Das Portrait: Der sanfte Radikale

taz. die tageszeitung, vom 22. 1. 1996

Renitenter Bürgermeister Michael Bouteiller 

Da stellt sich ein Mann hin und weint. Öffentlich. Vor laufenden Kameras, offenen Mikrofonen und Hunderten Augenpaaren. Michael Bouteiller (51) ist Politiker, SPD- Bürgermeister von Lübeck. Zehn Menschen sind am Donnerstag bei dem Feuer in einem Flüchtlingsheim der Stadt verbrannt. Ein Schwarzafrikaner hat seine Frau und fünf Kinder verloren. Als der Familienvater bei einer Bürgerbefragung zusammenbricht, ist es der Bürgermeister, der ihn umarmt und mit ihm weint.

Doch Michael Bouteiller heult nicht einfach nur rum. „Sehr schnell war mir klar, daß es jetzt auch darum geht, eine Botschaft rüberzubringen“, sagt er. Und die verschärft erneut den Streit um das Asylgesetz. „Wir müssen die Gemeinschaftsunterkünfte auflösen, das unmenschliche Asylgesetz ändern, zivilen Ungehorsam leisten, um die Menschen vor Abschiebung zu schützen.“ Und: „Wenn der Staat sich entfernt von der Gesellschaft, ist es dieser Staat, den wir abschaffen müssen.“ Nichts als radikale Sprüche?

Bouteiller ist Jurist. Ein schmächtiger Mann mit braunen, bebrillten Augen und empfindlichem Blick. Seit 1988 ist er Lübecker Bürgermeister, vorher arbeitete er als Richter in Minden, baute in Bielefeld das Umweltamt auf und übte sich nebenbei bei Blockaden gegen die Atomwaffenstationierung.

„Offen“ sei er, sagt er über sich, „wenig aggressiv, aber durchsetzungsfähig.“ Kurz nach der Amtsübernahme in Lübeck attackierte er prompt die dort versammelte Atomlobby. Letztes Jahr legte er sich mit der Kaufmannschaft seiner Hansestadt an, weil er die Stadt vor „ausschließlichen Kapitalverwertungsinteressen schützen“ wollte. Als den „letzten Sozialisten“ beschimpften ihn daraufhin die Lübecker Nachrichten.

Die CDU stempelt ihn zum Hampelmann und versuchte bereits zweimal, ihn abzusägen. Die oberste Sozi- Riege wollte ihn 1993 gegen Björn Engholm als Bürgermeister austauschen – doch da war die SPD-Basis vor. Was ihn in der Asyldiskussion treibt, ist sein eigenes schlechtes Gewissen. Vor zwei Jahren warb er noch selbst für eine Grundgesetzänderung beim Asylrecht. Jetzt wirbt er für einen offenen Rechtsbruch beim Asylverfahrensgesetz. Ohne den Rückhalt der Lübecker und seiner Partei werden seine Forderungen tatsächlich nur Sprüche bleiben – das weiß er. Doch seine Ministerpräsidentin Heide Simonis hat er in vielen Punkten bereits auf seine Seite gezogen. 

BAM