählten Lübecker Bürgermeisters Michael Bouteiller (SPD) zur Eröffnung der Jahrestagung Kerntechnik 88 in Lübeck–Travemünde. Vor der am Dienstag morgen versammelten bundesdeutschen und europäischen Atomgemeinde verzichtete das Stadtoberhaupt auf die bei solchen Anlässen üblichen Freundlichkeiten.

Die Mehrheit der LübeckerInnen sei nicht länger bereit hinzunehmen, daß die Stadt als „nordeuropäischer Umschlagplatz für Atommüll“ mißbraucht werde, erklärte Bouteiller und zitierte aus einem Beschluß der Lübecker Bürgerschaft, in dem diese den „vollständigen Verzicht auf Atomstrom“ gefordert hatte. Die Landtagswahl wertete der erst seit Anfang Mai amtierende Bürgermeister als „Entscheidung gegen die Kernenergie. Damit müssen Sie sich auseinandersetzen.“

Herren im dunklen Anzug quittierten Bouteillers Auftritt mit Zischeln, Pfiffen und vereinzelten „Lüge“–Rufen. Der Jung–Bürgermeister hatte dem ursprünglich als Vertreter der Stadt vorgesehenen Finanzsenator Gerd Rischau (CDU) kurzfristig von der Redeliste gekippt und die Begrüßung des Atomkongresses selbst übernommen.

Für den Dienstagabend plante Bouteiller einen weiteren Auftritt, diesmal vor den Demonstranten gegen die Veranstaltung. Ob es dazu kommen würde, stand bei Redaktionsschluß allerdings noch nicht fest. Am Montag abend hatte das lokale Bündnis, das die Protestaktionen organisiert, den Auftritt des Bürgermeisters bei ihrer Veranstaltung davon abhängig gemacht, ob er am Morgen „ausreichend deutliche Worte“ finden würde.

Bevor Bundesreaktorminister Töpfer als Hauptredner der Eröffnungssitzung das Wort ergriff, fand Staatssekretär Karl Treml als Vertreter der noch geschäftsführenden schleswig–holsteinischen CDU–Landesregierung bewegte Worte. Treml entbot der Atomgemeinde das vom Bürgermeister verweigerte „herzliche Willkommen“ und empfahl sich – „Ich halte an meiner persönlichen Überzeugung zur Nutzung der Kernenergie fest“ – für einen neuen Job. Bundesreaktorminister Töpfer erklärte in seinem einstündigen Grundsatzreferat, die „Gerüchte und Vermutungen“ über eine mögliche Verletzung des Atomwaffensperrvertrags hätten sich als haltlos erwiesen. Sein nahezu abgeschlossenes „Entflechtungskonzept“ als Reaktion auf den Transnuklear–Skandal lobte er als „ein hervorragendes Beispiel für das erforderliche Zusammenwirken von Staat und Industrie“. Töpfer kündigte an, er wolle künftig „periodische Sicherheitsüberprüfungen“ für alle bundesdeutschen Atomanlagen in Zeiträumen von weniger als zehn Jahren verbindlich vorschreiben. Töpfer beschwor die „Erneuerung des energiepolitischen Grundkonsenses, nicht ohne der neuen schleswig–holsteinischen Landesregierung bei ihren angekündigten Ausstiegsbemühungen einen heißen Tanz anzukündigen. „Ich werde nicht zulassen, daß aus nicht sicherheitsgerichteten Überlegungen politische Entscheidungen“ gegen die Atomenergie gefällt werden“, rief der Minister unter dem Beifall der Atomgemeinde.

PreAg–Chef Herbert Krämer riet dem Lübecker Bürgermeister nach der Eröffnungssitzung, angesichts von 16 Prozent Arbeitslosigkeit in seiner Stadt „sollte er mit seinen Gästen etwas anders umgehen“.

taz 18.5.1988 – https://taz.de/Buergermeister-vergraetzt-Atomlobby/!1848822/