Lübecker Kulturpolitik: Vom Wirrwarr der Werte zur Abschaffung der Moral

Wirrwarr der Werte

Prof.Dr. Christian Klawitter schreibt in den Lübeckischen Blättern (2022/19, S. 336) über Werte. Dabei gerät bei ihm einiges durcheinander. Wie er meint, gibt es keine objektiv geltenden und allgemein-verbindlichen Werte.  Es gibt nur kulturabhängige Werte, z.B. westliche, europäische, jüdisch-christliche. Ein Wertesystem gilt jeweils nur innerhalb einer Gruppe, innerhalb eines kleineren oder größeren Kulturkreises: Deutschlands, der EU, der NATO z.B. Wer sich auf universale Werte beruft, verlangt Dominanz: Unterwerfung. Beispiele seien die „Letzte Generation“, „Cancel Culture“. Carl Schmitt habe deshalb zu Recht vor der „Tyrannei der Werte“ gewarnt. 

Dieser Gedankengang ist Mumpitz. Weder gibt es, um ein Beispiel herauszugreifen, christlich-jüdische Werte, noch existiert eine „Tyrannei der Werte“. Die Geschichte des Christentums ist voll von Antisemitismus. Das betrifft alle christlichen Konfessionen in der Vergangenheit. Eine eindeutige christlich-jüdische Geschichte existiert nicht. 

Mit der „Tyrannei der Werte“ wiederum beruft sich Klawitter auf eine von Carl Schmitt 1959 verfasste Kampfschrift gegen die Idee objektiv existierender moralischer Werte. Sie greift zurück auf Martin Heidegger, den Carl Schmitt im „Ausschuss für Rechtsphilosophie“ kennengelernt hatte, der unter Leitung von Hans Frank, einem hohen Juristen der Nationalsozialisten, seit 1934 im Weimarer Nietzsche-Archiv tagte. 

Der glühende Antisemit Schmitt stellte sich auf den Standpunkt des auch von Klawitter vertretenen  Werterelativismus, um den Holocaust als Folge der Philosophie jüdischer Philosophen darstellen zu können: der universalistischen Wertephilosophie, dem Neukantianismus. Mit einer derartig offen antisemitischen Rabulistik wurde den Juden die Schuld an ihrer eigenen Vernichtung in die Schuhe geschoben. Wie Carl Schmitt verwandelte auch Martin Heidegger das moralisch Gute in eine Form des Terrors.

Klawitter begrüßt allen Ernstes, dass die Lübecker Ausstellungsreihe „Alchemie der Stadt“ den Werte-Universalismus ablehnt und sich „weg von den hehren Setzungen … auf die Suche nach individuellen Wertvorstellungen  (macht) …Dabei werden persönliche Erlebnisse zu Gradmessern von Werterfahrungen … Diese Rückkopplungen individueller Werterfahrungen mit eher abstrakt postulierten Werten begünstigt das Anliegen, die Geltung von Werten zu untermauern und zu rechtfertigen.“ 

Mit dieser Einordnung befindet sich der Vorsitzende der Overbeck-Gesellschaft auf dem Holzweg. Sein Irrtum bezieht sich dabei nicht auf die Zielsetzung der Ausstellungsmacher:innen. Es ist durchaus zutreffend, dass deren Konzeption ein Produkt des Werterelativismus ist. Der Werterelativismus  begründet den heutigen postmodernen und postfaktischen Zeitgeist der Lübecker Kulturszene. Ein Grund, weshalb das Berliner „Museum für Werte“ nach Lübeck geholt worden ist. Werte werden dort als kultur- und zeitabhängige Artefakte behandelt. Eben museal.

Dieser Zeitgeist wird in Lübecks Kulturtempeln zunehmend gepredigt. Die Postmoderne und das Postfaktische ist indes eine verhängnisvolle Irrlehre. Denn – anders als Herr Klawitter uns das glauben machen will – gibt es moralische Tatsachen und moralische Wahrheit. Moral und Werte sind keine gesellschaftlichen Kompromisse und kulturabhängigen Konstrukte. Sie gelten kulturübergreifend und immer schon.

D.h. nicht, dass es keine neuen und schwierigen Fragen gibt. Es geht in Fragen der Moral nämlich nicht darum, andere zu der eigenen, von Vorurteilen und Interessen gesteuerten Wahrnehmung der sozialen Situation zu überreden, sondern darum, darüber nachzudenken, uns selbst und andere vom richtigen Handeln zu überzeugen.

Herr Klawitter geht indes noch einen Schritt weiter: Er schafft die Moral kurzer Hand ab. Die Entscheidung über Gut und Böse, über Richtig und Falsch, delegiert er an die Gerichte: diese sollen – je nach Zuständigkeit und Kulturkreis – über das Verhalten entscheiden.: 

„Wo etwas anfängt und wo etwas endet, darf sich … nicht nach einer behaupteten „Werteordnung“ richten, die durch kein geregeltes Verfahren legitimiert ist, sondern allein nach Maßgabe der verbindlich geltenden Rechtsordnung. Welche Rechte dem Einzelnen zustehen und welche Grenzen diesem Recht ggf. gezogen sind, bestimmt sich nach unserer Verfassung, dem Grundgesetz, und den diesbezüglichen einfachgesetzlichen Bestimmungen, die ihrerseits grundrechtskonform sein müssen.

Werte sind dagegen Setzungen, die im günstigsten Fall das Resultat eines offenen gesellschaftlichen Diskurses sind, im schlimmsten Fall diktatorisch verordnet werden. Außerdem unterliegen Werte stetem Wandel bis zur Beliebigkeit. Wer sich auf Werte verlässt, kann deshalb schnell verlassen sein.“ Oh wunderbar. Da haben wir sie ja in Deutschland, „die beste aller möglichen Welten“, um es mit Voltaire zu sagen.

Bleibt zum Schluss nur noch die Frage, wer schützt uns vor den Fehlurteilen der Richter:innen? Moral und Recht hängen zwar zusammen, sind aber weit davon entfernt, deckungsgleich zu sein. Ein Blick zur  westlichen Führungsmacht, der USA, mit der tyrannisch gewordenen Mehrheit der Richter:innen im Supreme Court und deren mehrheitlich christlich-orthodoxen Wertesystem belehrt uns eines Besseren. 

Bekanntlich entscheidet auch über Verfassungsfragen nicht ein Algorithmus, sondern ein Mensch.

Michael Bouteiller, Lübeck, 29.11.2022

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