Geld oder Leben Teil 2: Leben

Im ersten Teil von „Geld oder Leben“ wurde verdeutlicht, dass das BVerfG wohl die Arrestierung der Risikogruppen oder ähnliche Grundrechtseingriffe decken würde, wenn denn und soweit bei bei einer andauernder Corona-Krise eine schwere ökonomische Notlage dargelegt werden könnte. Im 2.Teil von „Geld oder Leben“ soll der Frage nachgegangen werden, ob eine von der h.M. der Juristen angenommene sog. ökonomische Notlage denn überhaupt bestehen kann. Wenn sich eine Alternative zur gegenwärtig sich verdichtenden Notlage der Realwirtschaft abzeichnete, wären Eingriffe in Leben und Gesundheit natürlich aus Gründen der Finanzwirtschaft nicht mehr zu rechtfertigen. Anders ausgedrückt: Wenn von Staats wegen die Arbeitslosigkeit usw. über einen längeren Zeitraum finanziert werden und dadurch ein Umsteuern der Realwirtschaft eröffnet würde, entfielen die ökonomisch begründeten Rechtfertigungsgründe.

Ein solche Alternative bietet u.a. Stephan Schulmeister, wenn er Folgendes ausführt:

„Worauf es aber noch viel mehr ankommen wird, ist, ob die Regierungen den explosiven Anstieg der Arbeitslosigkeit in bestimmten Bereichen radikal abstoppen… Österreich hat eben ein Kurzarbeitsgeld eingeführt von bis zu 100 Prozent, also selbst dann, wenn der Laden für einige Zeit völlig schließt. Natürlich reagieren die Leute, wenn sie nicht gekündigt werden, sondern weiterbeschäftigt sind, ganz anders. Das wird natürlich sehr viel kosten, aber Budgetdefizite von fünf bis zehn Prozent des BIPs sind meiner Ansicht nach absolut unvermeidlich.

Wie lange kann sich eine Regierung das leisten?

Das ist vollkommen egal. Na ja, aber wenn Sie sagen, zehn Prozent Defizit, wie lange kann ein Land wie Italien das durchhalten? Wir können auch 15 Prozent Defizit machen, das ist wurscht! Die Zinsen bleiben, wenn jetzt nicht die Finanzschmelze kommt, noch mindestens 20 Jahre bei null. Das geht ja gar nicht anders. Man kann es auch so interpretieren: Jetzt tritt der Unrat, der sich über 35 Jahre in diesem dysfunktionalen Finanzkapitalismus aufgestaut hat, zutage.

Werden wir jetzt auch eine Staatsschuldenkrise erleben?

Nein. Eine Staatsschuldenkrise gibt es immer nur dann, wenn Staaten versuchen, notwendige Schulden zu vermeiden. Aber stellen Sie sich vor, alle Länder in Europa machen Budgetdefizite von 5 Prozent, 15 Jahre lang. Der Schuldenberg erreicht dann irgendwann 200 Prozent des BIP. Sagen wir, wir nehmen all diese Schulden bei einem „Europäischen Transformationsfonds“ auf, der sich bei der EZB refinanziert. Damit schaffen wir vernünftige Dinge: Ein riesiger Green New Deal, Hochgeschwindigkeitszüge statt Flugverkehr, der gesamte Wohnbaubestand in der EU wird energetisch saniert und so weiter. Nach 15 oder 30 Jahren haben wir eine wirklich ökologisch sanierte Ökonomie, aber riesige Schulden. Dann erlässt der Fonds den Staaten die Schulden und wird aufgelöst, die EZB hat ein negatives Eigenkapital von paar Billionen, und das wird durch eine „Neustartbilanz“ entsorgt.

Wird die politische Ökonomie nach der Krise eine andere sein?

Mein Post-Krisen-Szenario geht davon aus, dass die Finanzmärkte entmachtet werden. Das wäre ein Leichtes, wenn die Politik nur will. Zum Beispiel kann man einen europäischen Währungsfonds gründen, der den Marktakteuren die Möglichkeit nimmt, auf den Staatsbankrott von Euroländern zu spekulieren. Technisch-ökonomisch wäre das überhaupt kein Problem. Wir sehen ganz außergewöhnlichen Zeiten entgegengehen, daher muss man sich ganz außergewöhnliche Gedanken erlauben.“

Treffen diese Ausführungen zu, bietet die ökonomische Lage für sich genommen für Eingriffe in Grundrechte keine Handhabe. Es wird also in erster Linie darum gehen, den Irrglauben zu widerlegen, die staatliche Finanzpolitik habe den Regeln der Haushaltsführung einer „Schwäbischen Hausfrau“ zu folgen. Davon leitet die ökonomische Zunft und die konservative Politik die Auffassung her, staatliche Haushaltsdefizite belasteten die künftigen Generationen. Dieser ideologische Unsinn, der 1982 mit dem außerordentlich folgenreichen Lambsdorff-Papier begründet worden ist (vgl.
https://www.google.com/url?sa=t&source=web&cd=1&ved=2ahUKEwiX9PPfic7oAhVPyqQKHbrXDg8QFjAAegQIARAB&url=https%3A%2F%2Fde.wikipedia.org%2Fwiki%2FKonzept_f%25C3%25BCr_eine_Politik_zur_%25C3%259Cberwindung_der_Wachstumsschw%25C3%25A4che_und_zur_Bek%25C3%25A4mpfung_der_Arbeitslosigkeit&usg=AOvVaw3CkUR57Vsj1TMp_T5ws-k4) und das damit verbundene Konzept des Neoliberalismus verarmte 40 Jahre lang die gesamte öffentliche Infrastruktur der Bundesrepublik.

Demgegenüber lesen sich die finanz- und geldpolitischen Überlegungen von Stephan Schulmeister und Peter Bofinger (Was immer es braucht, IPG, 2.4.2020, https://www.ipg-journal.de/regionen/global/artikel/detail/was-immer-es-braucht-4219/?utm_campaign=de_40_20200403&utm_medium=email&utm_source=newsletter ) wie der befreiende Paradigmenwechsel vom ptolemäischen zum kopernikanischen Weltbild.
Jedenfalls muss eine Argumentation, die sich zur Einschränkung der Grundrechte (Leben,körperliche Unversehrtheit, Bewegungsfreiheit usw.) auf die Notlage der Realwirtschaft und einer angeblichen bestehenden oder drohenden staatlichen Finanzkrise beruft, nach diesem wohl begründeten anderen ökonomischen Modell scheitern. Das mag den Rittern des herkömmlichen Kapitalismus nicht schmecken, ist indes vielleicht eine aus der Not der Corona-Krise erwachsende Hoffnung für die kommende Generation.

Deshalb werden freiheitsbeschränkende Maßnahmen in den nächsten Wochen und Monaten ausschließlich mit gesundheitlichen Argumenten zu rechtfertigen sein. Und das ist auch gut so. Denn jeder – vielleicht von interessierten Kreisen erwünschte – Versuch, die Lebensverhältnisse aus Anlass der Corona-Krise staatlicherseits „wirtschaftskonform“ auszurichten, ist verfassungswidrig.