Die Novemberrevolution 1918 änderte an den Machtverhält-nissen in Lübeck nichts. Warum?

Die Novemberrevolution 1918 brachte Lübeck zwar das demokratische allgemeine und gleiche Wahlrecht. An den Machtverhältnissen änderte sich hingegen – wie wir unten sehen werden – nichts. Weshalb Lübeck allerdings der einzige der 25 Bundesstaaten der Weimarer Republik blieb, dessen Regierung aus dem Kaiserreich sich im Amt hatte halten können, erklärt vielleicht die kluge Analyse des langjährigen Syndikus der Lübecker Handelskammer und späteren Bürgerschaftsmitgliedes Dr.Erich Wallroth (1876-1929) [„Lübecks Eigenart als Gemeinwesen. Eine Rückschau.“ Jahrgang 68, 1926, Lübeck 1927, S. 363; https://michaelbouteiller.de/erich-wallroth-luebecks-eigenart-als-gemeinwesen/].

Die wirtschaftliche, politische und kulturelle Lage des damaligen Freistaates schildert Wallroth in einem auch heute noch beachtlichen Artikel für die Lübeckischen Blätter von 1926. Im Ergebnis entwirft er das Bild eines erstaunlichen, ganz besonderen Gemeinwesens. Eines Gebildes, das in der Tat dem von Rudolf Steiner 1919 als Zukunftsmodell erdachten „Dreigliedrigen Sozialen Organismus“[Goetheanum 100 Jahre, 1919-2019, https://socialnew.goetheanum.org/de/dreigliederung/ ] entsprechen könnte. Durch dessen Wahrnehmungsfilter schreibt Erich Wallroth. Er sei hier ausführlich zitiert:

…“Dass die Arbeiterschaft im Verbande ihrer Gewerkschaften straff zusammengefasst ist, dass die Anwälte oder die Ärzte, die Kaufleute und das Gewerbe ihre „Kammern“ haben, bildet gewiss keine lübeckische Besonderheit. Schon die Handwerkerinnungen leben jedoch keineswegs nur von Gesetzes wegen. Neben diesen Innungen aber besteht, wenn wir von kleineren Ämtern absehen, zum Beispiel für die Träger im Hafen seit dem Mittelalter die „Träger-Compagnie“ und nicht minder für deren Arbeitgeber, die Reeder und Kapitäne, die etwa ebenso alte „Schiffer-Gesellschaft“ in ihrem weltberühmten Schifferhause. 

„..Es ist ein in seiner sozialen Gliederung, und zwar in der Selbstverständlichkeit dieser architektonisch abgestuften Gliederung, überaus anziehendes Bild, welches aus der Vogelschau ein solcher Blick (von St.Petri herab, MB) auf die großen, kleinen und kleinsten roten Dächer der Stadt bietet. Von der St.-Lorenz-Vorstadt und wenigen Ausnahmen in den drei anderen Vorstädten abgesehen, hat man sich hier weder kasernieren noch atomisieren lassen. Jeder ist, was er ist, und jeder zeigt auch, ohne Scheu und nicht ohne gesundes Selbstbewusstsein, was er ist. Diese im Gegensatz zu abertausenden anderen großen Städten der Welt so betont und so selbstverständlich nach außen zur Schau gestellte soziale Gliederung des Stadtaufbaus findet ihr Gegenstück in der bis in die jüngste Zeit ebenso selbstbewusst ausgeprägten, korporativen Gliederung der Stadtbevölkerung selber. 

Wichtiger noch sind die großen Zusammenschlüsse des Gewerbes in der „Gewerbegesellschaft“ und nicht zum mindesten des gesamten Handels einschließlich der Industrie in der „Kaufmannschaft“, endlich über alle Stände hinweg die alte und hoch angesehene „Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit“.  Erst wenn man sich diese wechselvolle Buntheit des körperschaftlichen Aufbaus vor Augen hält, begreift man, warum diese Stadt als Gemeinwesen für den landfremden Preußen so stark aus dem Rahmen des ihm Bekannten heraus fallen muss.

Dem verstorbenen Philosophen Rudolf Steiner schwebte für die staatlichen Neuaufbau der Zukunft bekanntlich eine „Dreigliederung des sozialen Organismus“ vor. Entpolitisierung der Wirtschaft auf der einen, Entpolitisierung der Kulturfragen auf der anderen Seite waren für ihn wichtige, leitende Gesichtspunkte. Ob richtig oder unrichtig, gesetz- oder verfassungsmäßig ist dies meiner Überzeugung nach eine unlösbare Aufgabe. Der Streit um die Trennung der Gewalten sowie um den Schlüssel zur Lösung der Aufgabe würde nur erneut die Köpfe spalten. Näher kommen wenigstens kann man jenem Ziele wohl nur durch eine zweckdienliche Verteilung der öffentlichen Aufgaben in staatliche und korporative Aufgaben.

In Lübeck ist man freilich bis vor kurzem in dieser Entpolitisierung schon im Staate selbst noch erheblich weiter gegangen. Den großen Staatsgebilden mag die strenge parteimäßige Gliederung des Parlaments wie der Regierung eine mehr oder weniger unentrinnbare Notwendigkeit sein, so sehr man bezweifeln mag, ob die heutigen Parteischemen nicht schon vielfach Züge der Überalterung tragen. Die Anwendung des gleichen Schemas auf die begrenzten und unmittelbar praktischen Aufgaben einer Stadt oder eines Stadt-Staates ist aber vielleicht doch kein so unbedingtes  Gebot der Notwendigkeit, wie es gemeinhin erscheint. 

Im Lübeck der Vorkriegszeit jedenfalls spielten – abgesehen von der Sozialdemokratie, die als Vertreterin der Handarbeiterschaft und gewisser Kreise der Angestelltenschaft allerdings ihrem Kern nach eigentlich von allen Parteien die ausgeprägteste Berufsvertretung darstellt – die bekannten großen bürgerlichen Parteien für das öffentliche Leben der Stadt überhaupt keine Rolle. 

Zwar war nicht die Verfassung als solche mehr berufsständischen Inhalts (abgesehen vom Senat, der sich in gelehrte und kaufmännische Mitglieder deutlich gliederte). Aber die praktische Handhabung der bürgerlichen Wahlen war es um so mehr. Denn die Aufsätze für die bürgerlichen Wahlen und damit praktisch die Wahlen selber lagen bekanntlich ganz in den Händen des alle bürgerlichen Bevölkerungsgruppen umfassenden „Vaterstädtischen Vereins“. In ihm einigten sich – im Auftrage ihrer Korporationen und Vereinigungen – die Vertreter der Gross-Kaufmannschaft und des Kleinhandels, der Gewerbe, der Grundbesitzer und der Landwirte, der gelehrten Berufe und zum Teil der Angestelltenschaft, ohne jedes Parteidogma sowohl über den Verteilungsschlüssel für die Kandidaten der einzelnen Gruppen, wie über die Wahlaufsätze selber. 

Damit war der Wahlvorgang faktisch bereits im Voraus erledigt. Ein gesetzmäßig, normierter Verteilungsschlüssel bestand nur in der fraglos ungerechten politischen Kontingentierung der Bürgerschaftssitze für die kleinen Steuerpflichtigen, also zum Nachteil vor allem der Handarbeiterschaft und der ihr benachbarten Schichten. Dies zu vermeiden, wäre bei besserer Einsicht wohl möglich gewesen. An der im Kern dem sozialen Aufbau des Stadt-Staates folgenden Gliederung der Bürgerschaft hätte eine gerechte, notwendige, aber bei gutem Willen auch mögliche Korrektur jenes Fehlers an sich nichts Grundlegendes zu ändern brauchen.

Die Vor- und Nachteile dieses Zustandes gegenüber dem anderer Städte und gegenüber dem heutigen Zustand zu werten, kann natürlich nicht Zweck dieser Zeilen sein.  Es genügt festzustellen, dass das innere staatliche Lübeck bis über den Weltkrieg hinaus ein von „normalen“ städtischen Gebilden gebildetes, gänzlich abweichendes Gepräge hatte und – wirklich nur trotzdem? – doch eine gesund aufstrebende Hafen-, Handels- und Industriestadt war. Dass jedenfalls die Beziehungen der Bewohner untereinander, die Harmonie ihres Zusammenlebens hiervon vorteilhaft beeinflusst wurde, werden auch diejenigen zugeben, welche die auch mit diesem politischen System fraglos verbundenen Unstimmigkeiten in den Vordergrund stellen.

Eine weitere Besonderheit im Sinne der Entpolitisierung bildete eine in dieser Ausprägung in Deutschland wohl einzigartige Überlassung wichtiger Staatsaufgaben an vorhandene korporative Organe. Zunächst auf dem Gebiet der Kulturpflege! Hier ist es die schon erwähnte so genannte „Gemeinnützige“, welche neben früheren sozialen Aufgaben, die allmählich der breiteren Schultern von Staat und Reich bedurften, kulturelle Aufgaben weittragender Art seit langem übernommen hat. Ihr anzugehören, war und ist in breiten Kreisen des lübeckischen Bürgertums selbstverständliche bürgerliche Pflicht. Von ihr wird nicht nur das Vortragswesen der Stadt in weitem Maße getragen; auch die ganze Museumsverwaltung war und ist, wenn auch mit staatlichen Zuschüssen, ihre Sache; ihr wöchentlich erscheinendes Organ, die „Lübeckischen Blätter“, sind ohne Frage von jeher der beste geistige Spiegel der Stadt, und ihre Bücherei kann sich neben anderen öffentlichen Büchersammlungen durchaus sehen lassen.

Schließlich – und zwar wiederum bemerkenswerterweise als Mitträger wichtiger Staatsaufgaben – die „lübeckische Kaufmannschaft“. Ihr Einfluss auf Staat und Verwaltung in den Hansestädten ist gewiss allgemein sehr groß, viel größer jedenfalls als irgendwo sonst im Binnenland. Darüber hinaus ist ihre besondere, in Deutschland einzigartige Aufgabe, vor allem die Verwaltung aller See- und Binnenhäfen, einschließlich der daraus sich ergebenden Nebenaufgaben, die überall sonst beim Staat oder bei der Stadtverwaltung liegen. 

Wortführer der Bürgerschaft, Präses der Kaufmannschaft und Direktor der Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit war und ist wohl auch heute noch in Lübeck, die selbstverständliche Trias der höchsten Ehrenämter der Stadt. Sie ist es so sehr, dass Bürgermeister und Senatoren bekanntlich früher überaus häufig erst Mitglieder dieser Trias waren, ehe sie zum höchsten Staatsamt berufen wurden.

Es war also, um cum grano salis auf Steiner zurück zu kommen, eine immerhin beachtenswerte Annäherung zu einer „Dreigliederung des sozialen Organismus“, teils auf staatlicher, teils auf korporativer Grundlage, welche dem öffentlichen Leben Lübecks bunten und lebendigen Inhalt gab. Sie wäre, wenn auch mit unbedingt notwendigen Um- und Weiterbildungen, weiterer fruchtbarer Ausgestaltung durchaus fähig gewesen, wenn die neue Zeit etwas mehr Nährboden für das organisches Wachstum solcher geschichtlich bedingter Gebilde mit sich brächte, die in der Vergangenheit trotz allem, was man einwenden mag, doch im Kern gut und gesund, jedenfalls bodenständig waren.

In einem solchen, dem inneren Leben wie dem äußeren Bild Lübecks seinen Stempel aufdrückenden Gesamtorganismus zu leben und zu wirken hatte, trotz mancher Kleinigkeiten (die aber gewiss auch anderswo nicht fehlen), zweifellos seinen eigenen Reiz. Dieser Reiz war umso größer, als Lübeck für die berufsmäßige Wahrnehmung seiner öffentlichen Funktionen keineswegs Inzucht trieb. 

An der Spitze der Geschäftsführung der Bauverwaltung, der Verwaltungsbehörde für städtische Gemeindeanstalten, des Schulwesens, der Gerichtspflege zum Beispiel standen meist auswärts erprobte Männer, denen man – ich erinnere nur an den alten Rehder – trotz aller Kollegienverfassung, einen weitreichenden Spielraum für ihre persönliche Gestaltungskraft ließ…“

Wallroth beschreibt hier das Bild eines korporativen Gemeinwesens, dessen traditionelles Vereins- und Verbandswesen die personellen Auswahlentscheidungen übernimmt. Gegensätzliche Anschauungen in Personal- und Fachfragen werden innerhalb der Institutionen abgearbeitet, so z.B. die personellen Konflikte innerhalb des Bürgertums bei der Vorbereitung von Bürgerschaftswahlen in der „Vaterstädtischen Vereinigung“. Oder die Vorschläge für die Wahl des Regierenden Bürgermeisters über die „Gemeinnützige“. 

Wirkte die vorrevolutionäre „Dreigliederung des sozialen Organismus“ Wallroths hinein in die Weimarer Republik?  Ja und Nein. Richtig ist, dass die patrizische Tradition und Kultur nicht nur das vorrevolutionäre Lübeck prägte. Abram Enns gibt uns einen zutreffenden Einblick in das dazugehörige verschlafene Kulturleben Lübecks vor Carl Georg Heises Dienstantritt als Direktor des St.Annen-Museums im Mai 1920 [Abram Enns, Kunst und Bürgertum. Die kontroversen zwanziger Jahre in Lübeck, Hamburg 1978, Klappentext].

Es spricht auch vieles dafür, dass es diese alte konsensuale Tradition des Lübecker Patriziertums war, die der Elite der SPD-Arbeiterschaft später, besonders unter ihrem streitbaren Anführer Julius Leber ab 1921, keine Chance auf kulturelle Teilhabe, geschweige denn politische Dominanz im Freistaat, gab. Wallroths Blick war allerdings verstellt, wenn er die aufkommende Wut der rasant wachsenden Industriearbeiterschaft Ende des 19. Jahrhunderts über die verweigerte Teilhabe am Gemeinwesen durch das Vier-Klassen-Wahlrecht* nicht wahrhaben wollte und die tiefe Spaltung der Stadtgesellschaft unterschätzte. 

[* Bis zur Februarwahl 1919 konnten nur Bürger, die fünf Jahre hintereinander in Lübeck ansässig waren und Steuern gezahlt hatten, wählen. Man teilte sie aber obendrein noch in vier Klassen ein und maß Ihnen die Zahl der Mandate nach Einkommen oder Landbesitz zu. In den städtischen Bezirken hatten die Bürger mit einem Einkommen von mehr als 2000 Mark jährlich 90 Vertreter in die Bürgerschaft zu entsenden, während auf die große Zahl der übrigen Bürger ganze zwölf Sitze entfielen. Auf dem Landgebiet standen den Besitzenden zwölf Vertreter, den minderbemittelten Bürgern 3 Sitze zu, LV v.10.2.1919, S.1; Vgl. z.B.zur Bürgerschaftswahl vom 20.11.1913, Lübecker Volksbote v.20.11.1913, S.1]

Deshalb bleibt das Narrativ Wallroths vorrevolutionär, soweit er darauf abhebt, es sei ohne weiteres „bei gutem Willen“ möglich gewesen, die Ungerechtigkeit des Wahlrechts der Kaiserzeit in einem Lübecker „dreigliedrigen sozialen Organismus“ auszugleichen. Für die tiefgreifenden Konflikte der Stadtgesellschaft Lübecks, die Spaltung in Bürger (30%) und Arbeiter (70%) hatte Wallroth keinen Sinn .[Michael Bouteiller, Vom qualvollen Ende Weimars im Freistaat Lübeck 1921-1933, Schriften der Erich-Mühsam-Gesellschaft, Heft 48, Norderstedt 2022, S.30, https://michaelbouteiller.de/?p=4965] .

Denn diese lag nach wie vor ausschließlich beim Lübecker Patriziat (Possehl usw.) bzw. im Reich beim Großkapital der Siemens, Hugenbergs, Kirdorfs, Krupps, Beukenbergs [Klaus-Dieter Walter Pomiluek, Heinrich Wilhelm Beukenberg, Ein Montanindustrieller seiner Zeit, Inaugural-Dissertation, 13.2.2002, https://docserv.uni-duesseldorf.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-3646/1646.pdf]. usw. Ein gesetzlicher Umsturz der Vermögensverhältnisse wurde nach  der Novemberrevolution vertagt.

Selbst die Fürstenenteignung war im Reichstag auf Antrag von KPD und SPD zwar eingebracht, scheiterte jedoch im Volksentscheid am 20. 6.1926. Eine gerechte Vermögensverteilung des bürgerlichen Großkapitals im Reich und in den Bundesländern zu fordern, war später unrealistisch. Der „werktätigen Bevölkerung“ [Untertitel des Lübeckischen Volksboten] und ihren Gewerkschaften wurde jede entscheidende Machtoption verweigert. Das war auch nach 1945 so, denn in der Währungsreform blieb das Betriebsvermögen erhalten [MB, Verfassungsgewalt, 2022, https://michaelbouteiller.de/?p=4785].

In Lübeck waren es sicher auch die führenden und gemäßigten Sozialdemokraten selbst, die es versäumt hatten,  die absolute Mehrheit ihrer Mandate in der ersten Bürgerschaftswahl nach der Revolution (9.2.1919) in eine Regierungsmehrheit durch eine entsprechende Verfassungsänderung umzumünzen. Danach fanden  die Sozialisten zu keinem Zeitpunkt mehr zu einer mehrheitlich sozialdemokratischen Regierung. Der Senat blieb bis zum 6.3.1933 fest in der Hand der Bürgerlichen [Michael Bouteiller, a.a.O.], die sich nach dem 1.1.1921 unter ihrem Senatspräsidenten Johann Neumann mehr und mehr an den Völkischen orientierten. 

Nach dem Sturz ihres Sprachrohres, des Regierenden Bürgermeisters Johann Neumann, am 2.6.1926, wurde der von diesem maßgeblich mitgegründete Hanseatische Volksbund bei den Bürgerschaftswahlen im November 1926 zur stärksten Fraktion, um nach dessen Tod, am 7. April 1928, alsbald in der NSDAP aufzugehen. [Bouteiller, a.a.O. ]. Dabei spielte es für die herrschende bürgerliche kulturelle Hegemonie keine Rolle, dass mit der Abwahl Dr.Neumanns am 2. Juni 1926 und der Wahl Senator Paul Löwigts zum Regierenden Bürgermeister am 3.Juni 1926 ein Sozialdemokrat zum Präsidenten des Senats gewählt worden war. 

Löwigt stand ab 22.6.1926 als Senatspräsident einem mehrheitlich bürgerlichen Senat vor und fügte sich als gemäßigter Sozialdemokrat nahtlos in die Kooperation mit den inzwischen zunehmend national-völkisch orientierten oppositionellen Senatoren. Trotz des „Coming-out“ seines Vorgängers, der demonstrativ an der Gedenkfeier zum einjährigen Todestag des nationalsozialistischen Märtyrers Albert Leo Schlageter am 26.Mai 1924 mit seinem Stellvertreter, Senator Dr.Vermehren, im Dom teilgenommen hatte, [Max Knie, 15 Jahre Lübecker Zeitgeschichte. Von der Revolte bis zur Nationalen Erhebung, Lübeck 1933, S.40; https://michaelbouteiller.de/?p=4881] hielt Senator Löwigt im Senat eine außergewöhnlich versöhnliche Abschiedsrede auf Dr.Neumann.[Max Knie, a.a.O., S.54] Die linke Sozialdemokratie unter Julius Leber beklagte demgegenüber eine zunehmend tiefere Spaltung der Stadtgesellschaft in Bürger und Arbeiter. 

„Man versteht sich nicht mehr in Deutschland; das Volk ist gespalten, unüberbrückbar gespalten. Hier Arbeiter – hier Bürger. Nie kam das besser zum Ausdruck als gestern, an dem ersten Tag in der Nordischen Woche… Nordische Journalisten drückten gestern ihr Erstaunen aus, dass man sie zu Veranstaltungen mit  r e i n.  w i r t s c h a f t l i c h e n und k u l t u r e l l e n Absichten einlade und dass man ihnen dann eine gewaltige monarchistische Flaggenparade vor die Nase hänge. „Wollen die Deutschen uns vor Augen führen, dass sie trotz allem nichts gelernt haben?…

Das Bürgertum hat total versagt, es ist mehr und mehr nach rechts abgeschwenkt. Die Kreise derer, die dem Arbeiter auch sein Recht gönnten, sind kleiner und kleiner geworden. Und jetzt ist die Lage so, dass man, ohne erheblich der Tatsache Zwang anzutun, von einer Zweiteilung des Volkes in A r b e i t e r s c h a f t und B ü r g e r t u m sprechen kann. Möchte das Bürgertum doch einsehen, dass es auf verlorenem Posten kämpft,, dass die geschichtliche Entwicklung ihm unrecht geben muss!“ [Julius Leber., Lübecker Volksbote, 2.9.1921, S.1]

Die patrizische  „Konsensmaschine“ Wallroths hielt der faschistischen Gewaltwalze nicht stand. Die Weimarer Verfassung hatte weder an den himmelschreienden Ungerechtigkeiten der kaiserlichen Vermögensspreizung, also der barbarischen Eigentumsordnung, etwas geändert,[Michael Bouteiller, Verfassungsgewalt, Lübeck 2022, S. 12, https://michaelbouteiller.de/?p=4785] noch Vorkehrungen getroffen gegen deren Verbindung mit dem faschistisch gewordenen Staat. Die Nationalversammlung in Weimar hatte vielmehr Augen und Ohren vor der hellsichtigen Warnung Rosa Luxemburgs vom 20.11.1918 verschlossen:

…Die Nationalversammlung ist ein überlebtes Erbstück bürgerliche Revolutionen, eine Hülse ohne Inhalt, ein Requisit aus den Zeiten kleinbürgerlicher Illusionen vom „einigen Volk!, von der„Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ des bürgerlichen Staates.

Wer heute zur Nationalversammlung greift, schraubt die Revolution bewusst oder unbewusst auf das historische Stadium bürgerlicher Revolutionen zurück; er ist ein verkappter Agent der Bourgeoisie oder ein unbewusster Ideologe des Kleinbürgertums. Unter dem Feldgeschrei: Demokratie oder Diktatur! Wird der Kampf um die Nationalversammlung geführt. Auch diese Parole der gegenrevolutionären Demagogie übernehmen gehorsam sozialistische Führer, ohne zu merken, dass die Alternative eine demagogische Fälschung ist.

Nicht darum handelt es sich heute, ob Demokratie oder Diktatur. Die von der Geschichte auf die Tagesordnung gestellte Frage lautet: bürgerliche Demokratie oder sozialistische Demokratie. Denn die Diktatur des Proletariats, das ist die Demokratie im sozialistischen Sinne. Diktatur des Proletariats, das sind nicht Bomben, Putsche, Krawalle, „Anarchie!, wie die Agenden des kapitalistischen Profits zielbewusst fälschen, sondern das ist der Gebrauch aller politischen Machtmittel zur Verwirklichung des Sozialismus, zur Expropriation der Kapitalistenklasse – im Sinne und durch den Willen der revolutionäre Mehrheit des Proletariats, also im Geiste sozialistischer Demokratie.

Ohne den bewussten Willen und die bewusste Tat der Mehrheit des Proletariats kein Sozialismus. Um dieses Bewusstsein zu schärfen, diesen Willen zu stärken, diese Tat zu organisieren, ist ein Klassenorgan nötig: das Reichsparlament der Proletarier in Stadt und Land. Die Einberufung einer solchen Arbeitervertretung anstelle der traditionellen Nationalversammlung der bürgerlichen Revolution ist an sich schon ein Akt des Klassenkampfes, ein Bruch mit der geschichtlichen Vergangenheit der bürgerlichen Gesellschaft, ein mächtiges Mittel zur Aufrüttelung der proletarischen Volksmassen, eine erste offene schroffe Kriegserklärung an den Kapitalismus.

Keine Ausflüchte, keine Zweideutigkeiten – die Würfel müssen fallen. Der parlamentarische Kretinismus war gestern eine Schwäche, ist heute eine Zweideutigkeit, wird morgen ein Verrat am Sozialismus sein.!“ [Luxemburg, Rosa, Erklärung des Spartakusbundes gegen die Wahl einer Nationalversammlung am 20.11.1918, Die Rote Fahne vom 20.11.1918 Nr 5, in Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte Band 3, Mainz 1966, S.26]

Aus heutiger Sicht und nach den ca. 187 Mio. „Megatoden“ des „kurzen 20.Jahrhunderts“ [Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, München Wien 1995, S. 26],  ist diesem Urteil Rosa Luxemburgs im Ergebnis nichts hinzuzufügen. Zwar wurde das Kaiserreich, d.h. die Staatsform der Monarchie, im November 1918 abgeschafft. Ein Machtwechsel fand indes auch in der Weimarer Republik nicht statt. Denn das Bürgertum hatte längst im Kaiserreich die tatsächliche Herrschaft übernommen. Und die große Hoffnung Julius Lebers auf eine geschichtliche Zukunft der Arbeiterklasse löste sich – wie wir wissen –  auf in Schall und Rauch.

Michael Bouteiller

Lübeck, 5.Februar 2023