US-Vizepräsident: Man sollte ihn nicht unterschätzen
Noch wirkt JD Vance als Steigbügelhalter von Donald Trump. Beschäftigt man sich mit Vance‘ Weltsicht, wird klar: Mit ihm als US-Präsidenten kann alles schlimmer werden.
Von Markus Linden
24. April 2025, 20:01 Uhr
JD Vance Weltsicht entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als krude Diktaturlehre. © [M] ZEIT ONLINE (verw. Foto: Francis Chung/epa)
Man sollte ihn nicht unterschätzen
Wolodymyr Selenskyjs vorläufig letzter Besuch in Washingtonist mittlerweile ins kollektive politische Gedächtnis eingegangen – auch wegen eines breitbeinigen Nebendarstellers, der den Talk erst so richtig scharfmachte: JD Vance. Wer sich isoliert ansah, wie der amerikanische Präsident und sein Vize den Repräsentanten eines angegriffenen und bis dato verbündeten Staats im Oval Office demütigen wollten, kommt wohl kaum auf die Idee, Trumps Stellvertreter für einen Intellektuellen zu halten. Im Stile eines drittklassigen Gangsters aus der zweiten Reihe forderte Vance Respekt für den allmächtigen Paten ein. Andere aktuelle Aktionen passen ins Bild. Seinen kürzlich vorgenommenen Besuch in Grönlandbegründete Vance in bester Putinscher Drohmanier damit, sich um die Sicherheit der Menschen dort kümmern zu wollen. Zur Meinungsfreiheit im demokratischen Europa vertrat er auf der Münchner SicherheitskonferenzPositionen, die auf jeder rechtsextremen Parteiveranstaltung mehrheitsfähig sind.
Markus Linden
ist außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft an der Universität Trier. Er forscht zu den Themen Theorie und Empirie der Demokratie, neue Rechte und Rechtspopulismus sowie digitale Alternativmedien und Verschwörungstheorien.
Derselbe JD Vance war einst gefeierter Memoirenautor, Trump-Kritikerund wurde selbst nach seiner Nominierung noch als rationaler Hoffnungsfaktor in der Trump-Regierung angesehen, beispielsweise vom rechtsliberalen Ideenhistoriker Mark Lilla in der ZEIT. Dabei wird übersehen, dass der Jungstar zu einer Figur mit festem politiktheoretischem Background „gereift“ ist. Schon 2021 rief er auf der „National Conservatism Conference“ dazu auf, die liberalen Universitäten „aggressiv“ zu „attackieren“. Im Gegensatz zur Hoffnung Lillas wird der Vizepräsident das „Niveau“ der Republikanerbestimmt nicht steigern. Die angebliche Intellektualität des JD Vance mündet nämlich bei näherer Betrachtung in einer kruden Diktaturlehre, die sich deckungsgleich zu seinen imperialen Machoposen im Oval Office oder gegenüber Grönland verhält. Deshalb erinnert das vergleichsweise offene Interesse an ihm und seinen geistigen Bezugspunkten erschreckend an die oft unreflektierte Auseinandersetzung, mit der vor nicht allzu langer Zeit der russische Rechtsextremist Alexander Dugin im liberalen Westen umhergereicht wurde.
Heute predigt Dugindie Vernichtung der Ukrainerinnen und Ukrainer, so wie sein zentraler Lehrmeister Carl Schmitt die „Ausscheidung und Vernichtung des Heterogenen“ beschwor. Um JD Vance zu verstehen, sollte man also die Charakteristika und Gemeinsamkeiten seiner verschiedenen Einflussquellen beachten. Eine klassische, etwas aus der Mode gekommene Herangehensweise der politischen Ideengeschichte.
Schon in seinem 2016 erschienenen Bestseller Hillbilly Elegy, in dem er über die eigene, leidgeprägte Vergangenheit schreibt, taucht eine Juradozentin von Vance als Ratgeberin auf: Amy Chua, die vor allem durch ihr 2011 publiziertes Buch Battle Hymn of the Tiger Motherüber strenge Erziehungsmethoden bekannt wurde und ansonsten Sachbücher mit eher geringem Bezug zur eigentlichen Lehrmaterie Recht schrieb. Chua motivierte Vance zur Abfassung von Hillbilly Elegy. In einem Gespräch über ihr Buch Political Tribesim Jahr 2018geben sich beide vertraut und anekdotenfreudig. Chua war an der Yale Law School die zentrale Mentorin von Vance und spricht gerne über den einen, besonderen Studenten ohne Geld, der mit seiner späteren Frau in ihrem Kurs saß.
Die Tiger-Mutter
Entgegen der verbreiteten Rezeption ihrer Arbeiten ist Chua eine vergleichsweise differenzierte, die klare Positionierung eher meidende Autorin. Zwar fällt sie oft eindeutige, gut verkäufliche und leidlich skandalisierbare Urteile, die eigene normative Stellung dazu verschwindet jedoch hinter einem pragmatischen Hin-und-Her sowie einer Anpassung an von ihr identifizierte, vermeintliche Naturgesetze des Politischen. Eben hierin besteht aber das Programm: eine opportunistisch-individualistische Erfolgslehre als geistig-leistungsorientierten Nonkonformismus zu verkaufen.
Chua ist eine Meisterin instrumentell gewendeter Kritik: Sie kritisiert marktdominierende Minderheiten, also politische Eliten in verschiedenen Ländern, und auch den jeweils entgegenstehenden demokratischen Populismus der Bevölkerungsmehrheit. Beides wird dann aber doch zusammengebracht. Die Elite solle sich, so schreibt sie in ihrem Buch Die Welt in Flammen, durch gezielte Alimentierung der demokratischen Massen eine stetige Unterstützung sichern – so wie sich der russische Oligarch Roman Abramowitsch „seine Beliebtheit“ als Gouverneur eines „gottverlassenen, verarmten Gebiets (…) erkauft“ habe.
Erfolg sei zwar gruppendeterminiert, stünde aber letztlich jedem Individuum offen. Zumindest wenn man jene drei Zauberfaktoren erkannt habe, die Chua und ihr Ehemann Jed Rubenfeld in ihrem gemeinsamen Buch Alle Menschen sind gleich – erfolgreiche nicht formulieren: Überlegenheitskomplex, Unsicherheit, Impulskontrolle. Die Überlegenheit resultiere dabei oft aus der Erfahrung vergangener Geringschätzung, also dem Bewusstsein für Unsicherheit. Das politische Stammesdenken wiederum sei zwar natürlich, aber gefährlich, und die Minderheiteneliten der Küstenregionen seien ebenso ein Problem wie linke und rechte Identitätspolitik. Deshalb, so schreibt Chua in Political Tribes, müsse der aus Bedrohungsängsten erwachsene „reine politische Tribalismus“ verschiedener Subgruppen durch eine Art nationalen Supertribalismus überwunden werden. Amerika müsse sich als „Super-Group“ begreifen.
Jeder und jede soll sich irgendwie wiederfinden können in Chuas pseudoprovokativen Ausführungen. Und genau das hat Vance von ihr gelernt. Er knüpft nützliche Verbindungen – etwa zu libertären Techmilliardären, die ihn bezahlen und seine Wahlkämpfe unterstützen, oder zu Querfrontantiliberalen, die in ihm den Hoffnungsträger der Arbeiterklasse sehen möchten. Chua zeigt, wie völlig konträre Agenden zusammengebracht werden können, um den persönlichen Erfolg zu sichern. Wer ihre verschiedenen Veröffentlichungen und Interviews verfolgt, erkennt, dass es der Yale-Juristinnen-Aristokratie primär um Kooptation durch persönliches Mentoring und die Vermittlung von Stellen bei einflussreichen Richterinnen und Richtern geht. Zentral sind das Knüpfen und Pflegen von Steigbügelnetzwerken sowie das Vermitteln eines elitären Zugehörigkeitsgefühls. Um das Ganze emanzipatorisch zu verkaufen, rekurriert Chua gerne auf ihre Außenseiterrolle als „die einzige asiatisch-amerikanische Frau im Raum“, die zwar tatsächlich vor weißen Männern hingefallen sei, aber immer wieder aufstand.
Vance hat diese Leistungsaufsteigerattitüde und geschmeidige Ankoppelbarkeit früh erlernt. Zu allem hat er eine Story parat, er wirkt immer entschlossen und er stellt die eigene Person je nach Situation vielschichtig dar: überlegen, bisweilen auch unsicher in der Vergangenheit und kontrolliert. Genauso haben es Chua und ihr Mann vorgeschlagen. In seiner mit damals 32 Jahren publizierten Memoirenschrift Hillbilly Elegyschreibt Vance über einen Rat Chuas: „Es war, als hätte ich neu sehen gelernt.“ Wäre der pausbäckige Konformist nicht zum faschistoiden Anführer geworden, könnte man an sympathische Hochstaplerdarstellungen von Leonardo DiCaprio in Catch me, if you can oder Horst Buchholz in Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull denken.
Gedanklich schon im Untergrund
In puncto Spleenigkeit nimmt es der zweite wichtige Einflussfaktor von JD Vance mit dem späten Horst Buchholz auf. Das will was heißen. Die Rede ist vom christlich-fundamentalistischen US-Autor Rod Dreher, der seit 2021 in Ungarn für das dortige Regime ein sogenanntes Netzwerkprojekt leitet. Auch deutsche Medienschaffende sind Ziel dieser Vernetzung, was sich etwa im Januar 2023 bei einem Tischgespräch mit Orbán manifestierte, an dem auch Dreher und andere wichtige Personen der US-Szene teilnahmen. Dreher warnt vor dem Anbruch des „Zeitalters des Antichristen“, den er beispielsweise hinter der LGBTQ-Bewegung vermutet. Orbán, sein Arbeitgeber, wird regelmäßig gepriesen. Bei Trump hingegen warnt er bisweilen vor „Götzenverehrung“.
Während die Astro-Show, ein ARD-Unterhaltungsprogramm mit dem Moderator Buchholz zum Thema Übersinnliches, aus guten Gründen floppte, wurde das 2020 erschienene Dreher-Buch Live not by Lies gerade als Serie verfilmt. Zur Premiere sprach dessen Freund JD Vance, den Dreher, wie dieser 2024 im Welt-Interview ausführte, für den Vorreiter eines populistischen, antiwoken, friedens- und arbeiterklassenorientierten „neuen Konservatismus“ hält. Dreher begreift sich und Vance als Widerständler, analog zu den Protagonisten seines Buches, in dem die Untergrundtätigkeit christlicher Akteure im Kommunismus mit der Revolte der äußeren Rechten und antiliberaler Akteure von heute gleichgesetzt wird. Bei Lichte betrachtet ist dies auch die Kernthese extremer Coronaproteste, die sich gegen eine vermeintlich totalitäre Staatsmacht richteten, und sonstiger Querfrontwiderständigkeit. Immer sieht man sich dem Totalitarismus gegenüber, wenn die eigene Auffassung auf demokratische Kritik oder rationale Argumente stößt.
Dreher trug 2016 mit einem vielbeachteten Vance-Interview zum Bucherfolg von Hillbilly Elegiebei und begleitete Vance, obwohl selber christlich-orthodox, auf seinem Weg zum katholischen Glauben. How I joined the Resistancelautet diesbezüglich ein langer, schwülstiger Aufsatz des heutigen Vizepräsidenten aus dem Jahr 2020. Darin wird der Katholizismus als Gegenpol zum Säkularismus der ausschweifend herrschenden „Elite“ dargestellt. Genau dieses Motiv wird auch in Vance‘ Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz deutlich, die stark Drehers üblicher Rhetorik ähnelt.
Vance erinnert an die „tyrannischen Kräfte“ in Europa während des Kalten Krieges, an jene „Seite in diesem Kampf, die Dissidenten zensierte, Kirchen schloss und Wahlen annullierte“. Ganz im Sinne Drehers macht Vance keinen Hehl daraus, dass damit die liberalen Demokratien und deren Entscheidungsträger von heute gemeint sind. Dreher wiederum vergleicht das München von Chamberlain mit dem München von Vance und fordert die Europäer auf, „tapfer“ dem zweiten Weg zu folgen. Im selben Aufsatz spricht Dreher italienischen Gerichten die Legitimität ab, da sie gegen Meloni seien. Als Gegner der Gewaltenteilung sollte man sich strikt antitotalitär geben, das hat Vance von Dreher gelernt.
Aristopopulismus
Auch ein dritter Protagonist spart nicht mit frenetischem Lob des heutigen Vizepräsidenten der USA. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Patrick J. Deneen gilt allgemein als intellektuell wichtigste Figur hinter Vance. Deneen gehört zum Feld der sich selbst so nennenden Postliberalen, die wie Dreher über gute Beziehungen nach Ungarn verfügen oder gar für Orbáns System arbeiten. Zusammen mit dem theokratischen Carl-Schmitt-Dezisionisten Adrian Vermeule ist Deneen der wichtigste Denker eines Neuen Konservatismus, der eigentlich eine äußere Rechte ist.
Trotzdem nahm Deneen hier lange Zeit eine gewisse Sonderstellung ein und wurde als vergleichsweise satisfaktionsfähiger Liberalismuskritiker präsentiert, im letzten September etwa in einem langen ZDF-Gespräch mit dem Moderator Richard-David Precht. Deneens 2018 im Original erschienenes Buch Warum der Liberalismus gescheitert ist kritisierte den Neoliberalismus ebenso wie den neuen „progressiven“ Liberalismus der Individual- und Gruppenrechte. Außerdem polemisiert er darin gegen die liberale Elite, die er als „neue Aristokratie“ oder „Liberalokratie“ bezeichnet. Seine herrschaftskritische Attitüde machte den Autor auch für linke Liberalismuskritiker attraktiv. Schwergewichte der rechten Szene, namentlich Vermeule und der Pole Ryszard Legutko, kritisierten wiederum, dass Deneen weiterhin an liberalen Errungenschaften festhalte. Er war ihnen nicht radikal genug.
Mit Deneens neuestem, 2023 erschienenen Buch Regime Change hat sich das nun endgültig geändert. Schon 2019 traf er sich mit Orbán. Heute postuliert er keine antiaristokratische Position mehr, sondern einen theokratisch-imprägnierten, wie er es nennt, „Aristopopulismus“. Deneen vertritt eine identitäre Kombination aus populistischer Volksherrschaft und elitärer Hierarchie, die keine Gewaltenteilung kennt. Er schreibt: „Das Ziel sollte nicht darin bestehen, ein ‚Gleichgewicht‘ oder eine Form von ‚demokratischem Pluralismus‘ zu erreichen“. Es gehe gerade nicht um ein „erfolgreiches Regime“ aus „checks and balances„. Ziel sei vielmehr „die Erschaffung einer neuen Elite, die sich an den Werten und Bedürfnissen der einfachen arbeitenden Menschen orientiert“. Es müsse „etwas Revolutionäres stattfinden“, schreibt Deneen in einem Zwischenfazit von Regime Change.
Angesagt seinen „Stabilität, Ordnung und Kontinuität“, die „Erneuerung der Kultur“ und „eine Erhebung des Volkes durch eine bessere Aristokratie“. Wer die Aktivitäten des Autors verfolgt, erkennt: Vance soll als zentraler Akteur der „besseren Aristokratie“ dienen. Die Postliberalen gerieren sich als Intellektuelle und Widerständler, sind aber führungstreue Claquere von Orbán und Vance. Benedikt Kaiser, der mittlerweile wichtigste Autor der deutschen Neuen Rechten, setzt folglich große Hoffnungen in das Duo Vance-Deneen. Er verortet hier einen kommunitaristisch-nationalistischen Gegenpol zum DOGE-Libertarismus Elon Musks.
Der kommende Mann der Republikaner
Deneen selbst argumentiert ganz offen. In einem kürzlich auf der Plattform UnHerd erschienenen Beitrag bezeichnet er Vance als den perfekten Kandidaten für die Präsidentschaftswahl 2028, da er mit seiner Herkunft und mit seiner Fortschrittsaffinität das libertäre DOGE und das populistische MAGA dauerhaft miteinander verbinden könne – gegen „den gemeinsamen Feind (…), den geschwächten Leviathan des woke-progressiven Autoritarismus“. Mit seiner Schmeichelei liegt der Pseudokapitalismuskritiker Deneen analytisch richtig, denn Vance ist sicherlich der kommende Mann der Republikaner.
Betrachtet man die skizzierten Einflussfaktoren, sind Ideologie und Methode des JD Vance leicht entschlüsselbar: Er vereinigt möglichst viele Ansatzpunkte – vom Arbeiterkommunitarismus, über die Religion bis hin zur Techaffinität –, um möglichst viele Gruppen anzusprechen. Dabei verkauft er seinen antidemokratischen Elitismus als antitotalitäre Widerständigkeit und folgt den opportunistischen Erfolgsratschlägen seiner frühen Lehrerin Amy Chua. Imperiale Programmatik und Intellektuellenattitüde gehen Hand in Hand. Vance ist die personifizierte, so ein Ausdruck Benedikt Kaisers, „Mosaik-Rechte“ mit Querfrontankopplung. Er stellt den gemeinen Chauvinisten ebenso zufrieden wie die möchtegernschlauen Apologeten der platonischen Philosophenherrschaft.
Trump gewann mit Show und Glück, Vance wird schwerer zu schlagen sein. Erst recht, wenn man ihn fälschlicherweise als den Vom-Weg-Abgekommenen mit intellektueller Zugänglichkeit begreift. Nein, es geht um unbedingten individuellen Erfolg mittels diktatorisch-elitärer Ideologie. Das mit dem Imperialismus ist ernst gemeint. Grönland oder Panama jedenfalls dürfen sich schon auf die Methode Abramowitsch freuen. Ein eigenständiger atomarer Schutzschirm für das freie Europa dürfte deshalb wohl unausweichlich werden.