Haben die deutschen Regierungen von 1998-2021 mit ihrer Festlegung auf Putins Gas ihre Amtseide auf die Verfassung gebrochen, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden?

Das fossile Zeitalter ist zu Ende. Nur haben wir leider immer noch nicht die fossilfreie Infrastruktur, die wir eigentlich bräuchten Ein exklusiver Vorabdruck des neuen Buchs von Claudia Kemfert

Das Hauptdeck des schwimmenden LNG-Terminals im Hafen von Lubmin. John MACDOUGALL/AFP

Stellen wir uns vor, in der Bäckerei um die Ecke spielen sich auffällige Dinge ab. Ein Mitarbeiter wird brutal verprügelt – weil er den Arbeitsvertrag verletzt habe, sagt der Bäcker. Zwei Mitarbeiterinnen aus dem Obstladen nebenan stehen plötzlich angekettet in der Backstube – sie seien aus der Sklaverei des Obsthändlers befreit worden, sagt der Bäcker. Ein Kunde bekommt für sich und seine Familie kein Brot mehr, wenn er nicht deutlich mehr Geld bezahle – wer nicht zur Familie gehöre, verdiene keine Sonderbehandlung, sagt der Bäcker. Eine andere Kundin wird beschimpft und mit Gewalt bedroht, bis sie endlich ihr Portemonnaie auf dem Tresen ausschüttet – sie sei eine Diebin und müsse bezahlen, was sie gestohlen habe, sagt der Bäcker. Was tun?, würde ich mich fragen. Ich könnte all die betroffenen Personen befragen, was los ist. Ich könnte irgendwelche Ordnungskräfte zu Hilfe rufen. Eigentlich ist der Bäcker ja immer nett, ich bekomme immer ein wenig Rabatt und Kindern schenkt er Rosinenbrötchen. Ich könnte aber auch einfach nicht mehr hingehen und meine Brötchen woanders kaufen. Aber ich würde sicher nicht mit dem Bäcker einen Vertrag schließen, in dem er sich verpflichtet, mir jeden Morgen eine Tüte Brötchen zu liefern, und ich mich verpflichte, diese Brötchenlieferung die nächsten 35 Jahre zu bezahlen, ganz gleich, ob ich sie brauche oder nicht. Und erst recht würde ich kein kompliziertes teures Transportsystem bauen, mit dem meine Brötchen für die nächsten 50 Jahre direkt in mein Haus transportiert werden sollen.

Aber ungefähr das geschah mit unserer Energiepolitik gegenüber Russland.

Um die Jahrtausendwende hatten sich mit russischer Beteiligung erschreckende Dinge abgespielt: Die Republik Tschetschenien wurde im Streit, ob sie „abtrünnig“ oder „unabhängig“ war, von Russland mit einem brutalen Krieg überzogen. Die Regionen Abchasien und Südossetien, eigentlich Teil des unabhängigen Staates Georgien, wurden von Russland „befreit“, was eine dreiste Beschönigung dafür war, dass die georgischen Regionen faktisch militärisch und wirtschaftlich von Russland annektiert wurden. Die ehemalige Sowjetrepublik Belarus wurde mit Preisdruck zu „Loyalität“ gegenüber Russland gezwungen. Und die Ukraine, ebenfalls ehemalige Sowjetrepublik, wurde als Gasdieb diffamiert, nachdem sie sich weder durch Preisdruck noch durch Gewaltandrohung zur Loyalität gegenüber Russland zwingen ließ.

Das alles kam nicht wirklich überraschend. Bereits in seiner Dissertation von 1997 und in einem Artikel von 1999 hatte Putin zum Ausdruck gebracht, dass er den Energiesektor nicht nur „als Schlüssel für die wirtschaftliche Wiedergeburt“, sondern vor allem als „Instrument des Wiederaufstiegs Russlands zur Supermacht“ betrachtete. Das schreibt Frank Umbach, der heutige Forschungsdirektor am European Centre for Energy and Resource Security am King’s College London, in einem Aufsatz 2006. In drastischen Worten warnt der Autor darin vor „Europas nächstem Kalten Krieg“ und vor „Moskaus neuem „Energie-Imperialismus“.

Umbach hatte in Moskau an der Universität gearbeitet, war wissenschaftlicher Berater des Nato-Generalsekretärs in Brüssel gewesen und zum Erscheinungszeitpunkt des Artikels obendrein Mitglied der Präsidialgruppe Internationale Rohstofffragen beim Bundesverband deutscher Industrie (BDI). Der Aufsatz erschien in der Fachzeitschrift „Internationale Politik – IP“, die von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) herausgegeben wird, einer der zentralen Forschungseinrichtungen der Außenpolitik in Deutschland. Die Referenzliste seiner Expertise zu Sicherheitspolitik und Energiesicherheit ließe sich leicht fortsetzen.

Umbach ging es ganz sicher nicht um Effekthascherei oder etwas, das wir heute „Clickbaiting“ nennen würden. Sein IP-Beitrag war in jeder Hinsicht ernst gemeint und sehr ernst zu nehmen. Absatz für Absatz reihten sich unterschiedliche Dimensionen der Warnung aneinander – und in jedem ging es um die Folgen einer zu starken deutschen Energieabhängigkeit von Russland und um die irreführenden Mythen, die kursierten. „Langfristige Lieferverträge sind keineswegs automatisch mit der Stärkung der Versorgungssicherheit gleichzusetzen“, schrieb er zum Beispiel. „Im Gegenteil: Deutschland wird noch abhängiger von Russland.“ 

Durch die Ostsee-Pipeline könnte Deutschland theoretisch rund 50 Prozent seines Erdgasverbrauchs und bis zu 36 Prozent des gesamten Energieverbrauchs decken, gab er ein anderes Argument der Nord-Stream-Befürworter wieder. „Doch damit wird Deutschland viel verwundbarer.“ Dies gelte nicht nur für den Fall, dass Moskau den Gashahn zudrehe, sondern auch für terroristische Angriffe auf Pipelines, die weltweit zugenommen hätten.

Russland strebe den Aufbau eines Gaskartells an, mit dem zukünftig nicht nur Preise diktiert werden könnten. Es gäbe ein globales Nullsummenspiel um Zugriffsrechte auf Erdöl- und Erdgasfelder und ein „Great Game“ um Pipelines, das keineswegs auf Zentralasien beschränkt sei, sondern – wie der russisch-ukrainische Gasstreit zeigt – auch in Europa stattfinde.

Der Vorschlag, eine im Vergleich zur Landleitung „zwei- bis dreimal so teure“ Gasleitung durch die Ostsee zu bauen, „ging auf Gazprom und den Kreml zurück und basiert primär auf geopolitischen Erwägungen“. Im Hinblick auf den russisch-ukrainischen Gasstreit zum vorherigen Jahreswechsel stellt er fest: „Das Abdrehen des russischen Gashahns hat gezeigt, dass Moskau zunehmend gewillt ist, seine energiepolitische Macht auch außenpolitisch zu instrumentalisieren.“ Auf diese Art von Konflikt sei aber weder die EU noch Deutschland vorbereitet.

Das ist nur ein Autor und ein Aufsatz von vielen, die sich aus der Wissenschaft an die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft richteten. Es gab viele Texte dieser Art, gerade aus dem Bereich außenpolitischer Expertise. Die Botschaft war immer diese: Es ist ein Irrtum, zu meinen, dass Energieressourcen, egal ob Kohle, Öl oder Gas, einfache wirtschaftliche Güter seien. Sie sind Teil der außen- und sicherheitspolitischen Strategie der mächtigen Lieferländer. Energiesicherheit ist keine Frage von Luxus, es ist eine existenzielle Frage.

Aber es nützte nichts. Weder die Politik noch die Wirtschaft ließ sich durch solche Warnungen von ihrem Weg abbringen. Dessen ungeachtet schloss Deutschland „Take or Pay“-Verträge mit jahrzehntelanger Laufzeit und trieb mit großem Aufwand den Bau der Ostsee-Pipeline Nord Stream voran. Damit brachten wir uns in eine wachsende Abhängigkeit von einem in vielerlei Hinsicht fragwürdigen Lieferanten – und das, obwohl es Jahr für Jahr kleinere oder größere „Gasstreits“ gab, die uns eine Warnung hätten sein müssen, und das, obwohl unsere europäischen Nachbarländer schwere Bedenken hatten, und das, obwohl unser politischer, wirtschaftlicher und militärischer Bündnispartner USA eindringlich warnte. (…) 

Heute weigern wir uns wieder, über die wirklichen Lösungen zu diskutieren, weil es zu anstrengend wäre oder weil etwas anderes gerade leichter geht oder weil uns Ideen fehlen, wie es gehen könnte. Wieder fällen wir Entscheidungen, die uns in neue Abhängigkeiten bringen. Wieder favorisieren wir Technologien, die das eigentliche Problem nicht nur nicht lösen, sondern die dafür sorgen, dass das Problem größer und größer wird.

Wir reden über den Bau von festen LNG-Terminals, die verstärkte Nutzung von Kohlekraftwerken, die Inbetriebnahme alter Ölheizungen, die verlängerte Nutzung stillgelegter Atomkraftwerke. Wir reden über Tankrabatte und Gaspreisdeckel. Wir reden ausschließlich über Technologie der Vergangenheit. Es ist zum Wahnsinnigwerden!

Aber was wäre denn die Lösung? Die Lösung heißt Energiew…

„Nein, Frau Kemfert, wir wollen nicht über Energiewende reden“, fiel mir der Talkshow-Moderator Frank Plasberg ins Wort. Es war die Sendung vom 21. März 2022. Die Energiekrise stand vor der Tür. Wir hatten noch sechs bis acht Monate Zeit, um nicht nur die leeren Gasspeicher zu füllen und provisorische LNG-Terminals zu bauen, um über den Winter zu kommen. Parallel dazu mussten wir anfangen, langfristig geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um im übernächsten und überübernächsten Winter nicht wieder vor demselben Problem zu stehen – oder vor einem noch größeren Problem.

Natürlich musste man da über die Energiewende reden. Aber ich schaffte es nicht einmal, das Wort zu Ende zu sprechen. Das war kein Einzelfall. Es passiert nicht nur mir dauernd, sondern auch anderen. Egal, wer versucht, zu erklären, was aus wissenschaftlicher Perspektive jetzt zu tun ist, er oder sie wird genervt bis aggressiv abgewürgt – in nahezu allen Talkshows oder anderen öffentlichen Diskussionsformaten.

Dafür sei jetzt keine Zeit, ist die Botschaft. Als wäre die Energiewende Traumtänzerei oder ferne Zukunftsmusik, worüber man reden könne, wenn die Krise überstanden sei. Nein, Energiewende ist die einzig vernünftige Antwort auf die Krise und wäre eine sehr vernünftige Prävention vor der Krise gewesen! (…)

Vor 15 Jahren war es tatsächlich noch sinnvoll, auf Gas als „Brückentechnologie“ zu setzen, weil es gute Gründe gab, sich erst mal und vordringlich von der Kohlenutzung zu verabschieden. Gas war im Vergleich dazu das deutlich geringere Übel. Insofern war es durchaus richtig, für die nächsten zwanzig Jahre mit einem erhöhten Gasverbrauch zu rechnen und diesen Bedarf durch entsprechende langfristige Verträge abzusichern.

Vor 15 Jahren hätte sich der Bau von LNG-Terminals noch gelohnt, weil man damals die jahrzehntelange Nutzungsdauer noch weitestgehend hätte ausschöpfen können. Das ist heute anders. Genauso wäre damals die Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken noch sinnvoll gewesen, allerdings nur, wenn man im Gegenzug schneller aus der Kohlekraft ausgestiegen wäre und vor allem – und das ist das Wichtigste! – die erneuerbaren Energien sofort, mit aller Kraft, vordringlich und konsequent ausgebaut hätte.

Aber heute sind solche Maßnahmen absolut nicht sinnvoll – bis auf den Teil mit den erneuerbaren Energien. Das ist heute umso dringlicher, gerade weil ausgerechnet der richtige und „gesunde“ Teil der Lösung ausgebremst wurde. (…)

Energieminister Robert Habeck – der sich nicht „Energieminister“ nennt, sondern „Bundesminister für Wirtschaft und Klima“, ist in Wahrheit gerade nichts anderes als der Chef eines Energieministeriums – wie ich es seit zwei Jahrzehnten immer wieder gefordert habe. Heutzutage muss er aufgrund unserer extremen Gasabhängigkeit nach Katar oder nach Kanada reisen, um potenzielle Gaslieferanten davon zu überzeugen, mit deutschen Unternehmen Gaslieferverträge abzuschließen. Und leider ist er gezwungen, selbst vor Autokraten den Kotau zu machen, damit diese uns in unserer Not nicht desaströse Bedingungen aufbürden, etwa überteuerte Preise oder endlos lange Vertragslaufzeiten, die unsere Wirtschaft auf andere Weise in die Knie zwingen würden.

Im Grunde laufen wir herum wie ein Junkie, dem seine Droge abhandengekommen ist, weil sein bisheriger Drogenhändler dummerweise Amok läuft und deswegen nicht mehr geschäftsfähig ist. Jetzt gilt es, übergangsweise irgendwo Ersatz zu finden. Aber eigentlich steht der Entzug an. Am besten wäre Methadon, das uns ein wohlgesinnter Arzt spritzt, der uns dabei helfen möchte, wieder „clean“ zu werden.

Aber leider sind die meisten Gaslieferanten in der Welt fiese Autokraten, die gar kein Interesse daran haben, dass wir unsere fossile Abhängigkeit aufgeben. Wer jetzt darüber jubelt, dass Energieminister Habeck über seinen Schatten springen muss und „endlich auch mal“ fossile Energien kauft, die er doch früher so verteufelt hat, hat wirklich den Schuss nicht gehört: Das fossile Zeitalter ist zu Ende. Nur haben wir leider immer noch nicht die fossilfreie Infrastruktur, die wir eigentlich bräuchten.

Dabei ist der Schuss von 2022 so viel lauter als jeder andere zuvor. Dies ist kein Warnschuss mehr. Dieser Schuss richtet sich nicht nur gegen die Ukraine, sondern gegen den gesamten demokratischen Westen. Er richtet sich auch gegen uns. Er soll uns treffen, er soll uns verletzen und er zielt auf unsere gesamte Existenz. All das war 2006 noch völlig anders. 

Claudia Kemfert:

Schockwellen – Letzte Chance für sichere Energien und Frieden. Campus, Frankfurt 2023. 310 S., 26 Euro.

Quellenangabe: FR Deutschland vom 04.02.2023, Seite 3