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Allgemein/Politik/Geschichte Lübeck

Vom zweiten Versuch, das Holstentor im Geiste etwas anzuheben*

*Jonas Geist, Versuch, das Holstentor im Geiste etwas anzuheben, Zur Natur des Bürgertums, Berlin 1976

Die LN freuen sich, dass „endlich“ etwas los ist in Lübeck. OK! Skandal, Skandal. Die LN waren immer auch ein Aktionsblatt, das – wie die Bildzeitung – nicht von der neutralen Analyse des Stadtgeschehens, sondern von der Aktion lebte, die sie selbst lostritt.


Rückblick: Am 17.7. 2021 griff die Politikredakteurin der LN, Josephine von Zastrow, in den LN (S.10) das Thema Kommunalverfassungsreform auf und erzählte das Märchen von einer Reform der Kommunalverfassung, die die kommunale Demokratie auf den Kopf stelle.


Der Artikel stänkerte gegen eine allmächtige Verwaltung, die die Aufträge der Bürgerschaft missachte und damit der Demokratie schade. Das war kein Zufall und nicht dem 25jährigen Jubiläum der Kommunalverfassung vom 19.3.1997 geschuldet, sondern ein Angriff auf Bürgermeister Jan Lindenau.


Denn anders als dessen Vorgänger straffte der am 1.Mai 2018 angetretene Bürgermeister die Lübecker Verwaltung, machte sie handlungsfähiger und verstand sich – anders als seine damalige Kontrahentin und von den LN im Wahlkampf deutlich bevorzugte Senatorin Kathrin Weiher – schon in seinem knapp erfolgreichen Wahlkampf -auf Internet basierte Kommunikationsmittel. Er bediente die „sozialen Medien“, und wurde dadurch in gewissem Maß unabhängig von dem Lübecker Monopolblatt.


Ein Jahr nach diesem Artikel vom 17.7.2021, am 29. Oktober 2022, S.12, brachte die unermüdliche Kämpferin gegen die sinkende Auflage der LN dann erneut ihre Sturmgeschütze in Stellung. Sie degradierte in einem Artikel erst den Lübecker Bürgermeister zum Senator. Dann hob sie die Senator:innen zu Senator:innen nach altem Recht an.

Diese sollten endlich die von der Lokalredakteurin neu erdachte alte Rolle, als mit dem Bürgermeister gleichberechtigte Senator:innen im (abgeschafften) Senat wahrnehmen. Denn sie seien dem Bürgermeister nicht untergeordnet, sondern ihm gleichgestellt und alleine für ihr Dezernat zuständig. Der Bürgermeister sei – wie das bis 1997 geltendes Recht war – nur „primus inter pares“.

Diese falsche Darstellung des geltenden Kommunalrechts musste die LN zwar offiziell widerrufen. Die Politik-Redakteurin ließ aber nicht locker. Sie erkor nun Jörg Sellerbeck zu ihrem Zielobjekt, da dieser sich immer schon gegen die herrschende Baupolitik gewandt hatte und von dem man sich als zukünftigem Bausenator versprach, auch gegen den Bürgermeister die Puppen zum Tanzen zu bringen.

Der Zeitpunkt schien günstig. Die Bausenator:innen-Wahl stand an und der Lübecker und CDU-Mann war zu dieser Führungsrolle bereit. Allerdings lief die Wahlvorbereitung durch seine Partei derart dilettantisch, dass auch seine Promotoren der LN eingestehen mussten: „Lübecks Senatorenwahl – eine Farce“ (LN 17.12.2022, S.9). Und so kam es dann auch.

Entgegen des Zugriffsrechts der CDU, das die Voten der SPD für den CDU-Kandidaten vertraglich zusicherte, gewann die bisherige Bausenatorin, Joanna Hagen, am 26.1.2023 die Wahl. Damit war die sogenannte GroKo aus SPD und CDU zu Ende. Der Krug der beiden Parteien war zerbrochen.

Aus Sicht der LN beginnt jetzt ein Festmahl für die Demokratie. Denn wie titelte der ebenfalls für Politik zuständige Redakteur der LN, Kai Dordowsky, am 25.2.2023, S.9:

„,.. Die GroKo aus SPD und CDU, die Mehltau über die Kommunalpolitik gelegt hatte, ist zerbrochen. Endlich wird in der Bürgerschatt wieder leidenschaftlich über Inhalte gestritten, ohne dass der Ausgang der Debatte von vorneherein feststeht. Politiker und Burger wehren sich erfolgreich gegen eine Verwaltung, die sich zu lange ihrer Sache zu gewiss war, die die kritischen Hinweise zu lange ignoriert hat und die grandios unterschätzt hat, wie wichtig Bürgern ihre Stadt ist.“

Jubel, Jubel aller Orten? Mumpitz. Denn die angeblich neu erwachte Leidenschaft in der Bürgerschaft brachte Beschlüsse zum Bau des Literaturmuseums (BBH) und zum Heiligengeisthospital (HGH) zustande, die sich als reine Luftnummern erwiesen. Für die Koalition der Stadtzerstörer:innen stand von vorneherein fest, dass die Beschlüsse – nach Aussage der Verwaltung – nicht durchführbar sind. Das alles ist in den allseits bekannten Verwaltungsunterlagen nachzulesen. Was folgt daraus?

  1. Kommunale rechtsstaatliche Demokratie ist nicht das, was eine Monopolzeitung zur Hebung ihrer Auflage oder ihrer finanziellen und sonstigen (politischen)
    Eigeninteressen gut heißt.
  2. Kommunale Verwaltung ist gebunden an Beschlüsse des Stadtrates, der sie beauftragt und kontrolliert. Sie ist sich auch nicht – anders als das die LN schreiben – „zu lange ihrer Sache zu gewiss“ gewesen. Denn die Gewissheit des Handelns einer Stadtverwaltung beruht ausschließlich auf Bürgerschafts-beschlüssen und sonst auf nichts.
  3. Bürgerschaftsbeschlüsse beruhen wiederum auf der Mehrheit der Mitglieder des Rates. Ändert sich die parteipolitische Mehrheit – wie nach der Bausenatorinnen Wahl – von SPD/ CDU zu CDU/Grüne/Sonstige, so werden die alten Beschlüsse nicht obsolet oder falsch.
  4. Der Wechsel der Mehrheit von SPD/CDU zu Grüne/CDU/Sonstige hat allerdings seinen politischen Preis. Das hat nichts mit Basis-Demokratie zu tun – wie uns Herr Dordowsky weiß machen will. Denn die Bürger:innen der Stadt hatten vor dem Mehrheitswechsel keine Wahl. Sie wurden auch zu den beiden Projekten
    HGH und BBH nicht extra befragt.
  5. Mit dem Mehrheitswechsel ist auch kein Signal dafür verbunden, dass sich
    „Bürger“ erfolgreich gegen die Verwaltung durchsetzen. Denn „Bürger“ sind an der politischen Wende der CDU, wie gesagt, nicht beteiligt.
  6. Die „kritischen Hinweise“, der Grünen und ihrer Klientel kommen ebenfalls nicht von anonymen Bürgern. Sie waren vielmehr von Anfang an bekannt und sind in den Beschlussvorlagen abgearbeitet.

Was heißt das jetzt für Lübeck? Die mit Hilfe der hiesigen Monopolzeitung aufgebaute Scheinwelt folgt den Szenarien des Lügenwandlers, wie er in den USA unter Donald Trump erfunden worden ist. Mit dem demokratischen Rechtsstaat hat das alles nichts zu tun. Die Symptome der Lübecker Politik: der neue Lübecker Graben, deuten vielmehr als Ursache auf den Versuch, den Lügenwandler auch in der Lübecker Lokalpolitik einzuführen.

Lügenwandler


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Allgemein/Politik/Geschichte

Katastrophenvorsorge 1

Klima
https://michaelbouteiller.de/existenzrecht-des-menschen/

Letzte Warnung – Die Grenzen des Wachstums (Dennis Meadows, Club of Rome)

https://michaelbouteiller.de/paul-krugman-how-big-spending-got-its-groove-back/

Finanzierung der Carbonindustrie verhindern

2.Armuts-/Reichtumsverteilung

Reichtums-/Armutsverteilung in der Welt und BRD
Zitate Brandeis/Platon

3. Verteilung der Ressourcen: Lebensmittel, Bodenschätze, Industrie, Intelligenz

Um die anstehenden Fragen u.a. der weltweiten Neu-Verteilung der Ressourcen in der Klimaveränderung zu lösen, bedarf es eines Formats.

4. Militärisch-industrieller-Komplex

USA weltweite Militärpräsenz

USA Militärausgaben – Vergleich 2020

5. Die UN stärken als das einzige vorhandene Format der weltweiten Katastrophenvorsorge

Letzten Endes wird es – ohne Gegenwehr – zum Äußersten kommen. Ein Fall, den Norbert Elias 1985 vorwegnimmt:


„Ich habe schon gesagt, daß ich keinen Fall kenne, in dem die Konstellation der zwei oder drei stärksten Militärmächte an der Spitze einer Staatenpyramide, bei der jede der Spitzenmächte sich in ihrer Sicherheit von der anderen bedroht fühlte, nicht früher oder später zu schweren kriegerischen Auseinandersetzungen führte.

Es gehört zu den Einzigartigkeiten der gegenwärtigen Mächtekonstellation, daß ein Krieg zwischen den beiden Hegemonialstaaten bei dem gegenwärtigen Stande der Waffentechnik die weitgehende Zerstörung der beiden Hegemonialmächte und ihrer Verbündeten, möglicherweise auch eine zeitweilige oder dauernde Einschränkung der Bewohnbarkeit der Erde zur Folge hätte.


Manche Menschen sind der Ansicht, daß die Größe der Gefahr die führenden Politiker der beiden großen Militärstaaten schon von selbst zur Vernunft bringen werde. Aber ich glaube nicht, daß man sich den Ubergang von dem relativ unblutigen Positionskampf zum blutigen Kriege zwischen den beiden Staatengruppen einfach als Resultat dessen vorstellen kann, was man heute oft als »rationale Entscheidung« bezeichnet…


Im Anblick der halbzerstörten Erde, oder vielleicht auch erst in der Erinnerung an sie, wird es leichter sein, selbst die Regierungen sehr großer und volkreicher Staaten daran zu gewöhnen, Interessen- und Meinungsverschiedenheiten mit anderen Staaten, also vor allem auch zwischenstaatliche Meinungsverschiedenheiten über Sicher- heitsfragen, vor einen Gerichtshof der verbündeten Staaten der Erde zu bringen…

Man begegnet hier einem Musterbeispiel für eine immer von neuem beobachtbare Eigentümlichkeit der Menschheitsentwicklung. Die Entwicklung der Menschheit vollzieht sich weniger aufgrund von Lernprozessen, die auf Einsicht beruhen, auf vorwegnehmender Erkenntnis möglicher Folgen des gemeinsamen Handelns einer Menschengruppe;


sie vollzieht sich weit mehr aufgrund von Lernprozessen im Gefolge von Fehlentscheidungen und den bitteren Erfahrungen, die sie mit sich bringen. Es ist, wie schon erwähnt, nicht ganz unvernünftig anzunehmen, daß nach einem Kernwaffenkrieg die überlebende Menschheit, durch die bittere Erfahrung belehrt, eher geneigt sein wird, sich um die Schaffung von effektiven Institutionen zur gewaltlosen Beilegung zwischenstaatlicher Konflikte zu bemühen.


Man kann sich sehr gut vorstellen, daß nach einem Kernwaffenkrieg das Wissen, daß die Souveränität des einzelnen Staates dort ihre Grenzen hat, wo das Wohl und Wehe der Menschheit auf dem Spiele steht, nicht mehr als utopisch, sondern als höchst realistisch betrachtet werden wird.


Die Regierung eines Landes, die dann nach alter Gewohnheit den Krieg gegen ein anderes Land vorbereitet oder gar mit Waffengewalt, mit Mord und Totschlag in ein anderes Land einbricht, wird dann als eine Gruppe von Verbrechern gegen die Menschheit vor ein Weltgericht gestellt, sei es durch den Zwang weltweiter wirtschaftlicher Sanktionen oder durch den Druck der öffentlichen Meinung der Welt, sei es mit Hilfe eines gemeinsamen Expeditionskorps der verbündeten Staaten der Welt.“

(Elias, Norbert, Humana conditio, Beobachtungen zur Entwicklung der Menschheit am 40.Jahrestag des Kriegsendes, Frankfurt a.Main 1985, S.68 ff.)

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Klima, Krise, Krieg
Die neuen öko-imperialen Spannungen
Ulrich Brand und Markus Wissen

Blätter Juni 2004, S.107

„Es bleibt nicht mehr viel Zeit, um die sich zuspitzenden Katastrophen durch einen konsequenten Klimaschutz und durch eine wirksame Politik der Klimaanpassung in ihren negativen Auswirkungen auf Mensch und Natur zumindest zu begrenzen.

Deutschland etwa, darauf weist der Publizist Nick Reimer hin, wird voraussichtlich bereits Mitte des Jahrhunderts „mindestens zwei Grad wärmer sein als zu Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Sommertage mit mehr als 30 Grad werden dann völlig normal sein, die Spit-zentemperaturen 40 Grad überschreiten, die Zahl der tropischen Nachte wird sich verdoppeln.“

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Allgemein/Politik/Geschichte

Einigkeit – St.Petri Visionen

An Abend des 9.11.1989 war keinem von uns bewusst, dass das Ende der DDR bevorstand. Ein Ratsdiener unterbrach die SPD-Fraktionssitzung um mich herauszurufen. Der Journalist, der mich erwartete, sagte, die Grenze sei offen. Ob ich das wisse. Die ersten Trabbis würden in Schlutup erwartet.

Nein, ich wusste davon nichts. Wir hatten bei einem Empfang im Rathaus den 50ten Geburtstag mit Björn Engholm gefeiert und waren deshalb nur ganz ungern zur Fraktionssitzung in den Roten Saal herauf gekommen.

Ich fuhr mit anderen zusammen sofort an die Grenze nach Schlutup. Voll Erwartung. Dort war nichts. Absolut nichts. Es war geradezu unheimlich ruhig. Die Grenzschützer sagten, sie hätten etwas gehört, aber keine Verbindung zur anderen Seite.

Dann plötzlich kam ein Trabbi mit jungen Leuten aus Wismar oder Rostock. Sie lachten und waren ganz ausgelassen. Sie wollten nach Lübeck zum Markt. Einfach so, auf ein Bier, und dann wieder zurück.

Dann kamen die nächsten. Ich erinnere mich an eine Familie im Trabant. Der war bis oben bepackt. Sie wollten weiter. In den Westen übersiedeln. Sie hatten im Radio Günter Schabowski gehört, in Eile alles zusammen gepackt und waren aufgebrochen, aus Angst, die Grenzen könnten sich schnell wieder schließen. Die kleine Tochter weinte und fragte, was den morgen werde. Ihre Freundin komme doch immer, um sie zur Schule abzuholen. DieTränen standen uns in den Augen.

Ab dem nächsten Tag kamen Tausende. Die Trabbis stauten sich in der Travemünder Allee. Die ganze Stadt roch nach dem Zweitaktergemisch. Die Älteren unter Ihnen hier in Petri werden sich erinnern: Die Stadt war wie ausgewechselt. Wie im Ausnahmezustand.

Das Rathaus blieb über Nacht geöffnet. Wer nicht zurück konnte oder wollte, fand dort Wärme, Brötchen, Tee, Kaffee und Decken. Auf dem Markt in der Novemberkälte verabredeten sich wildfremde Menschen. In den Lübecker Stuben hörten sich Lübecker mecklenburgische Geschichten an und umgekehrt. Die Stadt summte, brummte und freute sich.

Die Erfüllung des Auftrages des Grundgesetzes rückte in greifbare Nähe. („Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.“) Nach wenigen außerordentlich intensiven Monaten zerstob indes die hohe Stimmung. Die Parteien machten wieder ihren Job as usual. Die Presse spiegelte wie immer das Resultat.

Das Kapital nahm Witterung auf nach Osten. Ich erinnere mich an den Hauptgeschäftsführer unserer IHK, der mir bei einem Essen der Wirtschafsjunioren 1990 frohgemut und leicht hämisch zurief: Na, Herr Bürgermeister, Marx ist tot! Was sagen Sie dazu?

Die Grenze ist weg. Die Infrastrukturen sind erneuert. Die Einheit im Rechtssinne ist hergestellt. Was ist mit der Einigkeit? Einigkeit ist für uns Deutsche ja ein schwieriger Begriff.

Am Deutschen Eck in Koblenz steht: „Nimmer wird das Reich zerstöret/ wenn ihr einig seid und treu.“ Einigkeitsappelle dieser Art „an das Volk“ ge-richtet, verbinde ich in Deutschland nach wie vor als verdeckte Botschaften nach draußen mit den Inhalten: Gegnerschaft, Feindschaft, Krieg – 1871, 1914,1939.

Dieses historisch berechtigte Bild eines barbarischen Deutschland, in dessen Namen, immer wieder Furcht und Schrecken aus der Mitte Europas heraus verbreitet worden sind, hat sich vor 20 Jahren sang – und klanglos erledigt.

Ganz ohne Gewalt haben die Ostdeutschen ihre Aggressoren vertrieben. Einigkeit war hier für einen kurzen Moment der deutschen Geschichte nur nach innen gerichtet. Nicht von oben gefordert, sondern von unten hergestellt. In einem revolutionären friedlichen Akt ist das Honecker-Regime beseitigt worden. Einigkeit brachte die Einheit.

Wir haben die Dimension dieses ungeheuren zivilisatorischen Aktes, diese enorme kulturelle Leistung, bis heute ganz offenbar nicht begriffen. Es handelt sich ja auch um etwas radikal Neues in der Deutschen Geschichte.

Die Einigkeit, ihre Voraussetzung, ihr Bestand und ihre besondere Pflege stehen wider Erwarten nicht im Zentrum deutscher Politik. Die Einigkeit kam vielmehr – zusammen mit der Einheit- in die Hände der Parteien. Einigkeit ging dabei in der Einheit unter. Die kulturelle Dimension, das radikal Neue, blieb auf der Strecke.

Deshalb suchen wir heute vergebens das „Projekt Einigkeit“, das alle in einer gesamtdeutschen Kraftanstrengung mitgerissen hätte. Das wirkt sich wiederum auf den Europäischen Einigkeitsprozess aus. Deutschland könnte und müsste (auch von Verfassungs wegen) der Motor der Europäischen Einigkeit sein, nachdem wir endlich von der „Deutschen Frage“ befreit sind und unsere Nachbarn nunmehr erkannt haben, dass die sprichwörtliche Angst vor den Deutschen der Geschichte angehört. Dennoch tun wir uns alle schwer mit der Europäischen Einigkeit. Das liegt daran, dass die deutsche Einigkeit immer noch Vision ist. Sie ist keine Wirklichkeit. Wir sind immer noch mit uns selbst beschäftigt. Das bindet völlig unnötig politische Energien.

So misslingt auch das Projekt Europa. Europa verkommt zu einer schieren Freihandelszone. Es ist keine Rede mehr von der Rückgewinnung politischer Gestaltungskraft gegenüber der Ökonomie im weltweiten Zusammenhang. Es ist keine Rede mehr von der dringend gebotenen Konvergenz der Steuersysteme, um Mittel zurückzugewinnen für soziale und kulturelle Projekte.

Die Kraft hierfür fehlt, weil sie in de kulturellen Einigkeit wurzelt. Diese fehlt aber hier bei uns in Deutschland. Europa droht das gleiche Schicksal. Es reicht wie in Deutschland auch dort bestenfalls für die Einheit. Nicht aber für die Kraft spendende Einigkeit.

Auf wen ist also zu hoffen? Auf die Politik nicht. Auf die Medien als Ort, an dem die kulturelle Öffentlichkeit fokussiert wird und der Diskurs stattfinden könnte, ebenfalls nicht. In den Medien geht es heute nicht mehr um den Erhalt der demokratischen Öffentlichkeit, d.h. aber um den Austausch von Gründen, sondern nur noch um die Bündelung von Blicken auf Personen (Habermas).

Besteht also keine Hoffnung auf Einigkeit? Doch. Denn wir wollen nicht diejenigen vergessen, die sich in der Mitte unserer Gesellschaft, zum Teil in Kleinstprojekten, darum bemühen. Vielleicht ist Einigkeit auch nur herzustellen von Mensch zu Mensch. Lassen Sie uns damit beginnen. So wie es in Leipzig 1989 begann.

https://www.st-petri-luebeck.de/images/stories/bindungen/redebouteiller1einigkeit.pdf
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Allgemein/Politik/Geschichte

Berliner Verfassung reformieren – die Unregierbarkeit beenden!

Sie wollen es nicht wissen – vom Versagen des Landes Berlin

Berliner Verfassung reformieren – die Unregierbarkeit beenden!

Das Klagen über die Unregierbarkeit Berlins ist sattsam bekannt (vgl.NZZ -online vom 31.10.2021,     https://www.nzz.ch/meinung/der-andere-blick/wieso-laeuft-doch-ld.1652124). Es wird jetzt getoppt durch das Urteil des Berliner Verfassungsgerichts. Um dem abzuhelfen, schlage ich im Folgenden vor,  die heutige zweistufige Berliner Verfassung  (Senatsverwaltung und Bezirksverwaltungen) durch  eine einstufige Verfassung zu ersetzen.

Der Kern des in Berlin beklagten Wirrwarrs in Angelegenheiten der Verwaltung besteht nicht im fehlenden Wollen der Verwaltungsmitarbeiter:innen oder der Politik. Beim besten Willen: die Mitarbeiter:innen oder die Politiker:innen mögen wollen. Können tun sie es nicht. Es ist die offensichtliche Desorganisation und fehlende Eindeutigkeit von Strukturen und Funktionen – bis hinein in Landesverfassung, die Landesgesetze und Verordnungen. Die in Berlin Regierenden wollen es nicht wissen.

Ein vergleichender erster Blick in die beiden unterschiedlichen Verfassungstypen macht das deutlich: Grund der Fehlorganisation ist offensichtlich der Umstand, dass es in Berlin nicht gelingt oder gelungen ist, die Gemeindeverfassung mit der staatlichen Landesverfassung zu einem funktionierenden Ganzen zu verbinden. Staat und Gemeinden (Senat und die 12 Bezirke) stehen – bei allen gut gemeinten Versuchen des Ausgleichs zwischen Staat und Gemeinde  – in einem nicht zu vertretenden andauernden Zuständigkeitsdialog.

Für die Bürger:innen ist diese Differenzierung (in Senats- und eigenständige Bezirksverwaltungen) weder plausibel noch erträglich. Ihre Begegnung mit der Stadt erfüllt sich beim persönlichen Anmelden, Ummelden, Passverlängern,  Fahrzeug an- und abmelden, dem Bezug von Wohn- und Kindergeld, Sozialhilfe, der Aufenthaltserlaubnis, Bauantrag usw. Dabei ist es der Bürger:in gleichgültig, ob im Einzelfall Bezirk oder Senat zuständig ist. Es geht um Effizienz, Termintreue und schnelle Erledigung oder mit Freundlichkeit erteilten Rat. 

Überträgt man die Einheitsverfassung auf den Verfassungs-Mix in Berlin, so ergibt sich folgende Gegenüberstellung der Verfassungstexte:

Geltende Berliner Landesverfassung    Vorschlag einer Neufassung

Art. 66 VvB  alt– Beteiligung der Bezirke
Die Verwaltung ist bürgernah im demokratischen und sozialen Geist nach der Verfassung und den Gesetzen zu führen.
(2) Die Bezirke erfüllen ihre Aufgaben nach den        Grundsätzen der Selbstverwaltung. Sie nehmen        regelmäßig die örtlichen Verwaltungsaufgaben        wahr.
(3) Das Nähere wird durch Gesetz geregelt.


Art. 66 VvB neu – Beteiligung der Bezirke
(1) Im Stadtstaat Berlin werden staatliche und gemeindliche Tätigkeit nicht getrennt.
(2) Durch Gesetz sind für Teilgebiete (Bezirke) Bezirksämter zu bilden, denen die selbstständige Erledigung übertragener Aufgaben obliegt. 
An der Aufgabenerledigung wirken die Bezirksversammlungen nach Maßgabe des Gesetzes mit.
(3) Die Bezirksversammlungen werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. 
Wahlvorschläge, nach deren Ergebnis sich die Sitzanteile in den Bezirksversammlungen bestimmen, werden nur berücksichtigt, wenn sie mindestens drei vom Hundert der insgesamt auf solche Wahlvorschläge abgegebenen gültigen Stimmen erhalten haben.
Das Gesetz bestimmt das Nähere.
Art. 67 VvB  alt– Zuständigkeit der Hauptverwaltung
Der Senat nimmt durch die Hauptverwaltung die Aufgaben von gesamtstädtischer Bedeutung wahr. Dazu gehören: die Leitungsaufgaben (Planung, Grundsatzangelegenheiten, Steuerung, Aufsicht),
2.    die Polizei-, Justiz- und Steuerverwaltung,
3.     einzelne andere Aufgabenbereiche, die wegen           ihrer Eigenart zwingend einer Durchführung in           unmittelbarer Regierungsverantwortung           bedürfen.
(2)  Die Ausgestaltung der Aufsicht wird durch Gesetz geregelt. Es kann an Stelle der Fachaufsicht für einzelne Aufgabenbereiche der Bezirke ein Eingriffsrecht für alle Aufgabenbereiche der Bezirke für den Fall vorsehen, dass dringende Gesamtinteressen Berlins beeinträchtigt werden.
(3) Die Bezirke nehmen alle anderen Aufgaben der Verwaltung wahr. Der Senat kann Grundsätze und allgemeine Verwaltungsvorschriften für die Tätigkeit der Bezirke erlassen. Er übt auch die Aufsicht darüber aus, dass diese eingehalten werden und die Rechtmäßigkeit der Verwaltung gewahrt bleibt.
(4) Die Aufgaben des Senats außerhalb der Leitungsaufgaben werden im Einzelnen durch Gesetz mit zusammenfassendem Zuständigkeitskatalog bestimmt. Im Vorgriff auf eine Katalogänderung kann der Senat durch Rechtsverordnung einzelne Aufgaben der Hauptverwaltung den Bezirken zuweisen.
(5) Zur Ausübung der Schulaufsicht können Beamte in den Bezirksverwaltungen herangezogen werden.
(6) Einzelne Aufgaben der Bezirke können durch einen Bezirk oder mehrere Bezirke wahrgenommen werden. Im Einvernehmen mit den Bezirken legt der Senat die örtliche Zuständigkeit durch Rechtsverordnung fest 
Art. 68 VvB alt – Rat der Bürgermeister
Den Bezirken ist die Möglichkeit zu geben, zu den grundsätzlichen Fragen der Verwaltung und Gesetzgebung Stellung zu nehmen. (2) Zu diesem Zweck finden regelmäßig mindestens         einmal monatlich gemeinsame Besprechungen         des Regierenden Bürgermeisters und des        Bürgermeisters mit den Bezirksbürgermeistern      oder den stellvertretenden Bezirksbürgermeistern als        Vertretern des Bezirksamts statt (Rat der        Bürgermeister).
Art. 67 VvB neu – Zuständigkeit der Hauptverwaltung
Die Regierende Bürgermeisterin (Präsidentin des Senats) oder der Regierende Bürgermeister (Präsident des Senats) und die Senatorinnen und Senatoren bilden den Senat.
(2) Der Senat ist die Landesregierung. Er führt        und beaufsichtigt die Verwaltung. 


























Art. 68 VvB neu = alt – Rat der Bürgermeister und Bürgermeisterinnen
Den Bezirken ist die Möglichkeit zu geben, zu den grundsätzlichen Fragen der Verwaltung und Gesetzgebung Stellung zu nehmen.
(2) Zu diesem Zweck finden regelmäßig        mindestens einmal monatlich gemeinsame         Besprechungen des Regierenden          Bürgermeisters, der Regierenden         Bürgermeisterin und des Bürgermeisters,           der Bürgermeisterin,  mit         den Bezirksbürgermeistern, den          Bezirksbürgermeisterinnen oder den         stellvertretenden Bezirksbürgermeistern,          Bürgermeisterinnen als         Vertretern des Bezirksamts statt (Rat der         Bürgermeister und Bürgermeisterinnen).

Entscheidend ist die Abschaffung des Vorrangprinzips der gemeindlichen Selbstverwaltung der 12 Berliner Bezirke (vgl. § 4 AZG  (Allgemeines Zuständigkeitsgesetz). Diese überkommene, an der früheren Dorfstruktur orientierte, zweigeteilte Verfassung des Landes Berlin ist mit dem jetzigen komplexen und örtlich selten begrenzbaren, hoch vernetzten Aufgabenspektrum einer Hauptstadt nicht mehr vereinbar. 

Die 12  Bezirke (Bezirksversammlungen und Bezirksämter) bleiben zwar erhalten. Der Bezirk verliert indes die Garantie gemeindlicher Selbstverwaltung seiner Angelegenheiten. Rechtstechnisch wird mit der neuen Verfassung der Bezirk von der Gemeinde zum untergeordneten Gliedstaat. Ihm werden sämtliche (also hoheitliche und gemeindliche) Aufgaben durch Landesgesetz zur selbständigen Erledigung übertragen. Für die Bürger:in ändert sich nichts. Innerhalb der Verwaltung tritt allerdings mit der Einstufigkeit in sämtlichen Entscheidungen eine eindeutige Entscheidungskette mit der Letztverantwortlichkeit des Senats.

Die Folgen einer derartigen Anpassung an eine zukunftsgerichtete einstufige Stadtorganisation, die sich nicht in Zuständigkeitsfragen erschöpft, führt aus Sicht der Bürger:in zu einem Gewinn an direkter Teilhabe und Effizienz. Für die Mitarbeiter:innen ändert sich in Stellung, Eingruppierung und Tätigkeit nichts. Die Umsetzung der Gesetze, Verordnungen und Erlasse ist mit geringem Verwaltungsaufwand – wenn man mit den gebotenen Anpassungen im Wesentlichen den Vorschriften der bewährten einstufigen Modelle folgt – auch zeitnah machbar. 

Nach Art.100 VvB erfordert die Änderung der Verfassung im vorliegenden Fall eine Mehrheit von zwei Dritteln der gewählten Mitglieder des Abgeordnetenhauses.

M.B. Lübeck, 4.11.21

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Allgemein/Politik/Geschichte Lübeck

Die Novemberrevolution 1918 änderte an den Machtverhält-nissen in Lübeck nichts. Warum?

Die Novemberrevolution 1918 brachte Lübeck zwar das demokratische allgemeine und gleiche Wahlrecht. An den Machtverhältnissen änderte sich hingegen – wie wir unten sehen werden – nichts. Weshalb Lübeck allerdings der einzige der 25 Bundesstaaten der Weimarer Republik blieb, dessen Regierung aus dem Kaiserreich sich im Amt hatte halten können, erklärt vielleicht die kluge Analyse des langjährigen Syndikus der Lübecker Handelskammer und späteren Bürgerschaftsmitgliedes Dr.Erich Wallroth (1876-1929) [„Lübecks Eigenart als Gemeinwesen. Eine Rückschau.“ Jahrgang 68, 1926, Lübeck 1927, S. 363; https://michaelbouteiller.de/erich-wallroth-luebecks-eigenart-als-gemeinwesen/].

Die wirtschaftliche, politische und kulturelle Lage des damaligen Freistaates schildert Wallroth in einem auch heute noch beachtlichen Artikel für die Lübeckischen Blätter von 1926. Im Ergebnis entwirft er das Bild eines erstaunlichen, ganz besonderen Gemeinwesens. Eines Gebildes, das in der Tat dem von Rudolf Steiner 1919 als Zukunftsmodell erdachten „Dreigliedrigen Sozialen Organismus“[Goetheanum 100 Jahre, 1919-2019, https://socialnew.goetheanum.org/de/dreigliederung/ ] entsprechen könnte. Durch dessen Wahrnehmungsfilter schreibt Erich Wallroth. Er sei hier ausführlich zitiert:

…“Dass die Arbeiterschaft im Verbande ihrer Gewerkschaften straff zusammengefasst ist, dass die Anwälte oder die Ärzte, die Kaufleute und das Gewerbe ihre „Kammern“ haben, bildet gewiss keine lübeckische Besonderheit. Schon die Handwerkerinnungen leben jedoch keineswegs nur von Gesetzes wegen. Neben diesen Innungen aber besteht, wenn wir von kleineren Ämtern absehen, zum Beispiel für die Träger im Hafen seit dem Mittelalter die „Träger-Compagnie“ und nicht minder für deren Arbeitgeber, die Reeder und Kapitäne, die etwa ebenso alte „Schiffer-Gesellschaft“ in ihrem weltberühmten Schifferhause. 

„..Es ist ein in seiner sozialen Gliederung, und zwar in der Selbstverständlichkeit dieser architektonisch abgestuften Gliederung, überaus anziehendes Bild, welches aus der Vogelschau ein solcher Blick (von St.Petri herab, MB) auf die großen, kleinen und kleinsten roten Dächer der Stadt bietet. Von der St.-Lorenz-Vorstadt und wenigen Ausnahmen in den drei anderen Vorstädten abgesehen, hat man sich hier weder kasernieren noch atomisieren lassen. Jeder ist, was er ist, und jeder zeigt auch, ohne Scheu und nicht ohne gesundes Selbstbewusstsein, was er ist. Diese im Gegensatz zu abertausenden anderen großen Städten der Welt so betont und so selbstverständlich nach außen zur Schau gestellte soziale Gliederung des Stadtaufbaus findet ihr Gegenstück in der bis in die jüngste Zeit ebenso selbstbewusst ausgeprägten, korporativen Gliederung der Stadtbevölkerung selber. 

Wichtiger noch sind die großen Zusammenschlüsse des Gewerbes in der „Gewerbegesellschaft“ und nicht zum mindesten des gesamten Handels einschließlich der Industrie in der „Kaufmannschaft“, endlich über alle Stände hinweg die alte und hoch angesehene „Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit“.  Erst wenn man sich diese wechselvolle Buntheit des körperschaftlichen Aufbaus vor Augen hält, begreift man, warum diese Stadt als Gemeinwesen für den landfremden Preußen so stark aus dem Rahmen des ihm Bekannten heraus fallen muss.

Dem verstorbenen Philosophen Rudolf Steiner schwebte für die staatlichen Neuaufbau der Zukunft bekanntlich eine „Dreigliederung des sozialen Organismus“ vor. Entpolitisierung der Wirtschaft auf der einen, Entpolitisierung der Kulturfragen auf der anderen Seite waren für ihn wichtige, leitende Gesichtspunkte. Ob richtig oder unrichtig, gesetz- oder verfassungsmäßig ist dies meiner Überzeugung nach eine unlösbare Aufgabe. Der Streit um die Trennung der Gewalten sowie um den Schlüssel zur Lösung der Aufgabe würde nur erneut die Köpfe spalten. Näher kommen wenigstens kann man jenem Ziele wohl nur durch eine zweckdienliche Verteilung der öffentlichen Aufgaben in staatliche und korporative Aufgaben.

In Lübeck ist man freilich bis vor kurzem in dieser Entpolitisierung schon im Staate selbst noch erheblich weiter gegangen. Den großen Staatsgebilden mag die strenge parteimäßige Gliederung des Parlaments wie der Regierung eine mehr oder weniger unentrinnbare Notwendigkeit sein, so sehr man bezweifeln mag, ob die heutigen Parteischemen nicht schon vielfach Züge der Überalterung tragen. Die Anwendung des gleichen Schemas auf die begrenzten und unmittelbar praktischen Aufgaben einer Stadt oder eines Stadt-Staates ist aber vielleicht doch kein so unbedingtes  Gebot der Notwendigkeit, wie es gemeinhin erscheint. 

Im Lübeck der Vorkriegszeit jedenfalls spielten – abgesehen von der Sozialdemokratie, die als Vertreterin der Handarbeiterschaft und gewisser Kreise der Angestelltenschaft allerdings ihrem Kern nach eigentlich von allen Parteien die ausgeprägteste Berufsvertretung darstellt – die bekannten großen bürgerlichen Parteien für das öffentliche Leben der Stadt überhaupt keine Rolle. 

Zwar war nicht die Verfassung als solche mehr berufsständischen Inhalts (abgesehen vom Senat, der sich in gelehrte und kaufmännische Mitglieder deutlich gliederte). Aber die praktische Handhabung der bürgerlichen Wahlen war es um so mehr. Denn die Aufsätze für die bürgerlichen Wahlen und damit praktisch die Wahlen selber lagen bekanntlich ganz in den Händen des alle bürgerlichen Bevölkerungsgruppen umfassenden „Vaterstädtischen Vereins“. In ihm einigten sich – im Auftrage ihrer Korporationen und Vereinigungen – die Vertreter der Gross-Kaufmannschaft und des Kleinhandels, der Gewerbe, der Grundbesitzer und der Landwirte, der gelehrten Berufe und zum Teil der Angestelltenschaft, ohne jedes Parteidogma sowohl über den Verteilungsschlüssel für die Kandidaten der einzelnen Gruppen, wie über die Wahlaufsätze selber. 

Damit war der Wahlvorgang faktisch bereits im Voraus erledigt. Ein gesetzmäßig, normierter Verteilungsschlüssel bestand nur in der fraglos ungerechten politischen Kontingentierung der Bürgerschaftssitze für die kleinen Steuerpflichtigen, also zum Nachteil vor allem der Handarbeiterschaft und der ihr benachbarten Schichten. Dies zu vermeiden, wäre bei besserer Einsicht wohl möglich gewesen. An der im Kern dem sozialen Aufbau des Stadt-Staates folgenden Gliederung der Bürgerschaft hätte eine gerechte, notwendige, aber bei gutem Willen auch mögliche Korrektur jenes Fehlers an sich nichts Grundlegendes zu ändern brauchen.

Die Vor- und Nachteile dieses Zustandes gegenüber dem anderer Städte und gegenüber dem heutigen Zustand zu werten, kann natürlich nicht Zweck dieser Zeilen sein.  Es genügt festzustellen, dass das innere staatliche Lübeck bis über den Weltkrieg hinaus ein von „normalen“ städtischen Gebilden gebildetes, gänzlich abweichendes Gepräge hatte und – wirklich nur trotzdem? – doch eine gesund aufstrebende Hafen-, Handels- und Industriestadt war. Dass jedenfalls die Beziehungen der Bewohner untereinander, die Harmonie ihres Zusammenlebens hiervon vorteilhaft beeinflusst wurde, werden auch diejenigen zugeben, welche die auch mit diesem politischen System fraglos verbundenen Unstimmigkeiten in den Vordergrund stellen.

Eine weitere Besonderheit im Sinne der Entpolitisierung bildete eine in dieser Ausprägung in Deutschland wohl einzigartige Überlassung wichtiger Staatsaufgaben an vorhandene korporative Organe. Zunächst auf dem Gebiet der Kulturpflege! Hier ist es die schon erwähnte so genannte „Gemeinnützige“, welche neben früheren sozialen Aufgaben, die allmählich der breiteren Schultern von Staat und Reich bedurften, kulturelle Aufgaben weittragender Art seit langem übernommen hat. Ihr anzugehören, war und ist in breiten Kreisen des lübeckischen Bürgertums selbstverständliche bürgerliche Pflicht. Von ihr wird nicht nur das Vortragswesen der Stadt in weitem Maße getragen; auch die ganze Museumsverwaltung war und ist, wenn auch mit staatlichen Zuschüssen, ihre Sache; ihr wöchentlich erscheinendes Organ, die „Lübeckischen Blätter“, sind ohne Frage von jeher der beste geistige Spiegel der Stadt, und ihre Bücherei kann sich neben anderen öffentlichen Büchersammlungen durchaus sehen lassen.

Schließlich – und zwar wiederum bemerkenswerterweise als Mitträger wichtiger Staatsaufgaben – die „lübeckische Kaufmannschaft“. Ihr Einfluss auf Staat und Verwaltung in den Hansestädten ist gewiss allgemein sehr groß, viel größer jedenfalls als irgendwo sonst im Binnenland. Darüber hinaus ist ihre besondere, in Deutschland einzigartige Aufgabe, vor allem die Verwaltung aller See- und Binnenhäfen, einschließlich der daraus sich ergebenden Nebenaufgaben, die überall sonst beim Staat oder bei der Stadtverwaltung liegen. 

Wortführer der Bürgerschaft, Präses der Kaufmannschaft und Direktor der Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit war und ist wohl auch heute noch in Lübeck, die selbstverständliche Trias der höchsten Ehrenämter der Stadt. Sie ist es so sehr, dass Bürgermeister und Senatoren bekanntlich früher überaus häufig erst Mitglieder dieser Trias waren, ehe sie zum höchsten Staatsamt berufen wurden.

Es war also, um cum grano salis auf Steiner zurück zu kommen, eine immerhin beachtenswerte Annäherung zu einer „Dreigliederung des sozialen Organismus“, teils auf staatlicher, teils auf korporativer Grundlage, welche dem öffentlichen Leben Lübecks bunten und lebendigen Inhalt gab. Sie wäre, wenn auch mit unbedingt notwendigen Um- und Weiterbildungen, weiterer fruchtbarer Ausgestaltung durchaus fähig gewesen, wenn die neue Zeit etwas mehr Nährboden für das organisches Wachstum solcher geschichtlich bedingter Gebilde mit sich brächte, die in der Vergangenheit trotz allem, was man einwenden mag, doch im Kern gut und gesund, jedenfalls bodenständig waren.

In einem solchen, dem inneren Leben wie dem äußeren Bild Lübecks seinen Stempel aufdrückenden Gesamtorganismus zu leben und zu wirken hatte, trotz mancher Kleinigkeiten (die aber gewiss auch anderswo nicht fehlen), zweifellos seinen eigenen Reiz. Dieser Reiz war umso größer, als Lübeck für die berufsmäßige Wahrnehmung seiner öffentlichen Funktionen keineswegs Inzucht trieb. 

An der Spitze der Geschäftsführung der Bauverwaltung, der Verwaltungsbehörde für städtische Gemeindeanstalten, des Schulwesens, der Gerichtspflege zum Beispiel standen meist auswärts erprobte Männer, denen man – ich erinnere nur an den alten Rehder – trotz aller Kollegienverfassung, einen weitreichenden Spielraum für ihre persönliche Gestaltungskraft ließ…“

Wallroth beschreibt hier das Bild eines korporativen Gemeinwesens, dessen traditionelles Vereins- und Verbandswesen die personellen Auswahlentscheidungen übernimmt. Gegensätzliche Anschauungen in Personal- und Fachfragen werden innerhalb der Institutionen abgearbeitet, so z.B. die personellen Konflikte innerhalb des Bürgertums bei der Vorbereitung von Bürgerschaftswahlen in der „Vaterstädtischen Vereinigung“. Oder die Vorschläge für die Wahl des Regierenden Bürgermeisters über die „Gemeinnützige“. 

Wirkte die vorrevolutionäre „Dreigliederung des sozialen Organismus“ Wallroths hinein in die Weimarer Republik?  Ja und Nein. Richtig ist, dass die patrizische Tradition und Kultur nicht nur das vorrevolutionäre Lübeck prägte. Abram Enns gibt uns einen zutreffenden Einblick in das dazugehörige verschlafene Kulturleben Lübecks vor Carl Georg Heises Dienstantritt als Direktor des St.Annen-Museums im Mai 1920 [Abram Enns, Kunst und Bürgertum. Die kontroversen zwanziger Jahre in Lübeck, Hamburg 1978, Klappentext].

Es spricht auch vieles dafür, dass es diese alte konsensuale Tradition des Lübecker Patriziertums war, die der Elite der SPD-Arbeiterschaft später, besonders unter ihrem streitbaren Anführer Julius Leber ab 1921, keine Chance auf kulturelle Teilhabe, geschweige denn politische Dominanz im Freistaat, gab. Wallroths Blick war allerdings verstellt, wenn er die aufkommende Wut der rasant wachsenden Industriearbeiterschaft Ende des 19. Jahrhunderts über die verweigerte Teilhabe am Gemeinwesen durch das Vier-Klassen-Wahlrecht* nicht wahrhaben wollte und die tiefe Spaltung der Stadtgesellschaft unterschätzte. 

[* Bis zur Februarwahl 1919 konnten nur Bürger, die fünf Jahre hintereinander in Lübeck ansässig waren und Steuern gezahlt hatten, wählen. Man teilte sie aber obendrein noch in vier Klassen ein und maß Ihnen die Zahl der Mandate nach Einkommen oder Landbesitz zu. In den städtischen Bezirken hatten die Bürger mit einem Einkommen von mehr als 2000 Mark jährlich 90 Vertreter in die Bürgerschaft zu entsenden, während auf die große Zahl der übrigen Bürger ganze zwölf Sitze entfielen. Auf dem Landgebiet standen den Besitzenden zwölf Vertreter, den minderbemittelten Bürgern 3 Sitze zu, LV v.10.2.1919, S.1; Vgl. z.B.zur Bürgerschaftswahl vom 20.11.1913, Lübecker Volksbote v.20.11.1913, S.1]

Deshalb bleibt das Narrativ Wallroths vorrevolutionär, soweit er darauf abhebt, es sei ohne weiteres „bei gutem Willen“ möglich gewesen, die Ungerechtigkeit des Wahlrechts der Kaiserzeit in einem Lübecker „dreigliedrigen sozialen Organismus“ auszugleichen. Für die tiefgreifenden Konflikte der Stadtgesellschaft Lübecks, die Spaltung in Bürger (30%) und Arbeiter (70%) hatte Wallroth keinen Sinn .[Michael Bouteiller, Vom qualvollen Ende Weimars im Freistaat Lübeck 1921-1933, Schriften der Erich-Mühsam-Gesellschaft, Heft 48, Norderstedt 2022, S.30, https://michaelbouteiller.de/?p=4965] .

Denn diese lag nach wie vor ausschließlich beim Lübecker Patriziat (Possehl usw.) bzw. im Reich beim Großkapital der Siemens, Hugenbergs, Kirdorfs, Krupps, Beukenbergs [Klaus-Dieter Walter Pomiluek, Heinrich Wilhelm Beukenberg, Ein Montanindustrieller seiner Zeit, Inaugural-Dissertation, 13.2.2002, https://docserv.uni-duesseldorf.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-3646/1646.pdf]. usw. Ein gesetzlicher Umsturz der Vermögensverhältnisse wurde nach  der Novemberrevolution vertagt.

Selbst die Fürstenenteignung war im Reichstag auf Antrag von KPD und SPD zwar eingebracht, scheiterte jedoch im Volksentscheid am 20. 6.1926. Eine gerechte Vermögensverteilung des bürgerlichen Großkapitals im Reich und in den Bundesländern zu fordern, war später unrealistisch. Der „werktätigen Bevölkerung“ [Untertitel des Lübeckischen Volksboten] und ihren Gewerkschaften wurde jede entscheidende Machtoption verweigert. Das war auch nach 1945 so, denn in der Währungsreform blieb das Betriebsvermögen erhalten [MB, Verfassungsgewalt, 2022, https://michaelbouteiller.de/?p=4785].

In Lübeck waren es sicher auch die führenden und gemäßigten Sozialdemokraten selbst, die es versäumt hatten,  die absolute Mehrheit ihrer Mandate in der ersten Bürgerschaftswahl nach der Revolution (9.2.1919) in eine Regierungsmehrheit durch eine entsprechende Verfassungsänderung umzumünzen. Danach fanden  die Sozialisten zu keinem Zeitpunkt mehr zu einer mehrheitlich sozialdemokratischen Regierung. Der Senat blieb bis zum 6.3.1933 fest in der Hand der Bürgerlichen [Michael Bouteiller, a.a.O.], die sich nach dem 1.1.1921 unter ihrem Senatspräsidenten Johann Neumann mehr und mehr an den Völkischen orientierten. 

Nach dem Sturz ihres Sprachrohres, des Regierenden Bürgermeisters Johann Neumann, am 2.6.1926, wurde der von diesem maßgeblich mitgegründete Hanseatische Volksbund bei den Bürgerschaftswahlen im November 1926 zur stärksten Fraktion, um nach dessen Tod, am 7. April 1928, alsbald in der NSDAP aufzugehen. [Bouteiller, a.a.O. ]. Dabei spielte es für die herrschende bürgerliche kulturelle Hegemonie keine Rolle, dass mit der Abwahl Dr.Neumanns am 2. Juni 1926 und der Wahl Senator Paul Löwigts zum Regierenden Bürgermeister am 3.Juni 1926 ein Sozialdemokrat zum Präsidenten des Senats gewählt worden war. 

Löwigt stand ab 22.6.1926 als Senatspräsident einem mehrheitlich bürgerlichen Senat vor und fügte sich als gemäßigter Sozialdemokrat nahtlos in die Kooperation mit den inzwischen zunehmend national-völkisch orientierten oppositionellen Senatoren. Trotz des „Coming-out“ seines Vorgängers, der demonstrativ an der Gedenkfeier zum einjährigen Todestag des nationalsozialistischen Märtyrers Albert Leo Schlageter am 26.Mai 1924 mit seinem Stellvertreter, Senator Dr.Vermehren, im Dom teilgenommen hatte, [Max Knie, 15 Jahre Lübecker Zeitgeschichte. Von der Revolte bis zur Nationalen Erhebung, Lübeck 1933, S.40; https://michaelbouteiller.de/?p=4881] hielt Senator Löwigt im Senat eine außergewöhnlich versöhnliche Abschiedsrede auf Dr.Neumann.[Max Knie, a.a.O., S.54] Die linke Sozialdemokratie unter Julius Leber beklagte demgegenüber eine zunehmend tiefere Spaltung der Stadtgesellschaft in Bürger und Arbeiter. 

„Man versteht sich nicht mehr in Deutschland; das Volk ist gespalten, unüberbrückbar gespalten. Hier Arbeiter – hier Bürger. Nie kam das besser zum Ausdruck als gestern, an dem ersten Tag in der Nordischen Woche… Nordische Journalisten drückten gestern ihr Erstaunen aus, dass man sie zu Veranstaltungen mit  r e i n.  w i r t s c h a f t l i c h e n und k u l t u r e l l e n Absichten einlade und dass man ihnen dann eine gewaltige monarchistische Flaggenparade vor die Nase hänge. „Wollen die Deutschen uns vor Augen führen, dass sie trotz allem nichts gelernt haben?…

Das Bürgertum hat total versagt, es ist mehr und mehr nach rechts abgeschwenkt. Die Kreise derer, die dem Arbeiter auch sein Recht gönnten, sind kleiner und kleiner geworden. Und jetzt ist die Lage so, dass man, ohne erheblich der Tatsache Zwang anzutun, von einer Zweiteilung des Volkes in A r b e i t e r s c h a f t und B ü r g e r t u m sprechen kann. Möchte das Bürgertum doch einsehen, dass es auf verlorenem Posten kämpft,, dass die geschichtliche Entwicklung ihm unrecht geben muss!“ [Julius Leber., Lübecker Volksbote, 2.9.1921, S.1]

Die patrizische  „Konsensmaschine“ Wallroths hielt der faschistischen Gewaltwalze nicht stand. Die Weimarer Verfassung hatte weder an den himmelschreienden Ungerechtigkeiten der kaiserlichen Vermögensspreizung, also der barbarischen Eigentumsordnung, etwas geändert,[Michael Bouteiller, Verfassungsgewalt, Lübeck 2022, S. 12, https://michaelbouteiller.de/?p=4785] noch Vorkehrungen getroffen gegen deren Verbindung mit dem faschistisch gewordenen Staat. Die Nationalversammlung in Weimar hatte vielmehr Augen und Ohren vor der hellsichtigen Warnung Rosa Luxemburgs vom 20.11.1918 verschlossen:

…Die Nationalversammlung ist ein überlebtes Erbstück bürgerliche Revolutionen, eine Hülse ohne Inhalt, ein Requisit aus den Zeiten kleinbürgerlicher Illusionen vom „einigen Volk!, von der„Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ des bürgerlichen Staates.

Wer heute zur Nationalversammlung greift, schraubt die Revolution bewusst oder unbewusst auf das historische Stadium bürgerlicher Revolutionen zurück; er ist ein verkappter Agent der Bourgeoisie oder ein unbewusster Ideologe des Kleinbürgertums. Unter dem Feldgeschrei: Demokratie oder Diktatur! Wird der Kampf um die Nationalversammlung geführt. Auch diese Parole der gegenrevolutionären Demagogie übernehmen gehorsam sozialistische Führer, ohne zu merken, dass die Alternative eine demagogische Fälschung ist.

Nicht darum handelt es sich heute, ob Demokratie oder Diktatur. Die von der Geschichte auf die Tagesordnung gestellte Frage lautet: bürgerliche Demokratie oder sozialistische Demokratie. Denn die Diktatur des Proletariats, das ist die Demokratie im sozialistischen Sinne. Diktatur des Proletariats, das sind nicht Bomben, Putsche, Krawalle, „Anarchie!, wie die Agenden des kapitalistischen Profits zielbewusst fälschen, sondern das ist der Gebrauch aller politischen Machtmittel zur Verwirklichung des Sozialismus, zur Expropriation der Kapitalistenklasse – im Sinne und durch den Willen der revolutionäre Mehrheit des Proletariats, also im Geiste sozialistischer Demokratie.

Ohne den bewussten Willen und die bewusste Tat der Mehrheit des Proletariats kein Sozialismus. Um dieses Bewusstsein zu schärfen, diesen Willen zu stärken, diese Tat zu organisieren, ist ein Klassenorgan nötig: das Reichsparlament der Proletarier in Stadt und Land. Die Einberufung einer solchen Arbeitervertretung anstelle der traditionellen Nationalversammlung der bürgerlichen Revolution ist an sich schon ein Akt des Klassenkampfes, ein Bruch mit der geschichtlichen Vergangenheit der bürgerlichen Gesellschaft, ein mächtiges Mittel zur Aufrüttelung der proletarischen Volksmassen, eine erste offene schroffe Kriegserklärung an den Kapitalismus.

Keine Ausflüchte, keine Zweideutigkeiten – die Würfel müssen fallen. Der parlamentarische Kretinismus war gestern eine Schwäche, ist heute eine Zweideutigkeit, wird morgen ein Verrat am Sozialismus sein.!“ [Luxemburg, Rosa, Erklärung des Spartakusbundes gegen die Wahl einer Nationalversammlung am 20.11.1918, Die Rote Fahne vom 20.11.1918 Nr 5, in Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte Band 3, Mainz 1966, S.26]

Aus heutiger Sicht und nach den ca. 187 Mio. „Megatoden“ des „kurzen 20.Jahrhunderts“ [Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, München Wien 1995, S. 26],  ist diesem Urteil Rosa Luxemburgs im Ergebnis nichts hinzuzufügen. Zwar wurde das Kaiserreich, d.h. die Staatsform der Monarchie, im November 1918 abgeschafft. Ein Machtwechsel fand indes auch in der Weimarer Republik nicht statt. Denn das Bürgertum hatte längst im Kaiserreich die tatsächliche Herrschaft übernommen. Und die große Hoffnung Julius Lebers auf eine geschichtliche Zukunft der Arbeiterklasse löste sich – wie wir wissen –  auf in Schall und Rauch.

Michael Bouteiller

Lübeck, 5.Februar 2023 

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Allgemein/Politik/Geschichte

Die Lübecker Stadtzerstörer:innen

Frau von Zastrow von den Lübecker Nachrichten liebt das Spannende. Den Krawall. Die Kommunalwahl steht an. Auf geht‘s!

Es bieten sich an: das Museumsprojekt Buddenbrookhaus und das Heiligen-Geist-Hospiital (HGH). Im beiden Fällen sind es die Lieblingsvokabeln der neuen Lübecker Taliban: Denkmalpflege, Stadtzerstörung, Baukosten und beim HGH dazu noch die Vertreibung der Alten aus ihrem Schutzraum nach fast 800 Jahren. 

Wolfgang Nešković hat für solche Themen ein untrügliches Händchen: Mit der Lindenaktion an der Untertrave brachte er der Stadt schon den Verlust von Millionen an Fördergeldern und den Stillstand der dortigen Stadtgestaltung. Das war ein erstes Übungsfeld. Nun soll es erst richtig zur Sache gehen: am Ende mit der Abwahl des Bürgermeisters als Krönung. 

Soweit muss es nicht kommen. Die sogenannten „Männer des Rechts“ waren immer schon mit Vorsicht zu genießen, wenn sie so tun, als seien sie die neutralen Künder der Gesetze. Auf Fake-News sollte man/frau nicht hereinfallen.

Weder verstößt der Umbau des Museums gegen geltendes Recht, noch entspricht das HGH den Bedingungen des heutigen Pflegerechts. Im einen Fall schreien die Gegner:innen auch über die Kosten, im anderen Fall ist das ihnen „wurscht“. Und Frau Ehrich mit ihrem heutigen „Flashmob“ sollte ihren Parteifreund, den Ministerpräsidenten, mit 19 Millionen gleich nach Kiel zurückschicken.

Man mag unter den offenbar fehlenden Themen des Wahlkampfes nichts sonst Geeignetes finden.  Wenn es denn am 23.2.2023 zu einem Bürgerschaftsbeschluss der Gegner:innen kommen sollte, muss der Bürgermeister halt widersprechen, um Schaden von der Hansestadt abzuwenden (§43 GO S-H). Das Hin- und Hergezerre erfreut sicher Frau von Zastrow und die AfD.

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Allgemein/Politik/Geschichte

Haben die deutschen Regierungen von 1998-2021 mit ihrer Festlegung auf Putins Gas ihre Amtseide auf die Verfassung gebrochen, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden?

Das fossile Zeitalter ist zu Ende. Nur haben wir leider immer noch nicht die fossilfreie Infrastruktur, die wir eigentlich bräuchten Ein exklusiver Vorabdruck des neuen Buchs von Claudia Kemfert

Das Hauptdeck des schwimmenden LNG-Terminals im Hafen von Lubmin. John MACDOUGALL/AFP

Stellen wir uns vor, in der Bäckerei um die Ecke spielen sich auffällige Dinge ab. Ein Mitarbeiter wird brutal verprügelt – weil er den Arbeitsvertrag verletzt habe, sagt der Bäcker. Zwei Mitarbeiterinnen aus dem Obstladen nebenan stehen plötzlich angekettet in der Backstube – sie seien aus der Sklaverei des Obsthändlers befreit worden, sagt der Bäcker. Ein Kunde bekommt für sich und seine Familie kein Brot mehr, wenn er nicht deutlich mehr Geld bezahle – wer nicht zur Familie gehöre, verdiene keine Sonderbehandlung, sagt der Bäcker. Eine andere Kundin wird beschimpft und mit Gewalt bedroht, bis sie endlich ihr Portemonnaie auf dem Tresen ausschüttet – sie sei eine Diebin und müsse bezahlen, was sie gestohlen habe, sagt der Bäcker. Was tun?, würde ich mich fragen. Ich könnte all die betroffenen Personen befragen, was los ist. Ich könnte irgendwelche Ordnungskräfte zu Hilfe rufen. Eigentlich ist der Bäcker ja immer nett, ich bekomme immer ein wenig Rabatt und Kindern schenkt er Rosinenbrötchen. Ich könnte aber auch einfach nicht mehr hingehen und meine Brötchen woanders kaufen. Aber ich würde sicher nicht mit dem Bäcker einen Vertrag schließen, in dem er sich verpflichtet, mir jeden Morgen eine Tüte Brötchen zu liefern, und ich mich verpflichte, diese Brötchenlieferung die nächsten 35 Jahre zu bezahlen, ganz gleich, ob ich sie brauche oder nicht. Und erst recht würde ich kein kompliziertes teures Transportsystem bauen, mit dem meine Brötchen für die nächsten 50 Jahre direkt in mein Haus transportiert werden sollen.

Aber ungefähr das geschah mit unserer Energiepolitik gegenüber Russland.

Um die Jahrtausendwende hatten sich mit russischer Beteiligung erschreckende Dinge abgespielt: Die Republik Tschetschenien wurde im Streit, ob sie „abtrünnig“ oder „unabhängig“ war, von Russland mit einem brutalen Krieg überzogen. Die Regionen Abchasien und Südossetien, eigentlich Teil des unabhängigen Staates Georgien, wurden von Russland „befreit“, was eine dreiste Beschönigung dafür war, dass die georgischen Regionen faktisch militärisch und wirtschaftlich von Russland annektiert wurden. Die ehemalige Sowjetrepublik Belarus wurde mit Preisdruck zu „Loyalität“ gegenüber Russland gezwungen. Und die Ukraine, ebenfalls ehemalige Sowjetrepublik, wurde als Gasdieb diffamiert, nachdem sie sich weder durch Preisdruck noch durch Gewaltandrohung zur Loyalität gegenüber Russland zwingen ließ.

Das alles kam nicht wirklich überraschend. Bereits in seiner Dissertation von 1997 und in einem Artikel von 1999 hatte Putin zum Ausdruck gebracht, dass er den Energiesektor nicht nur „als Schlüssel für die wirtschaftliche Wiedergeburt“, sondern vor allem als „Instrument des Wiederaufstiegs Russlands zur Supermacht“ betrachtete. Das schreibt Frank Umbach, der heutige Forschungsdirektor am European Centre for Energy and Resource Security am King’s College London, in einem Aufsatz 2006. In drastischen Worten warnt der Autor darin vor „Europas nächstem Kalten Krieg“ und vor „Moskaus neuem „Energie-Imperialismus“.

Umbach hatte in Moskau an der Universität gearbeitet, war wissenschaftlicher Berater des Nato-Generalsekretärs in Brüssel gewesen und zum Erscheinungszeitpunkt des Artikels obendrein Mitglied der Präsidialgruppe Internationale Rohstofffragen beim Bundesverband deutscher Industrie (BDI). Der Aufsatz erschien in der Fachzeitschrift „Internationale Politik – IP“, die von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) herausgegeben wird, einer der zentralen Forschungseinrichtungen der Außenpolitik in Deutschland. Die Referenzliste seiner Expertise zu Sicherheitspolitik und Energiesicherheit ließe sich leicht fortsetzen.

Umbach ging es ganz sicher nicht um Effekthascherei oder etwas, das wir heute „Clickbaiting“ nennen würden. Sein IP-Beitrag war in jeder Hinsicht ernst gemeint und sehr ernst zu nehmen. Absatz für Absatz reihten sich unterschiedliche Dimensionen der Warnung aneinander – und in jedem ging es um die Folgen einer zu starken deutschen Energieabhängigkeit von Russland und um die irreführenden Mythen, die kursierten. „Langfristige Lieferverträge sind keineswegs automatisch mit der Stärkung der Versorgungssicherheit gleichzusetzen“, schrieb er zum Beispiel. „Im Gegenteil: Deutschland wird noch abhängiger von Russland.“ 

Durch die Ostsee-Pipeline könnte Deutschland theoretisch rund 50 Prozent seines Erdgasverbrauchs und bis zu 36 Prozent des gesamten Energieverbrauchs decken, gab er ein anderes Argument der Nord-Stream-Befürworter wieder. „Doch damit wird Deutschland viel verwundbarer.“ Dies gelte nicht nur für den Fall, dass Moskau den Gashahn zudrehe, sondern auch für terroristische Angriffe auf Pipelines, die weltweit zugenommen hätten.

Russland strebe den Aufbau eines Gaskartells an, mit dem zukünftig nicht nur Preise diktiert werden könnten. Es gäbe ein globales Nullsummenspiel um Zugriffsrechte auf Erdöl- und Erdgasfelder und ein „Great Game“ um Pipelines, das keineswegs auf Zentralasien beschränkt sei, sondern – wie der russisch-ukrainische Gasstreit zeigt – auch in Europa stattfinde.

Der Vorschlag, eine im Vergleich zur Landleitung „zwei- bis dreimal so teure“ Gasleitung durch die Ostsee zu bauen, „ging auf Gazprom und den Kreml zurück und basiert primär auf geopolitischen Erwägungen“. Im Hinblick auf den russisch-ukrainischen Gasstreit zum vorherigen Jahreswechsel stellt er fest: „Das Abdrehen des russischen Gashahns hat gezeigt, dass Moskau zunehmend gewillt ist, seine energiepolitische Macht auch außenpolitisch zu instrumentalisieren.“ Auf diese Art von Konflikt sei aber weder die EU noch Deutschland vorbereitet.

Das ist nur ein Autor und ein Aufsatz von vielen, die sich aus der Wissenschaft an die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft richteten. Es gab viele Texte dieser Art, gerade aus dem Bereich außenpolitischer Expertise. Die Botschaft war immer diese: Es ist ein Irrtum, zu meinen, dass Energieressourcen, egal ob Kohle, Öl oder Gas, einfache wirtschaftliche Güter seien. Sie sind Teil der außen- und sicherheitspolitischen Strategie der mächtigen Lieferländer. Energiesicherheit ist keine Frage von Luxus, es ist eine existenzielle Frage.

Aber es nützte nichts. Weder die Politik noch die Wirtschaft ließ sich durch solche Warnungen von ihrem Weg abbringen. Dessen ungeachtet schloss Deutschland „Take or Pay“-Verträge mit jahrzehntelanger Laufzeit und trieb mit großem Aufwand den Bau der Ostsee-Pipeline Nord Stream voran. Damit brachten wir uns in eine wachsende Abhängigkeit von einem in vielerlei Hinsicht fragwürdigen Lieferanten – und das, obwohl es Jahr für Jahr kleinere oder größere „Gasstreits“ gab, die uns eine Warnung hätten sein müssen, und das, obwohl unsere europäischen Nachbarländer schwere Bedenken hatten, und das, obwohl unser politischer, wirtschaftlicher und militärischer Bündnispartner USA eindringlich warnte. (…) 

Heute weigern wir uns wieder, über die wirklichen Lösungen zu diskutieren, weil es zu anstrengend wäre oder weil etwas anderes gerade leichter geht oder weil uns Ideen fehlen, wie es gehen könnte. Wieder fällen wir Entscheidungen, die uns in neue Abhängigkeiten bringen. Wieder favorisieren wir Technologien, die das eigentliche Problem nicht nur nicht lösen, sondern die dafür sorgen, dass das Problem größer und größer wird.

Wir reden über den Bau von festen LNG-Terminals, die verstärkte Nutzung von Kohlekraftwerken, die Inbetriebnahme alter Ölheizungen, die verlängerte Nutzung stillgelegter Atomkraftwerke. Wir reden über Tankrabatte und Gaspreisdeckel. Wir reden ausschließlich über Technologie der Vergangenheit. Es ist zum Wahnsinnigwerden!

Aber was wäre denn die Lösung? Die Lösung heißt Energiew…

„Nein, Frau Kemfert, wir wollen nicht über Energiewende reden“, fiel mir der Talkshow-Moderator Frank Plasberg ins Wort. Es war die Sendung vom 21. März 2022. Die Energiekrise stand vor der Tür. Wir hatten noch sechs bis acht Monate Zeit, um nicht nur die leeren Gasspeicher zu füllen und provisorische LNG-Terminals zu bauen, um über den Winter zu kommen. Parallel dazu mussten wir anfangen, langfristig geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um im übernächsten und überübernächsten Winter nicht wieder vor demselben Problem zu stehen – oder vor einem noch größeren Problem.

Natürlich musste man da über die Energiewende reden. Aber ich schaffte es nicht einmal, das Wort zu Ende zu sprechen. Das war kein Einzelfall. Es passiert nicht nur mir dauernd, sondern auch anderen. Egal, wer versucht, zu erklären, was aus wissenschaftlicher Perspektive jetzt zu tun ist, er oder sie wird genervt bis aggressiv abgewürgt – in nahezu allen Talkshows oder anderen öffentlichen Diskussionsformaten.

Dafür sei jetzt keine Zeit, ist die Botschaft. Als wäre die Energiewende Traumtänzerei oder ferne Zukunftsmusik, worüber man reden könne, wenn die Krise überstanden sei. Nein, Energiewende ist die einzig vernünftige Antwort auf die Krise und wäre eine sehr vernünftige Prävention vor der Krise gewesen! (…)

Vor 15 Jahren war es tatsächlich noch sinnvoll, auf Gas als „Brückentechnologie“ zu setzen, weil es gute Gründe gab, sich erst mal und vordringlich von der Kohlenutzung zu verabschieden. Gas war im Vergleich dazu das deutlich geringere Übel. Insofern war es durchaus richtig, für die nächsten zwanzig Jahre mit einem erhöhten Gasverbrauch zu rechnen und diesen Bedarf durch entsprechende langfristige Verträge abzusichern.

Vor 15 Jahren hätte sich der Bau von LNG-Terminals noch gelohnt, weil man damals die jahrzehntelange Nutzungsdauer noch weitestgehend hätte ausschöpfen können. Das ist heute anders. Genauso wäre damals die Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken noch sinnvoll gewesen, allerdings nur, wenn man im Gegenzug schneller aus der Kohlekraft ausgestiegen wäre und vor allem – und das ist das Wichtigste! – die erneuerbaren Energien sofort, mit aller Kraft, vordringlich und konsequent ausgebaut hätte.

Aber heute sind solche Maßnahmen absolut nicht sinnvoll – bis auf den Teil mit den erneuerbaren Energien. Das ist heute umso dringlicher, gerade weil ausgerechnet der richtige und „gesunde“ Teil der Lösung ausgebremst wurde. (…)

Energieminister Robert Habeck – der sich nicht „Energieminister“ nennt, sondern „Bundesminister für Wirtschaft und Klima“, ist in Wahrheit gerade nichts anderes als der Chef eines Energieministeriums – wie ich es seit zwei Jahrzehnten immer wieder gefordert habe. Heutzutage muss er aufgrund unserer extremen Gasabhängigkeit nach Katar oder nach Kanada reisen, um potenzielle Gaslieferanten davon zu überzeugen, mit deutschen Unternehmen Gaslieferverträge abzuschließen. Und leider ist er gezwungen, selbst vor Autokraten den Kotau zu machen, damit diese uns in unserer Not nicht desaströse Bedingungen aufbürden, etwa überteuerte Preise oder endlos lange Vertragslaufzeiten, die unsere Wirtschaft auf andere Weise in die Knie zwingen würden.

Im Grunde laufen wir herum wie ein Junkie, dem seine Droge abhandengekommen ist, weil sein bisheriger Drogenhändler dummerweise Amok läuft und deswegen nicht mehr geschäftsfähig ist. Jetzt gilt es, übergangsweise irgendwo Ersatz zu finden. Aber eigentlich steht der Entzug an. Am besten wäre Methadon, das uns ein wohlgesinnter Arzt spritzt, der uns dabei helfen möchte, wieder „clean“ zu werden.

Aber leider sind die meisten Gaslieferanten in der Welt fiese Autokraten, die gar kein Interesse daran haben, dass wir unsere fossile Abhängigkeit aufgeben. Wer jetzt darüber jubelt, dass Energieminister Habeck über seinen Schatten springen muss und „endlich auch mal“ fossile Energien kauft, die er doch früher so verteufelt hat, hat wirklich den Schuss nicht gehört: Das fossile Zeitalter ist zu Ende. Nur haben wir leider immer noch nicht die fossilfreie Infrastruktur, die wir eigentlich bräuchten.

Dabei ist der Schuss von 2022 so viel lauter als jeder andere zuvor. Dies ist kein Warnschuss mehr. Dieser Schuss richtet sich nicht nur gegen die Ukraine, sondern gegen den gesamten demokratischen Westen. Er richtet sich auch gegen uns. Er soll uns treffen, er soll uns verletzen und er zielt auf unsere gesamte Existenz. All das war 2006 noch völlig anders. 

Claudia Kemfert:

Schockwellen – Letzte Chance für sichere Energien und Frieden. Campus, Frankfurt 2023. 310 S., 26 Euro.

Quellenangabe: FR Deutschland vom 04.02.2023, Seite 3

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Allgemein/Politik/Geschichte Lübeck

Erich Wallroth: Lübecks Eigenart als Gemeinwesen

 

 

Lübecks Eigenart als Gemeinwesen, 1926

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Allgemein/Politik/Geschichte

Wer Kiew hat, kann Russland zwingen“ (Paul Rohrbach, 1916)

Wer Kiew hat kann Russland zwingen

Jörg Wollenberg

„Wer Kiew hat, kann Russland zwingen“ (Paul Rohrbach, 1916)

Ein anderer Blick auf den Angriffskrieg von Russland gegen die Ukraine mit Erinnerungen an Spuren von verdrängten Ereignissen der deutschen und russisch- ukrainischen Geschichte im 20. Jahrhundert, ergänzt um Hinweise auf die Nürnberger Nachfolgeprozesse gegen die Eliten des NS-Systems als Grundlage für die Verurteilung von Kriegsverbrechen.

(Auszug)

Bibliografische Informationen Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Impressum-ISBN 978-3-86464-061-2© trafo Verlagsgruppe Dr. Wolfgang Weist, 2020 trafo Wissenschaftsverlag.Finkenstraße 8, 12621 Berline-Mail: info@trafoberlin.de. www.trafoberlin.deSatz & Layout: trafo Wissenschaftsverlag Umschlaggestaltung: trafo Wissenschaftsverlag.Alle Rechte vorbehalten

Inhaltsverzeichnis

Erinnerungen an Spuren von verdrängten Ereignissen der deutschen und russisch-ukrainischen Geschichte im 20. Jahrhundert und den Nürnberger Nachfolgeprozessen gegen die Eliten des NS-Systems als Grundlage für die Verurteilung von Kriegsverbrechen

  1. Vom „Russischen Brotfrieden“ (4.2.1918) und dem Frieden von Brest-Litowsk (1.3. 1918) bis zu den Folgen des deutschen Überfalls auf die UdSSR am 22. Juni 1941 und des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine im Februar 2023

1. Eskalation mit Ansage nach verhängnisvollen Fehlern ab 1990 (George F. Kennan) Seite 2

2. Charkow 2015 – friedlich und bunt, aber auch kontrastreich. Seite 5

3. Die Ukraine als „Mitteleuropäisches Reich deutscher Nation“ (Riezler 1915). Zu den von Deutschland im 20. Jahrhundert entfesselten Kriege um die Ukraine. Seite 11

4. Deutsche Handelshäuser und Niederlassungen ab 1941/42 erneut auf Raubzügen in der Ukraine und auf der Krim. Seite 17

II. Die Nürnberger Nachfolgeprozesse gegen die Eliten des NS-Systems als ein politisches Lehrstück zur Verurteilung von Kriegsverbrechen auch heute.

1. Vom Goten-Mythos der NS-Führungsspitze auf der Krim zur Aufarbeitung der Kriegsverbrechen in der Ukraine im Rahmen der „Nürnberger Gespräche“ von 1985 -1992. Seite 27

2. Zur Aufarbeitung der Kriegsverbrecherprozesse im Nürnberger Bildungszentrum, Seite 29

3. Resümee zu den zitierten Untaten der verantwortlichen Generäle. Seite 31 

4. Zum Versuch, weiße Flecken in der Forschung im Rahmen der Geschichtswerkstatt des kommunalen Bildungszentrums der Stadt Nürnberg (BZ) aufzuarbeiten. Seite 35

5.Der Dolch des Mörders unter der Robe des Juristen“ -Zum Projekt einer Edition der zwölf Nürnberger Nachfolgeprozesse durch das Bildungszen- trum der Stadt Nürnberg in Zusammenarbeit mit Raul , Robert M.W. Kemper, Manfred Messerschmidt u.a.

6.Von der Fata Morgana einer besseren deutschen Republik: Resümee zum Nürnberger Veranstaltungskomplex von 1985-1992. Seite 45

III. Fortsetzung der Aufarbeitung von Kriegsverbrechen der IG Farben in Auschwitz und die Todesmärsche nach Ahrensbök in Holstein. (ab Seite 55) 

1.Auschwitz-Fürstengrube ein „Erholungslager“? Ein anderer Blick auf die NS-Täter mit dem Bundesverdienstkreuz unter Rückgriff auf den Nürnberger Nachfolgeprozess gegen die IG Farben von 1947/48., Seite 56

2.Der Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963 bis 1965 als Beginn einer neuen Aufklärung über NS-Verbrechen und die Gefahr der „Entsorgung“ der NS-Vergangenheit nach 1989/90, Seite 63

3.Oral History-Projekte zu NS-Verbrechen in Bremen und Ahrensbök, Seite 65

IV. „Die ganze Sache hat nur etwa drei Tage gedauert“: Zur Erschießung von 40.000 jüdischen Frauen und Kindern Anfang Dezember 1941 in Riga. – Ein anderer Blick auf die Verbrechen der Wehrmacht im Spiegel der Nürnberger Nachfolgeprozesse gegen das Oberkommando der Wehrmacht (OKW), die Süd-Ost-Generäle und die SS-Einsatztruppen 1947/48 mit Hilfe einer Szenischen Dokumentation und der Ausstellung „A Letter to Debbie`“ von Yardena Donig Youner (Seite 68-86)

Teil I.1. „Eskalation mit Ansage“ nach „verhängnisvollen Fehlern“ ab 1990 (George F. Kennan)

Die Spannungen mit völkerrechtswidrigen Kriegsfolgen in der Ukraine haben seit dem 24. Februar 2022 eine lange Vorgeschichte, die nicht erst mit dem Ende des Kalten Krieges und der Osterweiterung der NATO ab 1997 begannen. Der US-amerikanische Historiker und Diplomat George F. Kennan (1904–2005) hatte als ehemaliger Architekt des Marshall-Plans und der Eindämmungspolitik gegenüber der UdSSR schon am 5. Februar 1994 in „The New York Times“ davor gewarnt, die Zusagen des Westens von 1990 gegenüber Gorbatschow zurückzunehmen: 

„Die Nato-Erweiterung wäre der folgenschwerste Fehler der amerikanischen Politik seit dem Ende des Kalten Krieges. Denn es ist damit zu rechnen, dass diese Entscheidung nationalistische, antiwestliche und militaristische Tendenzen in der russischen Öffentlichkeit schürt, einen neu- en Kalten Krieg in den Ost-West-Beziehungen auslöst …“ Auch Gorbatschow warnte am 5. Oktober 1997 in einer Sendung von Radio Bremen noch einmal entschieden vor den Folgen einer Osterweiterung der NATO. Nachdem Frankreich und Deutschland die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa infrage gestellt hatten, reagierte Russland schon 2008 mit einer Militärintervention in Georgien und machte so deutlich, dass Putin zu allem bereit war, um eine weitere Ostausdehnung der NATO zu verhindern. 

Mit dem territorialen Integrationsprozess Georgiens verletzte Russland schon damals internationales Recht. Die anschließende Verweigerung eines Dialogs mit Putin durch die EU-Mitgliedsstaaten verstärkte das transatlantische Mitläufertum mit den USA. Europa wurde zum „Zaungast bei den russisch- amerikanischen Verhandlungen über die Sicherheit des Alten Kontinents -und das vor dem Hintergrund eines drohenden Krieges in der Ukraine“. [David Teurtrie, Ukraine-Krise: Eskalation mit Ansage“, in Le Monde diplomatique, Deutsche Ausgabe, Februar 2022, S. 1 und 6]. 

Als der in Fürth vor 99 Jahren geborene Friedensnobelpreisträger und ehemalige US-Außenminister und nationaler Sicherheitsberater Henry A. Kissinger Ende Mai 2022 in Davos den verantwortlichen Wirtschaftslenkern der Welt in den Schweizer Alpen zur Rettung des Frieden vorschlug, die Ukraine müsse den Donbas an Russland abtreten, um einen Friedensschluss möglich zu machen, um so eine demütigende Niederlage Russlands zu verhindern, die Europas Stabilität auf lange Zeit gefährden würde, empörte er sein Publikum, das ihm ansonsten in der Regel zu Füßen liegt. Die Presse nahm seine Rede in Davos kaum zur Kenntnis. 

Aber die Süddeutsche Zeitung berichtete am 27. Mai 2022 über diesen außergewöhnlichen Auftritt im Meinungsteil [Stefan Kornelius, Henry Kissinger. 99-Jähriger mit einer Lektion der Realpolitik, S. 4]. Und Jakob Augstein nahm Kissingers Auftritt in Davos zum Anlass, um nach 100 Tagen Krieg zu fragen: „Was ist der Sinn dieses Krieges, oder: wie lange und zu welchem Zweck soll er noch gekämpft werden?“ [der Freitag, 09.06.2022, S. 1]. 

Friedrich Küppersbusch beklagte gar zuspitzend in der Juni- Debatte vom „Freitag“ die „fast komplette Diskriminierung jeder Form von Pazifismus“ und entdeckt erste „Ergebnisse des bewaffneten Menschenrechts“ in der Berichterstattung der deutschen Medien, vorgetragen von den Spitzen der Grünen als neue Kriegspartei [der Freitag, Nr. 26, 30.06.2022, S. 18/19]. 

Für Alexander Kluge erscheinen seit dem 5. März 2022 „die deutsche, ja weitgehend die europäische Öffentlichkeit – und allen voran, die Medien benebelt vom Krieg“. Und der lange schweigende unabhängige Vordenker Wolfgang Fritz Haug rief in seinem friedensbewegten Beitrag im „Argument“ alle Kriegsgegner auf, „gegen den Bellizismus zu mobilisieren und die Politiker daran zu messen, ob und wie sie sich als solche an der politischen Brechung der Kettenreaktionslogik des Krieges bewähren“ [Das Argument 338/2022, S. 343–368].

Aus deutscher Sicht zwingen die Kriegsereignisse auch zur Überprüfung der Beschlüsse der Bundesregierung und des Bundestages vom 26. und 27. Februar 2022 – u.a. mit der von Kanzler Scholz als „Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents“ begründeten Ankündigung und Verabschiedung einer astronomischen Aufrüstung von 100 Milliarden Euro. Mit der Zustimmung zu Waffenlieferungen wurde der Grundpfeiler der deutschen Vermittlungspolitik abgeräumt. 

Über die Vorgeschichte der Katastrophe zu reden, die zum Krieg führte, wurde fortan tabuisiert. Und nicht nur der sozialdemokratische Kanzler Scholz sollte daran erinnert werden, dass seine Partei schon mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten von 1914 und den Nachrüstungsbeschlüssen unter ihrer Kanzlerschaft von 1928 (Hermann Müller-Franken) und 1979 (Helmut Schmidt) schwere Kontroversen, Spaltungen und Kanzlerstürze erlebte.

Mit diesen Hinweisen soll keineswegs Russlands Verantwortung für den Krieg in der Ukraine reduziert werden. Mit der UN-Vollversammlung vom 2. März 2022 ist der russische Einmarsch in die Ukraine zu verurteilen. Russland ist zum sofortigen Ende seiner kriegerischen Aggression, zum Waffen- stillstand und zu Friedensverhandlungen aufzufordern. 

Aber es ist auch an die besondere Verantwortung Deutschlands seit 1990 zu erinnern. Denn die Zustimmung zur Einbeziehung des geeinten Deutschlands in die NATO war mit der Zusage verbunden, die NATO nicht gegen den Osten auszuweiten. Mit der Erhöhung dieses Bündnisses von damals 16 Ländern auf aktuell über 30 NATO-Partner vollzog der Westen einen Bruch der Vereinbarung. Das führte zur Stärkung der antirussischen Politik in der Ukraine und seit 2014 zur Bildung einer westlich orientierten Regierung in Kiew. Die neu-alte Rechte gewann dort an Einfluss.

Der „Holodomor“, Stalins lange unbeachteter Massenmord an Millionen ukrainischer Bauern seit 1929 verdrängte den Holocaust von Hitler ab 1941 mit seinen Bündnispartnern in der Ukraine. [Vgl. Robert Conquest, Ernte des Todes. Stalins Holocaust in der Ukraine 1929–1933, München 1988]. 2006 wurde der Holodomor per Gesetzverordnung zum Genozid am ukrainischen Volk erklärt und 2008 mit der Einrichtung des Nationalen Museums in Kiew zur Hauptsäule der nationalen ukrainischen Gedenkkultur weiterentwickelt. [Joseph Croitrou: Ukrainisches Erinnern. Holocaust und Holodomor im nationalen Gedächtnis, in FAZ, 11. Mai 2022, Nr. 109, S. 39]. 

Für die Anhänger des Hunger-Genozids war in Anlehnung an Ernst Nolte der „Archipel Gulag ursprünglicher als Auschwitz“ [Ernst Nolte, Streitpunkte, 1994]. Die NS-Propaganda zur Rechtfertigung des Überfalls auf die Sowjetunion vom 22. Juni 1941 als Kreuzzug gegen den jüdischen Bolschewismus fand als aggressiver Antikommunismus im Kalten Krieg nach 1945 seine Fortwirkung. Auch nach der Entspannungs- und Ostpolitik der 1970er Jahre lebten die alten Feindbilder fort. 

Und der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine reaktivierte ab März 2022 die alten Feindbilder selbst innerhalb der Linkspartei. Der Eskalation des Krieges in der Ukraine wird nach wie vor weitgehend tatenlos zugesehen und der Ukraine gelingt es, die NATO immer stärker als Kriegspartner, wenn nicht gar als Kriegspartei zu gewinnen. Als Peter Gauweiler, Rechtsanwalt und Bundestagsabgeordneter der CSU, schon 2014 die westliche Ukraine-Politik als „gefährliche Kraftmeierei“ beschrieb und warnend fragte: „Wollen wir ein neues 1914?“ wurde er postwendend vom westlich orientierten Historiker Heinrich August Winkler in einem Spiegel-Essay als „Russland-Versteher“ denunziert [Spiegel von 16/2014]. Dem ehemaligen Bürgermeister von Hamburg, Claus von Dohnanyi, erging es mit anderen Kritikern ähnlich.

Die Ukraine in dem völkerrechtswidrigen Krieg zu unterstützen, darf nicht davon ablenken, dass eine politische Lösung des Konfliktes gerade angesichts der nuklearen Bedrohung diplomatische Initiativen zur Lösung des Krieges fordert. Und das auch, weil die aktuelle Furcht und Entrüstung vor den Exzessen der russischen Armee schon ab 1990 und verstärkt ab Februar 2022 die Erinnerung in der Ukraine und in Deutschland an die NS Vernichtungspolitik und die Judenverfolgung in der Ukraine gänzlich zu verdrängen droht. [Vgl. u.a. G. Rossolinski-Liebe, Erinnerungslücke Holocaust, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Band 62, Nr. 3, S. 397–430). 

An dem Massenmord von 1.600.000 Juden auf dem heutigen Staatsgebiet der Ukraine hatten sich ab Sommer 1941 bis zum Frühling 1944 aber auch prominente ukrainische Antisemiten als Mitglieder der Organisation ukrainischer Nationalisten (OUN) und der freiwilligen Waffen-SS-Division „Galizien“ beteiligt. Seit längerem werden ihnen Denkmäler in der Ukraine gewidmet, selbst am international herausragenden Denkmal der Judenverfolgung Baby Yar in Kiew mit mehr als 30.000 ermordeten Menschen. 

Einer ihrer antisemitischen Führer, Stepan Bandera, trägt seit 2015 den Ehrentitel „Held der Ukraine“ [vgl. Andreas Kappeler, Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer, 2022, S. 180]. Und im April 2015 beschloss das Kiewer Parlament, die Organisationen von OUN und UPA als Helden des nationalen Befreiungskampfes anzuerkennen. Schon im Mai 2014 kam es zur Abspaltung von zwei „Volksrepubliken“ in der Ostukraine und zum Mord an 42 Menschen, die im Gewerkschaftshaus von Odessa bei lebendigem Leib verbrannten. Das 2015 abgeschlossene Minsker Abkommen zwischen Frankreich, Deutschland, Russland und der Ukraine trug bislang nicht zur Lösung dringender Probleme bei…

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Allgemein/Politik/Geschichte

Ukraine, den Dummschnacker:innen entgegentreten:

 Frieden jetzt! 

Russland „schafft Tatsachen“. Oberst Markus Reisner: Ukraine läuft für Offensive die Zeit davon

Markus Reisner

NtV

24.01.2023 08:44

Person der Woche: Kissinger

Naht der Kissinger-Moment für einen Friedensplan?

Von Wolfram Weimer

„…Für die Ukraine skizziert (Kissinger) einen Friedensplan.  Zunächst solle der Frontverlauf „eingefroren“ werden, möglichst entlang der Linie im Donbas, an der sich ukrainische Truppen und von Moskau gesteuerte Rebellen vor dem russischen Großangriff am 24. Februar vergangenen Jahres gegenüberstanden.

Nach dem Waffenstillstand könnten dann politische Verhandlungen über eine Friedenslösung beginnen. Während dieser Gespräche müsse der Westen seine Sanktionen gegen Russland und die Militärhilfe für die Ukraine fortsetzen, um den Druck auf Moskau aufrechtzuerhalten. Ein politischer Kompromiss könnte am Ende darin bestehen, dass Russland die Krim und den Donbas erhalte, im Gegenzug die Ukraine aber der NATO beitreten könne. Kissinger meint, eine NATO-Mitgliedschaft wäre eine „angemessene Folge“ der russischen Invasion.

Bereits im vergangenen Jahr hatte Kissinger einen ersten Versuch unternommen, einen Friedensplan (ohne die NATO-Option) zu lancieren. Dieser wurde allerdings von ukrainischer Seite heftig kritisiert. Das ist nun anders. Über den Vorschlag Kissingers wird in Kiew, Moskau und Washington ernsthaft nachgedacht. Aus Diplomatenkreisen ist zu hören, dass es hinter den Kulissen „Bewegung“ und „Sondierungen“ gebe. Der „Kissinger-Moment des Krieges“ nahe. Und das aus drei Gründen: 

Erstens ist der Krieg nach einem Jahr zu einem grausamen Stellungskrieg festgefahren. Der Frontverlauf bewegt sich kaum mehr, die Lage erinnert fatal an die Situation im Ersten Weltkrieg. Bei beiden Kriegsparteien schwindet daher die Hoffnung auf weitere militärische Erfolge. Die Bereitschaft, über einen Waffenstillstand zu verhandeln, wächst spürbar. Auf ukrainischer Seite hatte man noch im Herbst gehofft, die Gegenoffensiven womöglich bis an die russischen Landesgrenzen vorantreiben zu können. Nun sind eher die russischen Truppen wieder leicht in der Oberhand. Auf russischer Seite wiederum sind die Verluste derart hoch, dass größere Landgewinne nicht einmal von den patriotischsten Militärbloggern erhofft werden.

Zweitens vollzieht sich in Washington ein Meinungsumschwung. Der US-Generalstabschef Mark Milley – immerhin der ranghöchste Militär der USA – sagte schon vor Weihnachten verblüffend offen, dass nach der Befreiung von Cherson keine weiteren militärischen Erfolge der Ukraine zu erwarten seien und nun ein guter Zeitpunkt komme, auf politischem Wege eine Entscheidung zu suchen – durch Friedensverhandlungen. 

Milley gab seine pragmatische Einschätzung inzwischen sogar auf einer Pressekonferenz an der Seite des US-Verteidigungsministers Lloyd Austin zum Besten. Wörtlich sagte er: „Die Wahrscheinlichkeit eines militärischen Sieges der Ukraine, definiert als Rauswurf der Russen aus der gesamten Ukraine, einschließlich der von ihnen beanspruchten Krim, ist in absehbarer Zeit nicht hoch.“

Im Gegenteil fürchten die Amerikaner, dass Russland dank seiner strategischen Übermacht an Personal und Ressourcen wieder Momentum gewinne. Amerikanische Militärs stimmen daher heute in deutlich größerer Zahl dem Kissinger-Plan zu als noch im Herbst. Auch in der politischen Klasse Washingtons bröckelt die Bereitschaft, den Ukraine-Krieg auf Dauer so kostspielig weiter zu unterstützen. Auch hier dienen Kissingers Argumente als Meinungsbildner: Die westlichen Verbündeten hätten ihre wesentlichen Ziele schon erreicht, meint Kissinger. Der Aggressor Wladimir Putin sei aufgehalten und schwer geschwächt worden. Die Ukraine bleibe ein freies und nunmehr nach Westen abgerichtetes Land, die NATO wirke gestärkt. Russland müsse sogar die Erweiterung der NATO um Schweden und Finnland hinnehmen.

Drittens signalisiert auch Moskau Verhandlungsbereitschaft. Außenminister Sergej Lawrow sagte zum Wochenauftakt bei einem Besuch in Südafrika, dass Russland zu Friedensgesprächen schon lange bereit sei. Nur die USA und andere westliche Staaten würden immer behaupten, dass Russland es nicht ernst meine mit der Aushandlung eines Abkommens zur Beendigung des Krieges. „Es ist bekannt, dass wir schon zu Beginn der speziellen Militäroperation den Vorschlag der ukrainischen Seite unterstützt haben, zu verhandeln. Und Ende März hatten sich die beiden Delegationen auf das Prinzip geeinigt, diesen Konflikt beizulegen“, sagte Lawrow und behauptete: „Weiter wurde aber auch öffentlich, dass unsere amerikanischen, britischen und einige europäische Kollegen der Ukraine sagten, dass es zu früh ist, um zu verhandeln, und die Vereinbarung, die fast vereinbart wurde, wurde vom Kiewer Regime nie 

Westliche Geheimdienste berichten, dass es auf russischer Seite seit einigen Wochen heftige Machtkämpfe zwischen paramilitärischen Einheiten wie der Wagner-Gruppe und der klassischen Armee gebe. Putin sehe sich einem zusehends instabilen Sicherheitsszenario gegenüber und dürfte wachsendes Interesse an einem Waffenstillstand haben, zumal die innenpolitische Unterstützung zum Krieg wöchentlich schwächer werde. Vor allem die Wirtschaftselite Russlands wünsche sich einen baldigen Friedensschluss. Aus dieser Gemengelage folgert Kissinger: Es komme der Zeitpunkt, an dem mit Putin verhandelt werden müsse. Moskau solle man die Perspektive geben, wieder Teil des internationalen Systems zu werden. Kissinger fordert die Ukrainer auf, „den Heldenmut, den sie gezeigt haben, mit Weisheit zu überbieten“.