Von Christian Klawitter, Lübeckische Blätter 2022/19, S.336
Reden wir also über Werte. Werte im ethischen Sinn sind ein fester Bestandteil unseres Denkens und unseres Sprachgebrauchs. Zentrales Thema der Ethik ist die Frage nach „dem Guten“. Als wertvoll angesehen wird nur, was für gut befunden wird, was wünschenswert und erstrebenswert ist. Wer das Gute missachtet, stellt sich außerhalb der Wertegemeinschaft. Deshalb werden Werte beschworen und streben nach Einheit.
Werte gibt es viele: Es gibt westliche Werte, europäische Werte, jüdisch- christliche Werte und viele andere Werte mehr. Die wohl größte Wertegemeinschaft ist die Gemeinschaft aller Demokraten, jedenfalls hier bei uns. Länderübergreifend teilen wir gemeinsame Werte in der Europäischen Union und sogar die Nato versteht sich erklärtermaßen als Wertegemeinschaft. Je größer die Wertegemeinschaft desto hochrangiger sind deren Werte, die umso entschlossener verteidigt werden müssen, wann immer sie in Frage gestellt oder sogar angegriffen werden. Wer Werte setzt, macht Werte geltend, und die Geltendmachung verlangt nach Durchsetzung. Den Werten ist ihre handlungsleitende Funktion im- manent.
Carl Schmitt sprach deshalb von der „Tyrannei der Werte“, die wir heute als Straßenblockaden der „Letzten Generation“ oder als Cancel Culture identitärer Bewegungen erleben.
Werte sind also vielleicht doch nicht nur „gut“, wie uns ihre Verfechter Glauben machen wollen. Sie bergen vielmehr Gefahren in sich. Die größte Gefahr liegt in ihrem absoluten Geltungsanspruch. Werte definieren sich maßgebend aus der Negation – dem Unwert. Wer den Wert beansprucht und ihm Geltung verschafft, muss dessen Negation bekämpfen:
„Wen solche Lehren nicht erfreuen, verdient nicht, ein Mensch zu sein“, heißt es bei Sarastro in Mozarts „Zauberflöte“. Der „Gutmensch“ entscheidet darüber, wer Mensch sein darf oder zum Unmenschen degradiert werden kann, der jeden Respekt verwirkt hat und jeden Schutz gegen Angriffe verliert.
Verbrämt wird dieser Anspruch mit einer sich objektiv gebenden Wertsprache. Schon der Begriff „Werte“ führt in die Irre, weil es keine objektiv geltenden und allgemein-verbindlichen Werte gibt, sondern nur subjektiv begründete Wertvorstellungen. Allein schon die sprachliche Verkürzung führt zu einer gedanklichen Verselbstständigung der Werte, zur Abkoppelung vom wertenden Subjekt. So verbindet sich Wertsetzung mit einem Geltungsanspruch, dem zu widersprechen beinahe begriffsnotwendig ins Abseits führt, denn der „Wert“ ist per se gut, Widerspruch dagegen kann also nur ungut sein.
Wie relativ Werte dagegen sind, zeigt sich selbst an einem so evident „richtigen“ Wert wie der Toleranz. „Toleranz“, wusste schon Goethe zu sagen, „sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: dulden heißt beleidigen.“
Richtiger wird man sagen müssen, wer duldet, erhebt sich zum Souverän, zum Herrscher darüber, was geduldet wird und was nicht. Die Geschichte ist voll von opportunistischen Toleranzedikten, die, für den Skeptiker wenig überraschend, zumeist nur von kurzer Dauer waren und für die Geduldeten nicht selten böse endeten.
Allerdings führt das Ende der Toleranz nicht notwendig in den Unwert der Intoleranz. Freiheit vor Intoleranz und Unterdrückung ist ein großer Wert, aber schon Kant wusste, wo die Freiheit des Einzelnen endet, nämlich dort, wo die Freiheit des anderen anfängt. Wo etwas anfängt und wo etwas endet, darf sich indessen nicht nach einer behaupteten „Werteordnung“ richten, die durch kein geregeltes Verfahren legitimiert ist, sondern allein nach Maßgabe der verbindlich geltenden Rechtsordnung. Welche Rechte dem Einzelnen zustehen und welche Grenzen diesem Recht ggf. gezogen sind, bestimmt sich nach unserer Verfassung, dem Grundgesetz, und den diesbezüglichen einfachgesetzlichen Bestimmungen, die ihrerseits grundrechtskonform sein müssen. Werte sind dagegen Setzungen, die im günstigsten Fall das Resultat eines offenen gesellschaftlichen Diskurses sind, im schlimmsten Fall diktatorisch verordnet werden. Außerdem unterliegen Werte stetem Wandel bis zur Beliebigkeit. Wer sich auf Werte verlässt, kann deshalb schnell verlassen sein.
Die Ausstellungsreihe „Alchemie der Stadt“ trägt diesem Befund Rechnung, wenn auch nicht explizit. Sie führt weg von den hehren Setzungen beschworener Wertegemeinschaften und macht sich auf die Suche nach individuellen Wertvorstellungen, die in Stadtgesprächen, Workshops, Diskussions- und Er- fahrungsgruppen offengelegt werden. Dabei werden persönliche Erlebnisse zu Gradmessern von Werterfahrungen. Gemessen werden diese Erfahrungen beispielhaft an Werten wie Respekt, Selbstverwirklichung und Offenheit. Die individuelle Sicht auf diese Kategorien macht sich an Erlebnissen fest, an denen die Bedeutung der Werte für das jeweilige Individuum und damit auch für das Zusammenleben in einer Gemeinschaft offenbar werden.
Diese Rückkopplung individueller Werterfahrungen mit eher abstrakt postulierten Werten begünstigt das Anliegen, die Geltung von Werten zu untermauern und zu rechtfertigen und sie zum anerkannten Kompass ethischen Verhaltens zu machen. Dies gilt umso mehr in einer bevorzugt auf wirtschaftlichen Erfolg gerichteten Gesellschaft, in der Werte nicht selten zu Labels werden, mit denen bestimmte Forderungen wie Respekt oder Offenheit erhoben werden, die in Wahrheit interessengeleitet sind, was den betreffenden Wert zum Wirtschaftsgut verkommen und ihn als Richtschnur gemeinnützigen Handelns unbrauchbar werden lässt. Auf diese Weise werden Werte zu Manipulationstools und also wertlos. Das Lübecker Experiment „Alchemie der Stadt“ tritt dem entgegen.