Wer Kiew hat, kann Russland zwingen“ (Paul Rohrbach, 1916)

Wer Kiew hat kann Russland zwingen

Jörg Wollenberg

„Wer Kiew hat, kann Russland zwingen“ (Paul Rohrbach, 1916)

Ein anderer Blick auf den Angriffskrieg von Russland gegen die Ukraine mit Erinnerungen an Spuren von verdrängten Ereignissen der deutschen und russisch- ukrainischen Geschichte im 20. Jahrhundert, ergänzt um Hinweise auf die Nürnberger Nachfolgeprozesse gegen die Eliten des NS-Systems als Grundlage für die Verurteilung von Kriegsverbrechen.

(Auszug)

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Inhaltsverzeichnis

Erinnerungen an Spuren von verdrängten Ereignissen der deutschen und russisch-ukrainischen Geschichte im 20. Jahrhundert und den Nürnberger Nachfolgeprozessen gegen die Eliten des NS-Systems als Grundlage für die Verurteilung von Kriegsverbrechen

  1. Vom „Russischen Brotfrieden“ (4.2.1918) und dem Frieden von Brest-Litowsk (1.3. 1918) bis zu den Folgen des deutschen Überfalls auf die UdSSR am 22. Juni 1941 und des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine im Februar 2023

1. Eskalation mit Ansage nach verhängnisvollen Fehlern ab 1990 (George F. Kennan) Seite 2

2. Charkow 2015 – friedlich und bunt, aber auch kontrastreich. Seite 5

3. Die Ukraine als „Mitteleuropäisches Reich deutscher Nation“ (Riezler 1915). Zu den von Deutschland im 20. Jahrhundert entfesselten Kriege um die Ukraine. Seite 11

4. Deutsche Handelshäuser und Niederlassungen ab 1941/42 erneut auf Raubzügen in der Ukraine und auf der Krim. Seite 17

II. Die Nürnberger Nachfolgeprozesse gegen die Eliten des NS-Systems als ein politisches Lehrstück zur Verurteilung von Kriegsverbrechen auch heute.

1. Vom Goten-Mythos der NS-Führungsspitze auf der Krim zur Aufarbeitung der Kriegsverbrechen in der Ukraine im Rahmen der „Nürnberger Gespräche“ von 1985 -1992. Seite 27

2. Zur Aufarbeitung der Kriegsverbrecherprozesse im Nürnberger Bildungszentrum, Seite 29

3. Resümee zu den zitierten Untaten der verantwortlichen Generäle. Seite 31 

4. Zum Versuch, weiße Flecken in der Forschung im Rahmen der Geschichtswerkstatt des kommunalen Bildungszentrums der Stadt Nürnberg (BZ) aufzuarbeiten. Seite 35

5.Der Dolch des Mörders unter der Robe des Juristen“ -Zum Projekt einer Edition der zwölf Nürnberger Nachfolgeprozesse durch das Bildungszen- trum der Stadt Nürnberg in Zusammenarbeit mit Raul , Robert M.W. Kemper, Manfred Messerschmidt u.a.

6.Von der Fata Morgana einer besseren deutschen Republik: Resümee zum Nürnberger Veranstaltungskomplex von 1985-1992. Seite 45

III. Fortsetzung der Aufarbeitung von Kriegsverbrechen der IG Farben in Auschwitz und die Todesmärsche nach Ahrensbök in Holstein. (ab Seite 55) 

1.Auschwitz-Fürstengrube ein „Erholungslager“? Ein anderer Blick auf die NS-Täter mit dem Bundesverdienstkreuz unter Rückgriff auf den Nürnberger Nachfolgeprozess gegen die IG Farben von 1947/48., Seite 56

2.Der Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963 bis 1965 als Beginn einer neuen Aufklärung über NS-Verbrechen und die Gefahr der „Entsorgung“ der NS-Vergangenheit nach 1989/90, Seite 63

3.Oral History-Projekte zu NS-Verbrechen in Bremen und Ahrensbök, Seite 65

IV. „Die ganze Sache hat nur etwa drei Tage gedauert“: Zur Erschießung von 40.000 jüdischen Frauen und Kindern Anfang Dezember 1941 in Riga. – Ein anderer Blick auf die Verbrechen der Wehrmacht im Spiegel der Nürnberger Nachfolgeprozesse gegen das Oberkommando der Wehrmacht (OKW), die Süd-Ost-Generäle und die SS-Einsatztruppen 1947/48 mit Hilfe einer Szenischen Dokumentation und der Ausstellung „A Letter to Debbie`“ von Yardena Donig Youner (Seite 68-86)

Teil I.1. „Eskalation mit Ansage“ nach „verhängnisvollen Fehlern“ ab 1990 (George F. Kennan)

Die Spannungen mit völkerrechtswidrigen Kriegsfolgen in der Ukraine haben seit dem 24. Februar 2022 eine lange Vorgeschichte, die nicht erst mit dem Ende des Kalten Krieges und der Osterweiterung der NATO ab 1997 begannen. Der US-amerikanische Historiker und Diplomat George F. Kennan (1904–2005) hatte als ehemaliger Architekt des Marshall-Plans und der Eindämmungspolitik gegenüber der UdSSR schon am 5. Februar 1994 in „The New York Times“ davor gewarnt, die Zusagen des Westens von 1990 gegenüber Gorbatschow zurückzunehmen: 

„Die Nato-Erweiterung wäre der folgenschwerste Fehler der amerikanischen Politik seit dem Ende des Kalten Krieges. Denn es ist damit zu rechnen, dass diese Entscheidung nationalistische, antiwestliche und militaristische Tendenzen in der russischen Öffentlichkeit schürt, einen neu- en Kalten Krieg in den Ost-West-Beziehungen auslöst …“ Auch Gorbatschow warnte am 5. Oktober 1997 in einer Sendung von Radio Bremen noch einmal entschieden vor den Folgen einer Osterweiterung der NATO. Nachdem Frankreich und Deutschland die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa infrage gestellt hatten, reagierte Russland schon 2008 mit einer Militärintervention in Georgien und machte so deutlich, dass Putin zu allem bereit war, um eine weitere Ostausdehnung der NATO zu verhindern. 

Mit dem territorialen Integrationsprozess Georgiens verletzte Russland schon damals internationales Recht. Die anschließende Verweigerung eines Dialogs mit Putin durch die EU-Mitgliedsstaaten verstärkte das transatlantische Mitläufertum mit den USA. Europa wurde zum „Zaungast bei den russisch- amerikanischen Verhandlungen über die Sicherheit des Alten Kontinents -und das vor dem Hintergrund eines drohenden Krieges in der Ukraine“. [David Teurtrie, Ukraine-Krise: Eskalation mit Ansage“, in Le Monde diplomatique, Deutsche Ausgabe, Februar 2022, S. 1 und 6]. 

Als der in Fürth vor 99 Jahren geborene Friedensnobelpreisträger und ehemalige US-Außenminister und nationaler Sicherheitsberater Henry A. Kissinger Ende Mai 2022 in Davos den verantwortlichen Wirtschaftslenkern der Welt in den Schweizer Alpen zur Rettung des Frieden vorschlug, die Ukraine müsse den Donbas an Russland abtreten, um einen Friedensschluss möglich zu machen, um so eine demütigende Niederlage Russlands zu verhindern, die Europas Stabilität auf lange Zeit gefährden würde, empörte er sein Publikum, das ihm ansonsten in der Regel zu Füßen liegt. Die Presse nahm seine Rede in Davos kaum zur Kenntnis. 

Aber die Süddeutsche Zeitung berichtete am 27. Mai 2022 über diesen außergewöhnlichen Auftritt im Meinungsteil [Stefan Kornelius, Henry Kissinger. 99-Jähriger mit einer Lektion der Realpolitik, S. 4]. Und Jakob Augstein nahm Kissingers Auftritt in Davos zum Anlass, um nach 100 Tagen Krieg zu fragen: „Was ist der Sinn dieses Krieges, oder: wie lange und zu welchem Zweck soll er noch gekämpft werden?“ [der Freitag, 09.06.2022, S. 1]. 

Friedrich Küppersbusch beklagte gar zuspitzend in der Juni- Debatte vom „Freitag“ die „fast komplette Diskriminierung jeder Form von Pazifismus“ und entdeckt erste „Ergebnisse des bewaffneten Menschenrechts“ in der Berichterstattung der deutschen Medien, vorgetragen von den Spitzen der Grünen als neue Kriegspartei [der Freitag, Nr. 26, 30.06.2022, S. 18/19]. 

Für Alexander Kluge erscheinen seit dem 5. März 2022 „die deutsche, ja weitgehend die europäische Öffentlichkeit – und allen voran, die Medien benebelt vom Krieg“. Und der lange schweigende unabhängige Vordenker Wolfgang Fritz Haug rief in seinem friedensbewegten Beitrag im „Argument“ alle Kriegsgegner auf, „gegen den Bellizismus zu mobilisieren und die Politiker daran zu messen, ob und wie sie sich als solche an der politischen Brechung der Kettenreaktionslogik des Krieges bewähren“ [Das Argument 338/2022, S. 343–368].

Aus deutscher Sicht zwingen die Kriegsereignisse auch zur Überprüfung der Beschlüsse der Bundesregierung und des Bundestages vom 26. und 27. Februar 2022 – u.a. mit der von Kanzler Scholz als „Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents“ begründeten Ankündigung und Verabschiedung einer astronomischen Aufrüstung von 100 Milliarden Euro. Mit der Zustimmung zu Waffenlieferungen wurde der Grundpfeiler der deutschen Vermittlungspolitik abgeräumt. 

Über die Vorgeschichte der Katastrophe zu reden, die zum Krieg führte, wurde fortan tabuisiert. Und nicht nur der sozialdemokratische Kanzler Scholz sollte daran erinnert werden, dass seine Partei schon mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten von 1914 und den Nachrüstungsbeschlüssen unter ihrer Kanzlerschaft von 1928 (Hermann Müller-Franken) und 1979 (Helmut Schmidt) schwere Kontroversen, Spaltungen und Kanzlerstürze erlebte.

Mit diesen Hinweisen soll keineswegs Russlands Verantwortung für den Krieg in der Ukraine reduziert werden. Mit der UN-Vollversammlung vom 2. März 2022 ist der russische Einmarsch in die Ukraine zu verurteilen. Russland ist zum sofortigen Ende seiner kriegerischen Aggression, zum Waffen- stillstand und zu Friedensverhandlungen aufzufordern. 

Aber es ist auch an die besondere Verantwortung Deutschlands seit 1990 zu erinnern. Denn die Zustimmung zur Einbeziehung des geeinten Deutschlands in die NATO war mit der Zusage verbunden, die NATO nicht gegen den Osten auszuweiten. Mit der Erhöhung dieses Bündnisses von damals 16 Ländern auf aktuell über 30 NATO-Partner vollzog der Westen einen Bruch der Vereinbarung. Das führte zur Stärkung der antirussischen Politik in der Ukraine und seit 2014 zur Bildung einer westlich orientierten Regierung in Kiew. Die neu-alte Rechte gewann dort an Einfluss.

Der „Holodomor“, Stalins lange unbeachteter Massenmord an Millionen ukrainischer Bauern seit 1929 verdrängte den Holocaust von Hitler ab 1941 mit seinen Bündnispartnern in der Ukraine. [Vgl. Robert Conquest, Ernte des Todes. Stalins Holocaust in der Ukraine 1929–1933, München 1988]. 2006 wurde der Holodomor per Gesetzverordnung zum Genozid am ukrainischen Volk erklärt und 2008 mit der Einrichtung des Nationalen Museums in Kiew zur Hauptsäule der nationalen ukrainischen Gedenkkultur weiterentwickelt. [Joseph Croitrou: Ukrainisches Erinnern. Holocaust und Holodomor im nationalen Gedächtnis, in FAZ, 11. Mai 2022, Nr. 109, S. 39]. 

Für die Anhänger des Hunger-Genozids war in Anlehnung an Ernst Nolte der „Archipel Gulag ursprünglicher als Auschwitz“ [Ernst Nolte, Streitpunkte, 1994]. Die NS-Propaganda zur Rechtfertigung des Überfalls auf die Sowjetunion vom 22. Juni 1941 als Kreuzzug gegen den jüdischen Bolschewismus fand als aggressiver Antikommunismus im Kalten Krieg nach 1945 seine Fortwirkung. Auch nach der Entspannungs- und Ostpolitik der 1970er Jahre lebten die alten Feindbilder fort. 

Und der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine reaktivierte ab März 2022 die alten Feindbilder selbst innerhalb der Linkspartei. Der Eskalation des Krieges in der Ukraine wird nach wie vor weitgehend tatenlos zugesehen und der Ukraine gelingt es, die NATO immer stärker als Kriegspartner, wenn nicht gar als Kriegspartei zu gewinnen. Als Peter Gauweiler, Rechtsanwalt und Bundestagsabgeordneter der CSU, schon 2014 die westliche Ukraine-Politik als „gefährliche Kraftmeierei“ beschrieb und warnend fragte: „Wollen wir ein neues 1914?“ wurde er postwendend vom westlich orientierten Historiker Heinrich August Winkler in einem Spiegel-Essay als „Russland-Versteher“ denunziert [Spiegel von 16/2014]. Dem ehemaligen Bürgermeister von Hamburg, Claus von Dohnanyi, erging es mit anderen Kritikern ähnlich.

Die Ukraine in dem völkerrechtswidrigen Krieg zu unterstützen, darf nicht davon ablenken, dass eine politische Lösung des Konfliktes gerade angesichts der nuklearen Bedrohung diplomatische Initiativen zur Lösung des Krieges fordert. Und das auch, weil die aktuelle Furcht und Entrüstung vor den Exzessen der russischen Armee schon ab 1990 und verstärkt ab Februar 2022 die Erinnerung in der Ukraine und in Deutschland an die NS Vernichtungspolitik und die Judenverfolgung in der Ukraine gänzlich zu verdrängen droht. [Vgl. u.a. G. Rossolinski-Liebe, Erinnerungslücke Holocaust, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Band 62, Nr. 3, S. 397–430). 

An dem Massenmord von 1.600.000 Juden auf dem heutigen Staatsgebiet der Ukraine hatten sich ab Sommer 1941 bis zum Frühling 1944 aber auch prominente ukrainische Antisemiten als Mitglieder der Organisation ukrainischer Nationalisten (OUN) und der freiwilligen Waffen-SS-Division „Galizien“ beteiligt. Seit längerem werden ihnen Denkmäler in der Ukraine gewidmet, selbst am international herausragenden Denkmal der Judenverfolgung Baby Yar in Kiew mit mehr als 30.000 ermordeten Menschen. 

Einer ihrer antisemitischen Führer, Stepan Bandera, trägt seit 2015 den Ehrentitel „Held der Ukraine“ [vgl. Andreas Kappeler, Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer, 2022, S. 180]. Und im April 2015 beschloss das Kiewer Parlament, die Organisationen von OUN und UPA als Helden des nationalen Befreiungskampfes anzuerkennen. Schon im Mai 2014 kam es zur Abspaltung von zwei „Volksrepubliken“ in der Ostukraine und zum Mord an 42 Menschen, die im Gewerkschaftshaus von Odessa bei lebendigem Leib verbrannten. Das 2015 abgeschlossene Minsker Abkommen zwischen Frankreich, Deutschland, Russland und der Ukraine trug bislang nicht zur Lösung dringender Probleme bei…