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Was geht uns die Welt an?

Freitag, 7.12.2022, S. 3

Realitätsverlust Finanzminister Christian Lindner darf erst Schulden machen, wenn eine Notlage eingetreten ist. Das entspricht dem Gegenteil von vorausschauender Politik – und gefährdet das Wohl aller

Von Kathrin Gerlof

„Mechanismen der Verneinung sind aufrichtige Lügen“, schreibt Guillaume Paoli in seinem Buch Geist und Müll. Zumindest das ließe sich Finanzminister Christian Lindner (FDP) unterstellen. Er, so wie seine möglichen künftigen Koalitionspartner Friedrich Merz (CDU) und Markus Söder (CSU), lügen aufrichtig, was die Verteidigung der Schuldenbremse anbelangt. Das lässt sich allerdings nur durchhalten, wenn man bereit ist, völlig zu ignorieren, was die grüne Umweltministerin Steffi Lemke mit dem Satz „Die Schmerzgrenze des Planeten ist erreicht“ zusammenfasste. Kein Problem, doch, das geht. Und Klientelpolitiker, wie der Liberale Lindner einer ist, sind sich auch nicht zu schade, große Teile der Realität einfach auszublenden. Sie GLAUBEN an die Schuldenbremse, weil nur so aufrichtige Lüge werden kann, was sie jeden Tag erzählen.

Die schwäbische Hausfrau sollte endlich Klage beim Bundesverfassungsgericht einreichen, wegen ständigen Missbrauchs durch Männer, die sie immer wieder zitieren, um zu beweisen, dass man richtig liege. Viele Finanzminister – auch sozialdemokratische – haben ihr die düstere Anmutung einer Zuchtmeisterin gegeben, deren Herz eine schwarze Null ist und deren Tür verschlossen bleibt, wenn die Spätzle nur für zwei reichen, aber noch drei arme Schlucker Einlass begehren. Die Schuldenbremse wurde 2009 zum Gesetz erhoben und legte fest, dass Deutschlands maximal zulässige strukturelle Kreditaufnahme ab 2016 jedes Jahr bis zu einer Höhe von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes betragen darf. So steht es im Grundgesetz. Eine solche Festlegung enthält bereits in der Formulierung, was sie ermöglicht und was sie ausschließt.

Todesstoß fürs Denken

Sie ermöglicht tatsächlich Neuverschuldung über diese ominösen 0,35 Prozent hinaus, wenn Notlagen eingetreten sind. Das Verfassungsgericht hält das für „vollumfänglich verfassungsrechtlich prüfbar“. Vielleicht ließe sich an der Stelle – wenn das Gericht da schon vor Selbstbewusstsein strotzt – noch mal überlegen, ob diese Sache mit dem Klima nicht eine Notlage ist. Gerade erst hat doch der Klimabericht erklärt, Deutschland sei um 1,7 Grad wärmer geworden und verliere massiv an Wasser (jährlich einen ganzen Bodensee voll). Aber nein, so ist das natürlich nicht gemeint. Es geht eher um Wirtschaft, die ja herzlich wenig mit dem Klima zu tun hat, und eben das Bruttoinlandsprodukt, das ebenso unschuldig ist an der Klimakatastrophe.

Die Notlage hat nach gegenwärtiger Rechtslage und Rechtsprechung ein Ablaufdatum. Sie muss jährlich neu ausgerufen und begründet werden. Allerdings gilt auch, sie kann wiederholt beschlossen werden, wenn es länger dauert mit der Krise. Könnte man bei der Sache mit dem Klima hinbekommen, aber, wie geschrieben, darum geht es gar nicht. Das Verfassungsgericht hat die deutsche Einheit und die Weltwirtschaftskrise 2008 als Beispiele für eine solche Notlage genannt. Nicht das Überschreiten fast aller planetaren Grenzen. Vielleicht ist das auch zu groß.

Lukas Märtin und Carl Mühlbach schreiben auf der Webseite verfassungsblog.de den finsteren Herzen der schwarzen Null ins Buch: „Letztlich ist die Schuldenbremse, wie sie sich nun durch das Urteil darstellt, ein Todesstoß für politisches Denken in langfristigen Zusammenhängen.“ Denn natürlich kann sie im Fall von Naturkatastrophen (die Klimakrise kommt als solche daher, ist aber eine menschengemachte Katastrophe) oder außergewöhnlichen Notsituationen ausgesetzt werden. Aber: „Mit Blick auf die Konstruktion der Notlage fällt auf, dass Kreditaufnahmen nur re-aktiv möglich sind. Das Kind muss also schon in den Brunnen gefallen sein, bevor der Gesetzgeber mit Hilfe von Kreditaufnahmen tätig werden darf.“ Lasst uns warten, bis wir tot sind.

Präventive Politik, das aktive Verhindern von möglichen Notlagen und Katastrophen müssen ohne Kredite stattfinden. Eine solchen Kriterien folgende Politik ist mehr als unterlassene Hilfeleistung. „Unter Berücksichtigung der Erwägung des Senats wäre beispielsweise ein Ereignis wie die Flut im Ahrtal eine solche Naturkatastrophe. Für die Bekämpfung der Ursache, die vielen Naturkatastrophen zugrunde liegt, der Klimakrise, darf der Staat allerdings keine Kredite verwenden, was geradezu paradox anmutet“, schreiben die Verfassungsblogautoren Märtin und Mühlbach.

Luisa Neubauer (Fridays for Future) schlägt ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für Klimaschutz vor. Der Ökonom Marcel Fratzscher antwortet auf X, ein solches Sondervermögen sei gerechtfertigt, aber unzureichend, denn die Klimakrise „ist nicht temporär und unvorhersehbar, sondern eine Krise mit Ansage“. Der arbeitgebernahe Ökonom Michael Hüther bringt 400 Milliarden Euro ins Spiel (Lesen Sie das Freitag-Gespräch mit ihm auf Seite 5).

Die Erkenntnis, zu der viele kluge Menschen schon gelangt sind und andere vielleicht dieser Tage gelangen, ist: Die Schuldenbremse funktioniert sowieso nur, wenn man davon ausgeht, gehörig viel Kosten auszulagern und auf dem Rücken anderer, ärmerer Teile und Menschen der Welt die damit verbundene Austeritätspolitik zum ewigen Wahlkampfschlager zu machen. Unter der Schuldenbremse made in Germany leiden nicht nur all jene Menschen, die hierzulande in schwierigen und schwierigsten sozialen und ökonomischen Verhältnissen leben.

Es soll nicht darum gehen, das Verfassungsgericht für etwas anzuklagen, das die Politik zu verantworten hat. Die Richter*innen machen ihre Arbeit, ob uns die Ergebnisse nun passen oder nicht, und sie haben die Schuldenbremse nicht ins Grundgesetz gedengelt. Sie urteilen nur auf Basis dessen, was vorher getan oder versäumt wurde.

Das elfte Gebot

Auch der aktuelle Finanzminister hört wie seine Vorgänger nicht auf, die Schuldenbremse zu preisen, als sei sie ein Gebot Gottes – Nummer elf vielleicht. Die britische Financial Times – linksgrünsozialer Umtriebe nicht allzu verdächtig – schrieb denn auch, die grundgesetzliche Verpflichtung zu einem nahezu ausgeglichenen Haushalt sei eine denkbar schlechte Idee gewesen. Es werde sicher schwierig, aber ein politischer Konsens, die Schuldenbremse zu lockern, müsse wohl gefunden werden. Zumal das Urteil des Verfassungsgerichts Deutschland erschweren werde, seinen Anteil an der Aufstockung des EU-Haushaltes zu leisten.

Die Ökonomin Philippa Sigl-Glöckner und ihr Kollege Max Krahé formulierten es in einem Beitrag auf der Webseite dezernatzukunft.org (ein überparteilicher Thinktank, der uns und der Politik Geld-, Finanz- und Wirtschaftspolitik verständlich erklärt und einordnet) so: „Eines erlaubt aber weder die wiederholte Notlage noch die Konjunkturkomponente: wirklich vorausschauende Politik. Die Schuldenbremse gestattet keine mittelfristige strukturelle Neuverschuldung in signifikanter Höhe. (…) Um die Wirtschaft zu dekarbonisieren, unser Bildungssystem und die Bahn generalzuüberholen, über einen voll ausgelasteten Arbeitsmarkt die Löhne und die Produktivität zu steigern und mit kluger Industriepolitik die Wertschöpfungscluster der Zukunft zu uns zu holen – für diese Stärkung der Realwirtschaft, die erst die öffentlichen Finanzen langfristig tragfähig macht, trifft die Schuldenbremse keine Vorkehrungen.“ Verschulden dürfe man sich erst, wenn die Notlage da ist und der Abschwung in vollem Gange. Die völlig willkürliche Zahl von 0,35 Prozent führe zu einer nicht-nachhaltigen Politik.

Lesen die Politiker*innen, denen wir ja gewählt ausgeliefert sind, eigentlich solche Texte? Hören die den von ihnen gelobten Ökonomen zu? Peter Bofinger bezeichnet die Schuldenbremse als zukunftsfeindlich, Jens Südekum fragt, ob die der Realität überhaupt standhalte (der Freitag 47/2023). Natürlich, es gibt auch die anderen, die von einem fiskalischen Scherbenhaufen für nachfolgende Generationen reden, wie Friedrich Heinemann vom Zentrum Europäische Wirtschaftsforschung. Aber auch er plädiert dafür, die Bremse in ihrer jetzigen Form zu überprüfen. Das will Finanzminister Christian Linder aber genauso wenig wie Steuererhöhungen oder eine Reform der Erbschaftssteuer oder irgendetwas anderes, das geeignet wäre, auf richtige Art und Weise wenigstens ein bisschen umzuverteilen. Auch der Ökonom Heinemann kann die Frage nicht beantworten, was nachfolgende Generationen eigentlich mit einem ausgeglichenen Haushalt anfangen können, wenn ihnen die Luft zum Atmen und das Wasser ausgeht. Ist aber auch nicht wichtig, der Mann ist dann schon tot.

Da sei Gott vor!

Es ist nicht sinnvoll, sich an Christian Lindner festzubeißen und Merz zu vergessen. Dessen Ziel, die Regierung vor sich herzutreiben, zu destabilisieren und ins vorzeitige Aus zu prügeln, um dann selber Regierung sein zu dürfen (niemand sollte den Namen des Herrn missbrauchen, aber da sei Gott nun wirklich vor), hat nichts, aber auch gar nichts mit den Interessenslagen der lebenden und der kommenden Generationen zu tun. Merz macht ausschließlich Politik für Merz und bei vielen seiner Kollegen im Geiste ist es nicht anders. Dass er nun aus den eigenen Reihen wahrscheinlich nicht nur Nettes zu hören bekommt, dafür, dass er sich die Hände reibt, weil 60 Milliarden im Haushalt fehlen, wird er vorerst verschmerzen können. Merz denkt wahrscheinlich über den nächsten Coup nach und die AfD ärgert sich vielleicht, dass sie nicht selbst auf die Idee gekommen ist, tröstet sich aber damit, Nutznießerin zu sein.

Die Regierung und ihr Finanzminister machen es Merz leider ziemlich einfach. In leichter, aber folgenschwerer Abwandlung der Worte des Bundeskanzlers: Wir sind ziemlich allein, draußen ist es dunkel, das Wasser geht aus, auf den Autobahnen braust der Verkehr, den Tafeln wird das Essen knapp, anderswo auf der Welt ist nach der Dürre vor der Dürre und nach der Flut vor der Flut, Klimaflüchtlinge gibt es nicht, solange wir sagen, dass es sie nicht gibt, und überhaupt, was geht uns die Welt an?

Am Ende muss man sich dann noch Regierungserklärungen dieses Bundeskanzlers anhören, der die Kunst des Weglächelns zwar beherrscht, seinen Wirtschafts- und Klimaminister jedoch alone walken lässt. Und das ever, wie es aussieht.

Wir sollten über eine grundgesetzlich verankerte Schuldbremse reden

Von Michael Bouteiller

1943,
Richter am Verwaltungsgericht Minden,
Gründung IBZ Friedenshaus (Internationales Begegnungszentrum) Bielefeld,
Aufbau und Leitung Wasserschutzamt Bielefeld,
Bürgermeister a.D. Lübeck,
Rechtsanwalt bis April 2024, Autor