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Allgemein/Politik/Geschichte Lübeck

Erich Wallroth: Lübecks Eigenart als Gemeinwesen

 

 

Lübecks Eigenart als Gemeinwesen, 1926

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Allgemein/Politik/Geschichte

Wer Kiew hat, kann Russland zwingen“ (Paul Rohrbach, 1916)

Wer Kiew hat kann Russland zwingen

Jörg Wollenberg

„Wer Kiew hat, kann Russland zwingen“ (Paul Rohrbach, 1916)

Ein anderer Blick auf den Angriffskrieg von Russland gegen die Ukraine mit Erinnerungen an Spuren von verdrängten Ereignissen der deutschen und russisch- ukrainischen Geschichte im 20. Jahrhundert, ergänzt um Hinweise auf die Nürnberger Nachfolgeprozesse gegen die Eliten des NS-Systems als Grundlage für die Verurteilung von Kriegsverbrechen.

(Auszug)

Bibliografische Informationen Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Impressum-ISBN 978-3-86464-061-2© trafo Verlagsgruppe Dr. Wolfgang Weist, 2020 trafo Wissenschaftsverlag.Finkenstraße 8, 12621 Berline-Mail: info@trafoberlin.de. www.trafoberlin.deSatz & Layout: trafo Wissenschaftsverlag Umschlaggestaltung: trafo Wissenschaftsverlag.Alle Rechte vorbehalten

Inhaltsverzeichnis

Erinnerungen an Spuren von verdrängten Ereignissen der deutschen und russisch-ukrainischen Geschichte im 20. Jahrhundert und den Nürnberger Nachfolgeprozessen gegen die Eliten des NS-Systems als Grundlage für die Verurteilung von Kriegsverbrechen

  1. Vom „Russischen Brotfrieden“ (4.2.1918) und dem Frieden von Brest-Litowsk (1.3. 1918) bis zu den Folgen des deutschen Überfalls auf die UdSSR am 22. Juni 1941 und des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine im Februar 2023

1. Eskalation mit Ansage nach verhängnisvollen Fehlern ab 1990 (George F. Kennan) Seite 2

2. Charkow 2015 – friedlich und bunt, aber auch kontrastreich. Seite 5

3. Die Ukraine als „Mitteleuropäisches Reich deutscher Nation“ (Riezler 1915). Zu den von Deutschland im 20. Jahrhundert entfesselten Kriege um die Ukraine. Seite 11

4. Deutsche Handelshäuser und Niederlassungen ab 1941/42 erneut auf Raubzügen in der Ukraine und auf der Krim. Seite 17

II. Die Nürnberger Nachfolgeprozesse gegen die Eliten des NS-Systems als ein politisches Lehrstück zur Verurteilung von Kriegsverbrechen auch heute.

1. Vom Goten-Mythos der NS-Führungsspitze auf der Krim zur Aufarbeitung der Kriegsverbrechen in der Ukraine im Rahmen der „Nürnberger Gespräche“ von 1985 -1992. Seite 27

2. Zur Aufarbeitung der Kriegsverbrecherprozesse im Nürnberger Bildungszentrum, Seite 29

3. Resümee zu den zitierten Untaten der verantwortlichen Generäle. Seite 31 

4. Zum Versuch, weiße Flecken in der Forschung im Rahmen der Geschichtswerkstatt des kommunalen Bildungszentrums der Stadt Nürnberg (BZ) aufzuarbeiten. Seite 35

5.Der Dolch des Mörders unter der Robe des Juristen“ -Zum Projekt einer Edition der zwölf Nürnberger Nachfolgeprozesse durch das Bildungszen- trum der Stadt Nürnberg in Zusammenarbeit mit Raul , Robert M.W. Kemper, Manfred Messerschmidt u.a.

6.Von der Fata Morgana einer besseren deutschen Republik: Resümee zum Nürnberger Veranstaltungskomplex von 1985-1992. Seite 45

III. Fortsetzung der Aufarbeitung von Kriegsverbrechen der IG Farben in Auschwitz und die Todesmärsche nach Ahrensbök in Holstein. (ab Seite 55) 

1.Auschwitz-Fürstengrube ein „Erholungslager“? Ein anderer Blick auf die NS-Täter mit dem Bundesverdienstkreuz unter Rückgriff auf den Nürnberger Nachfolgeprozess gegen die IG Farben von 1947/48., Seite 56

2.Der Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963 bis 1965 als Beginn einer neuen Aufklärung über NS-Verbrechen und die Gefahr der „Entsorgung“ der NS-Vergangenheit nach 1989/90, Seite 63

3.Oral History-Projekte zu NS-Verbrechen in Bremen und Ahrensbök, Seite 65

IV. „Die ganze Sache hat nur etwa drei Tage gedauert“: Zur Erschießung von 40.000 jüdischen Frauen und Kindern Anfang Dezember 1941 in Riga. – Ein anderer Blick auf die Verbrechen der Wehrmacht im Spiegel der Nürnberger Nachfolgeprozesse gegen das Oberkommando der Wehrmacht (OKW), die Süd-Ost-Generäle und die SS-Einsatztruppen 1947/48 mit Hilfe einer Szenischen Dokumentation und der Ausstellung „A Letter to Debbie`“ von Yardena Donig Youner (Seite 68-86)

Teil I.1. „Eskalation mit Ansage“ nach „verhängnisvollen Fehlern“ ab 1990 (George F. Kennan)

Die Spannungen mit völkerrechtswidrigen Kriegsfolgen in der Ukraine haben seit dem 24. Februar 2022 eine lange Vorgeschichte, die nicht erst mit dem Ende des Kalten Krieges und der Osterweiterung der NATO ab 1997 begannen. Der US-amerikanische Historiker und Diplomat George F. Kennan (1904–2005) hatte als ehemaliger Architekt des Marshall-Plans und der Eindämmungspolitik gegenüber der UdSSR schon am 5. Februar 1994 in „The New York Times“ davor gewarnt, die Zusagen des Westens von 1990 gegenüber Gorbatschow zurückzunehmen: 

„Die Nato-Erweiterung wäre der folgenschwerste Fehler der amerikanischen Politik seit dem Ende des Kalten Krieges. Denn es ist damit zu rechnen, dass diese Entscheidung nationalistische, antiwestliche und militaristische Tendenzen in der russischen Öffentlichkeit schürt, einen neu- en Kalten Krieg in den Ost-West-Beziehungen auslöst …“ Auch Gorbatschow warnte am 5. Oktober 1997 in einer Sendung von Radio Bremen noch einmal entschieden vor den Folgen einer Osterweiterung der NATO. Nachdem Frankreich und Deutschland die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa infrage gestellt hatten, reagierte Russland schon 2008 mit einer Militärintervention in Georgien und machte so deutlich, dass Putin zu allem bereit war, um eine weitere Ostausdehnung der NATO zu verhindern. 

Mit dem territorialen Integrationsprozess Georgiens verletzte Russland schon damals internationales Recht. Die anschließende Verweigerung eines Dialogs mit Putin durch die EU-Mitgliedsstaaten verstärkte das transatlantische Mitläufertum mit den USA. Europa wurde zum „Zaungast bei den russisch- amerikanischen Verhandlungen über die Sicherheit des Alten Kontinents -und das vor dem Hintergrund eines drohenden Krieges in der Ukraine“. [David Teurtrie, Ukraine-Krise: Eskalation mit Ansage“, in Le Monde diplomatique, Deutsche Ausgabe, Februar 2022, S. 1 und 6]. 

Als der in Fürth vor 99 Jahren geborene Friedensnobelpreisträger und ehemalige US-Außenminister und nationaler Sicherheitsberater Henry A. Kissinger Ende Mai 2022 in Davos den verantwortlichen Wirtschaftslenkern der Welt in den Schweizer Alpen zur Rettung des Frieden vorschlug, die Ukraine müsse den Donbas an Russland abtreten, um einen Friedensschluss möglich zu machen, um so eine demütigende Niederlage Russlands zu verhindern, die Europas Stabilität auf lange Zeit gefährden würde, empörte er sein Publikum, das ihm ansonsten in der Regel zu Füßen liegt. Die Presse nahm seine Rede in Davos kaum zur Kenntnis. 

Aber die Süddeutsche Zeitung berichtete am 27. Mai 2022 über diesen außergewöhnlichen Auftritt im Meinungsteil [Stefan Kornelius, Henry Kissinger. 99-Jähriger mit einer Lektion der Realpolitik, S. 4]. Und Jakob Augstein nahm Kissingers Auftritt in Davos zum Anlass, um nach 100 Tagen Krieg zu fragen: „Was ist der Sinn dieses Krieges, oder: wie lange und zu welchem Zweck soll er noch gekämpft werden?“ [der Freitag, 09.06.2022, S. 1]. 

Friedrich Küppersbusch beklagte gar zuspitzend in der Juni- Debatte vom „Freitag“ die „fast komplette Diskriminierung jeder Form von Pazifismus“ und entdeckt erste „Ergebnisse des bewaffneten Menschenrechts“ in der Berichterstattung der deutschen Medien, vorgetragen von den Spitzen der Grünen als neue Kriegspartei [der Freitag, Nr. 26, 30.06.2022, S. 18/19]. 

Für Alexander Kluge erscheinen seit dem 5. März 2022 „die deutsche, ja weitgehend die europäische Öffentlichkeit – und allen voran, die Medien benebelt vom Krieg“. Und der lange schweigende unabhängige Vordenker Wolfgang Fritz Haug rief in seinem friedensbewegten Beitrag im „Argument“ alle Kriegsgegner auf, „gegen den Bellizismus zu mobilisieren und die Politiker daran zu messen, ob und wie sie sich als solche an der politischen Brechung der Kettenreaktionslogik des Krieges bewähren“ [Das Argument 338/2022, S. 343–368].

Aus deutscher Sicht zwingen die Kriegsereignisse auch zur Überprüfung der Beschlüsse der Bundesregierung und des Bundestages vom 26. und 27. Februar 2022 – u.a. mit der von Kanzler Scholz als „Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents“ begründeten Ankündigung und Verabschiedung einer astronomischen Aufrüstung von 100 Milliarden Euro. Mit der Zustimmung zu Waffenlieferungen wurde der Grundpfeiler der deutschen Vermittlungspolitik abgeräumt. 

Über die Vorgeschichte der Katastrophe zu reden, die zum Krieg führte, wurde fortan tabuisiert. Und nicht nur der sozialdemokratische Kanzler Scholz sollte daran erinnert werden, dass seine Partei schon mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten von 1914 und den Nachrüstungsbeschlüssen unter ihrer Kanzlerschaft von 1928 (Hermann Müller-Franken) und 1979 (Helmut Schmidt) schwere Kontroversen, Spaltungen und Kanzlerstürze erlebte.

Mit diesen Hinweisen soll keineswegs Russlands Verantwortung für den Krieg in der Ukraine reduziert werden. Mit der UN-Vollversammlung vom 2. März 2022 ist der russische Einmarsch in die Ukraine zu verurteilen. Russland ist zum sofortigen Ende seiner kriegerischen Aggression, zum Waffen- stillstand und zu Friedensverhandlungen aufzufordern. 

Aber es ist auch an die besondere Verantwortung Deutschlands seit 1990 zu erinnern. Denn die Zustimmung zur Einbeziehung des geeinten Deutschlands in die NATO war mit der Zusage verbunden, die NATO nicht gegen den Osten auszuweiten. Mit der Erhöhung dieses Bündnisses von damals 16 Ländern auf aktuell über 30 NATO-Partner vollzog der Westen einen Bruch der Vereinbarung. Das führte zur Stärkung der antirussischen Politik in der Ukraine und seit 2014 zur Bildung einer westlich orientierten Regierung in Kiew. Die neu-alte Rechte gewann dort an Einfluss.

Der „Holodomor“, Stalins lange unbeachteter Massenmord an Millionen ukrainischer Bauern seit 1929 verdrängte den Holocaust von Hitler ab 1941 mit seinen Bündnispartnern in der Ukraine. [Vgl. Robert Conquest, Ernte des Todes. Stalins Holocaust in der Ukraine 1929–1933, München 1988]. 2006 wurde der Holodomor per Gesetzverordnung zum Genozid am ukrainischen Volk erklärt und 2008 mit der Einrichtung des Nationalen Museums in Kiew zur Hauptsäule der nationalen ukrainischen Gedenkkultur weiterentwickelt. [Joseph Croitrou: Ukrainisches Erinnern. Holocaust und Holodomor im nationalen Gedächtnis, in FAZ, 11. Mai 2022, Nr. 109, S. 39]. 

Für die Anhänger des Hunger-Genozids war in Anlehnung an Ernst Nolte der „Archipel Gulag ursprünglicher als Auschwitz“ [Ernst Nolte, Streitpunkte, 1994]. Die NS-Propaganda zur Rechtfertigung des Überfalls auf die Sowjetunion vom 22. Juni 1941 als Kreuzzug gegen den jüdischen Bolschewismus fand als aggressiver Antikommunismus im Kalten Krieg nach 1945 seine Fortwirkung. Auch nach der Entspannungs- und Ostpolitik der 1970er Jahre lebten die alten Feindbilder fort. 

Und der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine reaktivierte ab März 2022 die alten Feindbilder selbst innerhalb der Linkspartei. Der Eskalation des Krieges in der Ukraine wird nach wie vor weitgehend tatenlos zugesehen und der Ukraine gelingt es, die NATO immer stärker als Kriegspartner, wenn nicht gar als Kriegspartei zu gewinnen. Als Peter Gauweiler, Rechtsanwalt und Bundestagsabgeordneter der CSU, schon 2014 die westliche Ukraine-Politik als „gefährliche Kraftmeierei“ beschrieb und warnend fragte: „Wollen wir ein neues 1914?“ wurde er postwendend vom westlich orientierten Historiker Heinrich August Winkler in einem Spiegel-Essay als „Russland-Versteher“ denunziert [Spiegel von 16/2014]. Dem ehemaligen Bürgermeister von Hamburg, Claus von Dohnanyi, erging es mit anderen Kritikern ähnlich.

Die Ukraine in dem völkerrechtswidrigen Krieg zu unterstützen, darf nicht davon ablenken, dass eine politische Lösung des Konfliktes gerade angesichts der nuklearen Bedrohung diplomatische Initiativen zur Lösung des Krieges fordert. Und das auch, weil die aktuelle Furcht und Entrüstung vor den Exzessen der russischen Armee schon ab 1990 und verstärkt ab Februar 2022 die Erinnerung in der Ukraine und in Deutschland an die NS Vernichtungspolitik und die Judenverfolgung in der Ukraine gänzlich zu verdrängen droht. [Vgl. u.a. G. Rossolinski-Liebe, Erinnerungslücke Holocaust, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Band 62, Nr. 3, S. 397–430). 

An dem Massenmord von 1.600.000 Juden auf dem heutigen Staatsgebiet der Ukraine hatten sich ab Sommer 1941 bis zum Frühling 1944 aber auch prominente ukrainische Antisemiten als Mitglieder der Organisation ukrainischer Nationalisten (OUN) und der freiwilligen Waffen-SS-Division „Galizien“ beteiligt. Seit längerem werden ihnen Denkmäler in der Ukraine gewidmet, selbst am international herausragenden Denkmal der Judenverfolgung Baby Yar in Kiew mit mehr als 30.000 ermordeten Menschen. 

Einer ihrer antisemitischen Führer, Stepan Bandera, trägt seit 2015 den Ehrentitel „Held der Ukraine“ [vgl. Andreas Kappeler, Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer, 2022, S. 180]. Und im April 2015 beschloss das Kiewer Parlament, die Organisationen von OUN und UPA als Helden des nationalen Befreiungskampfes anzuerkennen. Schon im Mai 2014 kam es zur Abspaltung von zwei „Volksrepubliken“ in der Ostukraine und zum Mord an 42 Menschen, die im Gewerkschaftshaus von Odessa bei lebendigem Leib verbrannten. Das 2015 abgeschlossene Minsker Abkommen zwischen Frankreich, Deutschland, Russland und der Ukraine trug bislang nicht zur Lösung dringender Probleme bei…

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Allgemein/Politik/Geschichte

Ukraine, den Dummschnacker:innen entgegentreten:

 Frieden jetzt! 

Russland „schafft Tatsachen“. Oberst Markus Reisner: Ukraine läuft für Offensive die Zeit davon

Markus Reisner

NtV

24.01.2023 08:44

Person der Woche: Kissinger

Naht der Kissinger-Moment für einen Friedensplan?

Von Wolfram Weimer

„…Für die Ukraine skizziert (Kissinger) einen Friedensplan.  Zunächst solle der Frontverlauf „eingefroren“ werden, möglichst entlang der Linie im Donbas, an der sich ukrainische Truppen und von Moskau gesteuerte Rebellen vor dem russischen Großangriff am 24. Februar vergangenen Jahres gegenüberstanden.

Nach dem Waffenstillstand könnten dann politische Verhandlungen über eine Friedenslösung beginnen. Während dieser Gespräche müsse der Westen seine Sanktionen gegen Russland und die Militärhilfe für die Ukraine fortsetzen, um den Druck auf Moskau aufrechtzuerhalten. Ein politischer Kompromiss könnte am Ende darin bestehen, dass Russland die Krim und den Donbas erhalte, im Gegenzug die Ukraine aber der NATO beitreten könne. Kissinger meint, eine NATO-Mitgliedschaft wäre eine „angemessene Folge“ der russischen Invasion.

Bereits im vergangenen Jahr hatte Kissinger einen ersten Versuch unternommen, einen Friedensplan (ohne die NATO-Option) zu lancieren. Dieser wurde allerdings von ukrainischer Seite heftig kritisiert. Das ist nun anders. Über den Vorschlag Kissingers wird in Kiew, Moskau und Washington ernsthaft nachgedacht. Aus Diplomatenkreisen ist zu hören, dass es hinter den Kulissen „Bewegung“ und „Sondierungen“ gebe. Der „Kissinger-Moment des Krieges“ nahe. Und das aus drei Gründen: 

Erstens ist der Krieg nach einem Jahr zu einem grausamen Stellungskrieg festgefahren. Der Frontverlauf bewegt sich kaum mehr, die Lage erinnert fatal an die Situation im Ersten Weltkrieg. Bei beiden Kriegsparteien schwindet daher die Hoffnung auf weitere militärische Erfolge. Die Bereitschaft, über einen Waffenstillstand zu verhandeln, wächst spürbar. Auf ukrainischer Seite hatte man noch im Herbst gehofft, die Gegenoffensiven womöglich bis an die russischen Landesgrenzen vorantreiben zu können. Nun sind eher die russischen Truppen wieder leicht in der Oberhand. Auf russischer Seite wiederum sind die Verluste derart hoch, dass größere Landgewinne nicht einmal von den patriotischsten Militärbloggern erhofft werden.

Zweitens vollzieht sich in Washington ein Meinungsumschwung. Der US-Generalstabschef Mark Milley – immerhin der ranghöchste Militär der USA – sagte schon vor Weihnachten verblüffend offen, dass nach der Befreiung von Cherson keine weiteren militärischen Erfolge der Ukraine zu erwarten seien und nun ein guter Zeitpunkt komme, auf politischem Wege eine Entscheidung zu suchen – durch Friedensverhandlungen. 

Milley gab seine pragmatische Einschätzung inzwischen sogar auf einer Pressekonferenz an der Seite des US-Verteidigungsministers Lloyd Austin zum Besten. Wörtlich sagte er: „Die Wahrscheinlichkeit eines militärischen Sieges der Ukraine, definiert als Rauswurf der Russen aus der gesamten Ukraine, einschließlich der von ihnen beanspruchten Krim, ist in absehbarer Zeit nicht hoch.“

Im Gegenteil fürchten die Amerikaner, dass Russland dank seiner strategischen Übermacht an Personal und Ressourcen wieder Momentum gewinne. Amerikanische Militärs stimmen daher heute in deutlich größerer Zahl dem Kissinger-Plan zu als noch im Herbst. Auch in der politischen Klasse Washingtons bröckelt die Bereitschaft, den Ukraine-Krieg auf Dauer so kostspielig weiter zu unterstützen. Auch hier dienen Kissingers Argumente als Meinungsbildner: Die westlichen Verbündeten hätten ihre wesentlichen Ziele schon erreicht, meint Kissinger. Der Aggressor Wladimir Putin sei aufgehalten und schwer geschwächt worden. Die Ukraine bleibe ein freies und nunmehr nach Westen abgerichtetes Land, die NATO wirke gestärkt. Russland müsse sogar die Erweiterung der NATO um Schweden und Finnland hinnehmen.

Drittens signalisiert auch Moskau Verhandlungsbereitschaft. Außenminister Sergej Lawrow sagte zum Wochenauftakt bei einem Besuch in Südafrika, dass Russland zu Friedensgesprächen schon lange bereit sei. Nur die USA und andere westliche Staaten würden immer behaupten, dass Russland es nicht ernst meine mit der Aushandlung eines Abkommens zur Beendigung des Krieges. „Es ist bekannt, dass wir schon zu Beginn der speziellen Militäroperation den Vorschlag der ukrainischen Seite unterstützt haben, zu verhandeln. Und Ende März hatten sich die beiden Delegationen auf das Prinzip geeinigt, diesen Konflikt beizulegen“, sagte Lawrow und behauptete: „Weiter wurde aber auch öffentlich, dass unsere amerikanischen, britischen und einige europäische Kollegen der Ukraine sagten, dass es zu früh ist, um zu verhandeln, und die Vereinbarung, die fast vereinbart wurde, wurde vom Kiewer Regime nie 

Westliche Geheimdienste berichten, dass es auf russischer Seite seit einigen Wochen heftige Machtkämpfe zwischen paramilitärischen Einheiten wie der Wagner-Gruppe und der klassischen Armee gebe. Putin sehe sich einem zusehends instabilen Sicherheitsszenario gegenüber und dürfte wachsendes Interesse an einem Waffenstillstand haben, zumal die innenpolitische Unterstützung zum Krieg wöchentlich schwächer werde. Vor allem die Wirtschaftselite Russlands wünsche sich einen baldigen Friedensschluss. Aus dieser Gemengelage folgert Kissinger: Es komme der Zeitpunkt, an dem mit Putin verhandelt werden müsse. Moskau solle man die Perspektive geben, wieder Teil des internationalen Systems zu werden. Kissinger fordert die Ukrainer auf, „den Heldenmut, den sie gezeigt haben, mit Weisheit zu überbieten“.

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Allgemein/Politik/Geschichte

Warum das Moralgerede der gegenwärtigen Politikelite Vertrauen zerstört und widerwärtig ist

Moral Woman/Moral Man

Keine Auslandsreise oder kein Inlandsauftritt unserer Außenministerin oder unseres Wirtschaftsministers bleibt ohne Betonung der hohen moralischen Selbsteinordnung ihres Handelns oder der Aufforderung zu moralischem Handeln : „Ich bin hier und tue dies und das, weil ich die europäische Wertegemeinschaft, die Gerechtigkeit, den Weltfrieden usw. verteidigen, fördern, vertiefen……und so weiter will…Sie können sicher sein, dass ich, wir, unser Land …. Sie bei diesem Kampf, diesem Vorgehen, dieser Haltung in Bezug auf die Menschenrechte usw. …voll umfänglich unterstützt.“

Derartige Rede ist zerstörerisch und sie erniedrigt. Sie ist arrogant, weil sie vom hohen Ross gesprochen und heuchlerisch, weil sie durch und durch verlogen ist. Denn die Politik unseres Landes ist an keiner Stelle – an Moralwerten gemessen – wertebestimmt. Denn sie ist nicht universell. Werte sind aber universell oder gar nicht. Jedes Land behandeln wir unterschiedlich, je nach Interesse und politischem Kalkül . Äthiopien anders als die USA, Ouagadougou anders als Paris. 

Arm anders als Reich: Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an, und der Arme sagte bleich: „Wär ich nicht arm wärst du nicht reich“(Bert Brecht 1934). Von einer gleichen Augenhöhe des Autowäschers und der Vorstandsvorsitzenden will ich gar nicht reden. Nicht Moral, sondern Machtverhältnisse beherrschen die Politik.  Das weiß jeder.

Warum tun sie es dann?  Moral wird zu einer reinen Sache der Imagepflege für die Fans zuhause auch vom Ausland her. Sonst nichts. Sie wissen, Moral hat in der Öffentlichkeit nach wie vor den höchsten Werbewert. Es ist eine seit alters funktionierende Werbebotschaft:  „Ich bin das Licht und erlöse dich von dem Übel“. Diese Botschaft beeindruckt inländische Fans und im Ausland gleicherweise. 

Das Moralgerede verdeckt Widersprüche und die eigenen Interessen. Es gibt Aufmerksamkeit und vermittelt vermeintlich Nähe. Werte steuern den Alltag, das Blabla verfängt deshalb und gelingt ohne viel zu wissen (das Wissen wäre aber gerade dafür erforderlich). Es ist ein Reden „über“ und kein Reden „mit“. Es ist nichts, als eine verlogene Botschaft. „Mit der Moral auf ihrer Seite erklären sie noch iede Patrone und jeden Panzer, demnächst wohl auch die Lieferung des deutschen Kampfpanzers Leopard 2 zur notwendigen Unterstützung“ schreibt Barbara Junge in der taz (12.1.2023 S.1). 

Widerlich.

P.S. Man mag über Waffenlieferungen streiten, mit Moral hat das jedenfalls nichts zu tun

Michael Bouteiller, 15.01.2023

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Allgemein/Politik/Geschichte

Der andere Blick auf den Krieg: Ein Schnäppchen namens Ukraine

Lübeck 1942 / heute

Würde ich in einer der Planungsgruppen für geostrategische Planung sitzen, die die überschaubaren nächsten 10 Jahre konstruieren, wäre die Zukunftsaufgabe für die Ukraine aus der nüchternen Sicht des westlichen Kapitals einfach zu beschreiben. Es geht dabei nicht um Werte und Moral.

Der Wiederaufbau des zerstörten Landes wird ein gewaltiges und profitables Billionen-Kapitalgewinnspiel des Westens. Es geht also um wirtschaftliche Interessen. Sonst nichts. Geostrategisch sicherte nur ein erfolgreicher Krieg die Vormachtstellung des westlichen Kapitals in den nächsten 25-30 Jahren. Die Zeitspanne 2025-2050. Es gibt im Westen nur Gewinner. Die Verzögerung der Lieferung schwerer Waffen ist aus dieser Perspektive ein schwerer und teurer Fehler. Sie widerspricht offensichtlich dem geostrategischen Interesse des Westens.

Als Beispiel für den Wiederaufbau mögen entweder die BRD 1945 oder der Wiederaufbau der DDR herhalten.

1. Ausgangslage: In zwei bis fünf Jahren wird die Infrastruktur und ein großer Teil der Städte in der Ukraine überwiegend zerstört sein. Die sofortige militärische Ausrüstung durch den Westens mit schweren Waffen und Flugabwehrsystemen verhindert die völlige Zerstörung durch die Russische Föderation.

2. Der überwiegende Teil der Bevölkerung von ursprünglich rd. 42 Millionen wird das Kriegsende überleben. Ca 100.000 – 200.000 Menschen sind voraussichtlich Kriegsopfer. Die Ausbildungsqualität der ukrainischen Bevölkerung bleibt auf hohem westlichem Niveau. Die Geflüchteten (5-6 Millionen) kehren zurück. 

3. Ein Vergleich mit dem Nachkriegszustand in der BRD ergibt Folgendes: Entscheidend für den Wiederaufbau waren 1945

a) der gute Ausbildungsstand der Bevölkerung, 

b) die vorhandenen intakten Organisationsketten der Verbände, Vereine, Parteien, Firmen.

Der rasche Wiederaufbau der BRD („Wirtschaftswunder“ 1948-1973) gelang wegen der während der Nazizeit und den zwei Weltkriegen hochkonzentrierten und nach Kriegsende noch intakten staatlichen und gesellschaftlichen Struktur. Der Zerstörungsgrad der räumlichen Infrastruktur spielte angesichts des Aufbauprojektes und der damit verbundenen Erwartung einer Modernisierung des gesamten Landes und des damit zu erreichenden internationalen Wettbewerbsvorteils eine untergeordnete Rolle. Die Verwertungsbedingungen des Kapitals wurden langfristig verbessert. Es geht in der Ukraine nicht allein um Zement und Stahl, sondern um das Katapultieren des Landes in das Industriezeitalter 4.0.

4. Die Finanzierung: Die Finanzierung ist angesichts der Billionen freien Kapitals, das nach rentablen (langfristig gesicherten) Verwertungszwecken sucht, bei entsprechendem Angebot kein Problem. Die Hebelwirkung des zu beteiligenden privaten Kapitals bei der Bildung eines internationalen „Ukraine-Reconstruction-Fond“ ist ein erprobtes Finanzierungsinstrument. Es besteht große Nachfrage nach einer langfristigen sicheren Anlagenverzinsung von rd. 3% -4%.

5. Die Organisation des Aufbaus wird sichergestellt von bereitstehenden leistungsfähigen internationalen Bauträgern in einer International anerkannten Rechtsform (GmbH, AG o.ä.) Förderlich wäre die Zusammenarbeit mit örtlichen Kräften.

6.  Die Interessen der Kapitalgeber: Erschließung eines Landes mit enormem Zukunftspotential: 604.000 km², bedeutende Bodenschätze, Landwirtschaftliche Nutzflächen (Kornkammer), dem Zugang zum Schwarzen Meer und ein gut ausgebildetes Humankapital. Oben drauf der politische Gewinn für die Pax Americana:

„[…] weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Rußlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Rußland kein eurasisches Reich mehr. […] Wenn Moskau allerdings die Herrschaft über die Ukraine mit ihren 52 Millionen Menschen, bedeutenden Bodenschätzen und dem Zugang zum Schwarzen Meer wiedergewinnen sollte, erlangte Rußland automatisch die Mittel, ein mächtiges Europa und Asien umspannendes Reich zu werden. Verlöre die Ukraine ihre Unabhängigkeit, so hätte das unmittelbare Folgen für Mitteleuropa und würde Polen zu einem geopolitischen Angelpunkt an der Ostgrenze eines vereinten Europas werden lassen.“ Zbigniew Brzezinski: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft.“ Zitiert nach  https://de.m.wikipedia.org/wiki/Ukraine, abgerufen 12.1.2023)

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Allgemein/Politik/Geschichte EU

Stoppt Selenskyjs Förderung des ukrainischen Faschismus

https://youtu.be/O9F4I0ZbqAg
Nikolai Platoschkin

Stepan Bandera (*01.01.1909 in Staryj Uhrynim, Galizien – †15.10.1959 in München) war ein ukrainisch-nationalistischer Politiker und Anführer der OUN (Organisation Ukrainischer Nationalisten). Bandera ist eine sehr umstrittene historische Figur, die bis heute polarisiert. In Polen, Russland und Israel gilt er als Nazi-Kollaborateur und Kriegsverbrecher. In der Ukraine hingegen, vor allem in der Westukraine, wird er als Unabhängigkeits- und Freiheitskämpfer gefeiert und zum Nationalhelden erhoben.

Das Denkmal wurde 2007 fertig gestellt und befindet sich auf dem Kropyvnyts’koho Platz. Die Statue ist insgesamt sieben Meter hoch und zeigt Stepan Bandera in voller Größe. Die Figur ist vier Meter groß und steht auf einem drei Meter hohen Sockel. Hinter der Statue rangt der sogenannte Triumphbogen 30 Meter in die Höhe. Dieser steht auf vier Säulen. Jede Säule symbolisiert eine Epoche der ukrainischen Geschichte. Die erste Säule steht für die Fürstenzeit, die Zweite für die Zeit der Kosaken, die dritte für die Periode der ukrainischen Volksrepublik und der westukrainischen Volksrepublik, und schließlich die vierte für die Moderne und die unabhängige Ukraine.

Ab dem Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine und bis in das Jahr 2014 wurden 46 Denkmäler und 14 Gedenktafeln zu Ehren von Stepan Bandera errichtet. Es entstanden nach und nach immer mehr Denkmäler, wobei gewisse Hochphasen erkennbar sind. Die erste Hochphase war kurz nach der Unabhängigkeitserklärung, Anfang der 1990er Jahre, die zweite im Zeitraum von 2005-2010, als von staatlicher Seite die OUN/UPA als Unabhängigkeitskämpfer anerkannt worden waren und schließlich 2011 und 2012, was eventuell als Protest gegen das prorussische Janukowitsch-Regime betrachtet werden kann.  

https://www.uni-augsburg.de/de/fakultaet/philhist/professuren/kunst-und-kulturgeschichte/europaische-ethnologie-volkskunde/exkursionen/ukraine-lemberg-czernowitz/stepan-bandera-denkmal/


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Allgemein/Politik/Geschichte

Sind Kriege künftig unausweichlich? 

Syrien

 Russlands Angriff auf die Ukraine zeigt: Wenn wir Frieden als selbstverständlich ansehen, werden wir ihn verlieren.

Von Yuval Noah Harari

Spiegel, Nr.2 7.1.2 023, S.74

Vor einigen Jahren schrieb ich in mei­nem Buch »21 Lektionen für das 21. Jahrhundert« auch über die Kriege der Zukunft. Ich vertrat die Ansicht, dass die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts die friedlichste Ära in der Geschichte der Menschheit gewesen seien und dass das Führen von Kriegen wirtschaftlich und geopolitisch sinnlos geworden sei. Diese Tatsachen böten jedoch keine Garantie für ewigen Frieden, schließlich sei die menschliche Dummheit eine der wichtigs­ ten Kräfte in der Geschichte. Ich schrieb: »Selbst rationale Führer begehen am Ende oft sehr große Dummheiten.«

Gleichwohl war ich schockiert, als Wla­dimir Putin im Februar 2022 den Versuch startete, die Ukraine zu erobern. Die zu erwartenden Folgen, für Russland selbst wie für die gesamte Menschheit, waren so zerstörerisch, dass es selbst für einen kaltherzigen Größenwahnsinnigen ein unwahrscheinlicher Schritt zu sein schien. Dennoch entschied sich der Autokrat, die friedlichste Ära der Geschichte zu beenden und die Menschheit in eine neue Ära des Krieges zu stürzen, die schlimmer sein könnte als alles, was wir bisher erlebt ha­ ben. Sie könnte sogar das Ende unserer Spezies bedeuten.

Dies ist eine Tragödie, zumal die vergan­genen Jahrzehnte gezeigt haben, dass Krieg keine unvermeidliche Naturgewalt ist. Er basiert auf menschlichen Entscheidungen. Seit 1945 gab es keinen direkten Krieg zwi­schen Großmächten mehr und auch keinen Fall, in dem ein international anerkannter Staat durch eine ausländische Eroberung ausgelöscht wurde. Relativ häufig kam es zu begrenzten regionalen und lokalen Konflik­ te; ich lebe in Israel, daher kann ich das gut beurteilen. Doch ungeachtet der israelischen Besetzung des Westjordanlands haben Län­der selten versucht, ihre Grenzen einseitig mit Gewalt zu verschieben.

Das ist der Grund, warum die israelische Besatzung so viel Aufmerksamkeit und Kritik auf sich zieht. Was in Tausenden Jahren imperialer Geschichte normal war, sorgt heutzutage für Empörung. Selbst wenn man Bürgerkriege, Aufstände und Terrorismus berücksichtigt, sind in den letzten Jahrzehnten durch Kriege weitaus weniger Menschen ums Leben gekommen als durch Selbstmord, Verkehrsunfälle oder fettleibigkeitsbedingte Krankheiten.

Doch der Frieden ist nicht nur eine Frage der Zahlen. Die vielleicht wichtigste Ver­änderung der vergangenen Jahrzehnte war psychologischer Natur. Jahrtausendelang bedeutete Frieden »die vorübergehende Abwesenheit von Krieg«. Beispielsweise lagen zwischen den drei Punischen Kriegen, die Rom und Karthago führten, Jahrzehnte des Friedens. Aber alle Römer und Kartha­ger wussten, dass dieser Punische Friede jeden Moment zerbrechen konnte. Politik, Wirtschaft, Kultur waren in ständiger Er­wartung eines Krieges.

Im späten 20. und im frühen 21. Jahr­hundert änderte sich die Bedeutung des Wortes Frieden. Aus dem alten Frieden als »die vorübergehende Abwesenheit von Krieg« wurde der neue Frieden als »die Unwahrscheinlichkeit von Krieg«. In vielen, wenn auch nicht allen Regionen der Welt hatten Staaten keine Angst mehr davor, ihr Nachbar könnte einmarschieren und sie auslöschen.

Woran können wir erkennen, dass sich die Länder über diese Dinge keine Gedan­ken gemacht haben? Indem wir uns ihre Staatshaushalte ansehen. Bis vor Kurzem war das Militär der erwartbar größte Posten im Haushalt eines jeden Empire, Sultanats, Königreichs und einer jeden Republik. Die Regierungen gaben nur wenig für das Ge­sundheits­- und Bildungswesen aus, da die meisten Mittel in die Bezahlung von Solda­ten, den Bau von Mauern und Kriegsschif­fen flossen. 

Das Römische Reich gab etwa 50 bis 75 Prozent seines Haushalts für das Militär aus, im Reich der Song­-Dynastie (960 bis 1279) waren es etwa 80 Prozent und im Osmanischen Reich des späten 17. Jahrhunderts rund 60 Prozent. Von 1685 bis 1813 fiel der Anteil des Militärs an den britischen Staatsausgaben nie unter 55 Pro­ zent und lag im Durchschnitt bei 75 Prozent.

Während der großen Konflikte des 20. Jahrhunderts verschuldeten sich Demo­kratien und totalitäre Regime gleichermaßen, um ihr Militär zu finanzieren. Wenn man befürchten muss, dass die Nachbarn jeden Moment einmarschieren, Städte plündern, Leute versklaven und das Land annektieren könnten, ist es auch das Vernünftigste, was man tun kann.

Russische Soldaten plünderten die ukrai­nische Stadt Cherson und schickten Last­wagen voller Diebesgut, das sie aus ukraini­ schen Häusern gestohlen hatten, nach Russ­land. Das wird Russland nicht reich machen. Und es wird die Russen nicht für die enor­men Kosten des Krieges entschädigen. Aber wie Putins Einmarsch in die Ukraine zeigt, reichten technologische und wirtschaftliche Veränderungen allein doch nicht aus, um den neuen Frieden zu schaffen. Manche Staatsoberhäupter sind so machthungrig und unverantwortlich, dass sie einen Krieg beginnen, selbst wenn er für ihr Land wirt­ schaftlich ruinös ist und die Menschheit in ein nukleares Armageddon treiben könnte.

Die dritte wesentliche Säule des neuen Friedens ist daher kultureller und institutio­neller Natur.Menschliche Gesellschaften wurden lange Zeit von militaristischen Kulturen beherrscht, die den Krieg als unvermeidlich und sogar als wünschens­wert ansahen. Aristokraten sowohl in Rom als auch in Karthago glaubten, dass militä­rischer Ruhm die Krönung des Lebens und der ideale Weg zu Macht und Reichtum sei. Künstler wie Vergil und Horaz stimmten dem zu und widmeten ihre Talente dem Lobgesang auf Waffen und Krieger, der Verherrlichung blutiger Schlachten und der Verewigung brutaler Eroberer.

In der Ära des neuen Friedens nutzten die Künstler ihre Talente, um die Schrecken des Krieges zu zeigen, während die Politiker sich mit Reformen im Gesundheitswesen zu verewigen suchten, anstatt fremde Städte zu plündern. Führende Politiker aus der ganzen Welt schlossen sich zusammen, um eine Weltordnung zu schaffen, die es den Ländern ermöglichte, sich friedlich zu entwickeln und zugleich die gelegentlichen Kriegstreiber zu zügeln. 

Diese Weltordnung basierte auf den liberalen Idealen, nach denen alle Menschen die gleichen Grundrechte haben, keine menschliche Gruppe von Natur aus anderen überlegen ist und alle Menschen gemein­same Erfahrungen, Werte und Interessen teilen. Diese Ideale ermutigten die Staats- ­ und Regierungschefs, Kriege zu vermeiden.

Die liberale Weltordnung verband den Glauben an universelle Werte mit dem friedlichen Funktionieren der globalen Institutionen. Obwohl diese globale Ordnung alles andere als perfekt ist, hat sie das Leben der Menschen nicht nur in den alten imperialen Zentren wie Großbritannien und den Vereinigten Staaten verbessert, sondern auch in vielen anderen Teilen der Welt. Überall haben Staaten von der Zunahme des globalen Handels und der Investitionen profitiert, fast alle Länder kamen in den Genuss einer Friedensdividende. 

Nicht nur Dänemark und Kanada konnten Ressourcen von Panzern auf Lehrer umschichten. Auch Nigeria und Indonesien waren dazu in der Lage. Jeder, der über die Mängel der liberalen Weltordnung schimpft, sollte zunächst eine einfache Frage beant- worten: Können Sie ein Jahrzehnt nennen, in dem es der Menschheit besser ging als in den 2010er-Jah-ren? Welches Jahrzehnt wäre stattdessen Ihr goldenes Zeitalter?

Etwa die 1910er-Jahre mit dem Ersten Weltkrieg, der bolschewistischen Revolution, Rassismus und europäischen Imperien, die große Teile Afrikas und Asiens brutal ausbeuteten? Sind es vielleicht die 1810er-Jahre, als die Napoleonischen Kriege ihren blutigen Höhepunkt erreichten, russische und chinesische Bauern von ihren aristokratischen Herren unterdrückt wurden, die East India Company sich die Kontrolle über Indien sicherte und die Sklaverei in den Vereinigten Staaten, Brasilien und den meisten anderen Teilen der Welt immer noch legal war? Oder träumen Sie vielleicht von den 1710er-Jahren mit dem Spanischen Erbfolgekrieg, dem Großen Nordischen Krieg im Ostseeraum, den Mogulnachfolge- kriegen und den zahlreichen Kindern, die an Unterernährung und Krankheiten starben, bevor sie das Erwachsenenalter erreichten?

Der neue Frieden ist nicht das Ergebnis eines göttlichen Wunders.Er wurde erreicht, weil Menschen eine funktionierende globale Ordnung aufbauten. Leider haben zu viele diese Errungenschaft für selbstverständlich gehalten. Vielleicht gingen sie davon aus, dass der neue Frieden hauptsächlich durch technologische und wirtschaftliche Kräfte garantiert würde und auch ohne seine dritte Säule – die liberale Weltordnung – überleben könnte. 

Folglich wurde diese Ordnung zunächst vernachlässigt und dann mit zunehmender Heftigkeit angegriffen. allein waren nicht stark genug, um den neuen Frieden zu beenden. Was die globale Ord- nung wirklich untergrub, war, dass sowohl die Länder, die am meisten von ihr profitierten (darunter China, Indien, Brasilien, Polen), als auch die Länder, die sie überhaupt erst aufgebaut hatten (vor allem Großbritannien und die USA), ihr den Rücken kehrten. 

Das Brexitvotum und die Wahl Donald Trumps im Jahr 2016 symbolisierten die Wende. Diejenigen, die die globale liberale Ordnung infrage stellten, wollten meist keinen Krieg. Sie wollten durchsetzen, was sie als Interessen ihres Landes verstanden, und sie argumentierten, dass jeder Nationalstaat seine eigene heilige Identität und Traditionen verteidigen und entwickeln solle. Was sie nie erklärten, war, wie all diese Nationen ohne universelle Werte und globale Institutionen miteinander umgehen würden. Die Gegner der globalen Ordnung boten keine Alternative an. 

Sie glaubten, dass die verschiedenen Nationen sich irgendwie arrangieren könnten und die Welt zu einer Ansammlung ummauerter, aber einander freundlich gesinnter Festungen werden würde. Festungen sind jedoch selten freundlich. Jede nationale Burg will in der Regel etwas mehr Land, Sicherheit und Wohlstand für sich selbst – auf Kosten der Nachbarn. 

Ohne universelle Werte und globale Institutionen können sich rivalisierende Festungen kaum auf gemeinsame Regeln einigen. Das Modell der Festungen war ein Rezept für eine Katastrophe. Und die Katastrophe ließ nicht lange auf sich warten. Die Coronapandemie zeigte, dass sich die Menschheit ohne eine wirksame globale Zusammenarbeit nicht gegen gemeinsame Bedrohungen wie Viren schützen kann. Vielleicht hat Putin beobachtet, wie Covid die globale Solidarität weiter aushöhlte, möglicher­ weise kam er so zu dem Schluss, dass er der liberalen Ordnung den Todesstoß geben könnte, indem er das größte Tabu der Ära des neuen Friedens bricht. Putin mag sich gedacht haben, dass einige Länder zwar aufschreien und ihn kritisieren würden, wenn er die Ukraine erobern und sie Russ­ land einverleiben würde, er aber nicht mit wirksamer Gegenwehr rechnen müsse.

Die Behauptung, Putin sei gezwungener­maßen in die Ukraine eingedrungen, um einem westlichen Angriff zuvorzukommen, ist unsinnige Propaganda. Eine vage west­liche Bedrohung ist kein legitimer Vorwand, um ein anderes Land zu zerstören, dessen Städte zu plündern, dessen Bürger zu ver­ gewaltigen und zu foltern und zig Millionen Männern, Frauen und Kindern unsägliches Leid zuzufügen. Jeder, der glaubt, dass Putin keine andere Wahl hatte, möge bitte das Land nennen, das eine Invasion in Russland im Jahr 2022 vorbereitet haben soll.

Die deutsche Armee etwa? Und vergessen Sie nicht, dass Putin bereits 2014 in die Ukraine einmarschiert ist – nicht erst 2022. Putin hat seine Invasion lange Zeit vor­-bereitet. Er hat den Zerfall der Sowjetunion nie akzeptiert, und er hat die Ukraine, Georgien oder eine der anderen postsowje­ tischen Staaten nie als legitime unabhän­ gige Nationen angesehen. Während, wie erwähnt, die durchschnittlichen Militäraus­ gaben weltweit etwa 2,2 Prozent und in den Vereinigten Staaten 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen, sind sie in Russland weitaus höher. Wie hoch genau, ist ein Staatsgeheimnis. In interna­ tionalen Statistiken liegen sie bei 4,1 Pro­ zent. Schätzungen gehen davon aus, dass der Anteil aber auch bei einem Vielfachen liegen könnte.

Sollte Putin den Krieg gewinnen, wäre es der Zusammenbruch der globalen Ordnung und des neuen Friedens. Autokraten in aller Welt kämen zu der Überzeugung, dass Eroberungskriege wie­der möglich sind. Die Demokratien wären gezwungen, sich zu ihrem Schutz zu mili­tarisieren. Schon jetzt erleben wir, wie die russische Aggression Deutschland dazu veranlasst, seinen Verteidigungshaushalt drastisch zu erhöhen, und etwa Schweden die Wehrpflicht wieder einführt.

Geld, das für Lehrer, Krankenschwestern und Sozialarbeiter ausgegeben werden könnte, wird nun in Panzerarmeen, Rake­ ten und Cyberwaffen investiert. Junge Menschen sollen ihren Militärdienst ableis­ ten. Die ganze Welt könnte irgendwann wie heute Russland aussehen – mit einer überdimensionierten Armee und unter­ besetzten Krankenhäusern. Eine neue Ära von Krieg, Armut und Krankheit wird die Folge sein.

Wird Putin jedoch gestoppt und bestraft, wäre die Weltordnung gestärkt. Es wäre eine Ermahnung an alle, die sie nötig haben, dass man nicht tun kann, was Putin getan hat. Welches der beiden Szenarien wird eintreten? Zum Glück war Putin trotz seiner Aufrüstung auf eine entscheidende Sache nicht vorbereitet: den Mut des ukrainischen Volkes. Die Ukrainer haben die Russen in einer Reihe von Siegen bei Kiew, Charkiw und Cherson zurückge­ drängt. 

Doch Putin hat sich bisher geweigert, seinen Fehler einzugestehen; er reagiert auf die Niederlage mit zunehmender Brutalität. Da seine Armee die ukrainischen Soldaten an der Front nicht besiegen kann, setzt Pu­ tin nun darauf, dass die ukrainische Zivilbe­ völkerung in ihren Häusern erfriert. Wie der Krieg enden wird, ist ebenso wenig vorher­ sehbar wie das Schicksal des neuen Friedens.

Geschichte ist niemals deterministisch. Nach dem Ende des Kalten Krieges dachten viele, der Frieden sei unvermeidlich und werde bestehen, auch wenn wir die globale Ordnung vernachlässigten. Seit Russland in die Ukraine einmarschiert ist, vertreten einige plötzlich die gegenteilige Ansicht. Sie behaupten, dass Frieden eine Illusion gewesen, der Krieg hingegen eine unzähm­bare Naturgewalt sei. Und dass Menschen nur die Wahl hätten, ob sie Beute oder Raubtier sein wollen.

Beide Positionen sind falsch. Krieg zu führen oder Frieden zu schließen basiert auf Entscheidungen und ist nichts Unvermeid­bares. Kriege folgen keinem Naturgesetz. Aber Frieden zu schließen ist keine einmalige Ent­scheidung. Es ist eine langfristige Anstrengung, um universelle Normen und Werte zu schüt­zen und kooperative Institutionen aufzubauen.

Der Wiederaufbau der globalen Ord­ nung bedeutet nicht, dass wir zu dem System zurückkehren, das in den 2010er­ Jahren zusammengebrochen ist. Eine neue und bessere Weltordnung sollte den nicht westlichen Staaten, die sich beteiligen wol­len, eine wichtigere Rolle zuweisen. Sie sollte auch die Bedeutung der nationalen Loyalitäten anerkennen.

Die globale Ordnung ist vor allem wegen des Angriffs populistischer Kräfte zerfallen, die argumentierten, patriotische Loyalitäten widersprächen einer globalen Zusammen­arbeit. Populistische Politiker predigten, man müsse als Patriot gegen globale Institutionen und weltweite Zusammenarbeit sein.

Es gibt jedoch keinen inneren Wider­spruch zwischen Patriotismus und Globa­lismus, denn beim Patriotismus geht es nicht darum, Fremde zu hassen. Sondern darum, seine Landsleute zu lieben. Und wenn man im 21. Jahrhundert seine Lands­leute vor Kriegen, Pandemien und ökolo­gischem Kollaps schützen will, gelingt das am besten, indem man mit den anderen zusammenarbeitet.

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Wagenknecht/Masala zum Ukrainekrieg

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Warum der fransigste Rand der G.O.P. jetzt so viel Macht über die Partei hat

NYT

Jan. 5, 2023

Von Richard H. Pildes

Richard H. Pildes ist ein Rechtswissenschaftler, der die Überschneidung von Politik und Recht und deren Auswirkungen auf unsere Demokratie analysiert.

Zum ersten Mal seit fast einem Jahrhundert sind wir Zeuge des atemberaubenden Spektakels einer Republikanischen Partei geworden, die so zerrissen ist, dass sie in mehreren Wahlgängen um die Wahl eines Sprechers des Repräsentantenhauses ringt. Dieses Drama in Washington spiegelt größere strukturelle Kräfte wider, die die amerikanische Demokratie verändern.

Die Revolutionen im Bereich der Kommunikation und der Technologie haben unsere Demokratie in einer Weise verändert, die weit über die bekannten Probleme wie Fehlinformationen, Hassreden und dergleichen hinausgeht. Sie haben es einzelnen Mitgliedern des Kongresses ermöglicht, als freie Akteure zu agieren, ja sogar zu gedeihen. Sie haben die institutionelle Autorität, einschließlich derjenigen der politischen Parteien und ihrer Führer, abgeflacht. Sie haben es Einzelpersonen und Gruppen ermöglicht, leichter Opposition gegen Regierungsmaßnahmen zu mobilisieren und aufrechtzuerhalten, und sie haben dazu beigetragen, heftige Fraktionskonflikte innerhalb der Parteien anzuheizen, die von den Führungen schwerer zu kontrollieren sind als in der Vergangenheit.

Durch Kabelfernsehen und soziale Medien können sogar Politiker in ihren ersten Amtsjahren ein nationales Publikum kultivieren. Als die Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez (https://de.m.wikipedia.org/wiki/Alexandria_Ocasio-Cortez, abgerufen 6.1.2023 12, 8 Mio follower Twitter) in den Kongress einzog, hatte sie bereits neun Millionen Follower auf den wichtigsten Social-Media-Plattformen, mehr als viermal so viele wie die Sprecherin Nancy Pelosi und eine Größenordnung mehr als jeder andere Demokrat im Repräsentantenhaus. Der Abgeordnete Matt Gaetz, Republikaner aus Florida und Provokateur in der Opposition gegen die Kandidatur von Kevin McCarthy, hat die Macht der sozialen Medien erkannt und erklärt, er wolle das A.O.C. der Rechten werden.

Das Internet hat auch zu einer explosionsartigen Zunahme von Kleinspenden geführt, die es Politikern ermöglichen, große Geldbeträge aufzubringen, ohne auf Parteikassen oder Großspender angewiesen zu sein.

Die Abgeordnete Marjorie Taylor Greene, Republikanerin aus Georgia, sammelte im ersten Quartal 2021 mehr als 3 Millionen Dollar an Kleinspenden ein – ein erstaunliches Ergebnis für ein neues Mitglied des Kongresses, obwohl ihr die Ausschussmandate entzogen wurden. Die nationale Aufmerksamkeit im Kabelfernsehen und in den sozialen Medien belohnt das Provokative, das Empörende und die ideologischen Extreme. Die New Yorker Abgeordnete Elise Stefanik wandelte sich von einer gemäßigten Politikerin zu einer „Kämpferin“ für Donald Trump, was zu einer Flut von Kleinspenden führte.

Die Kontrolle über die Ausschusszuweisungen war einst ein mächtiges Instrument der Parteiführer, um Mitglieder zu ermutigen, der Parteilinie zu folgen, und diejenigen zu bestrafen, die dies nicht taten. Heute werden wichtige Gesetze oft in einem zentralisierten Prozess von einer kleinen Gruppe von Parteiführern ausgearbeitet und nicht mehr in den Ausschüssen, was die Ausschusszuweisungen weniger wertvoll gemacht hat.

Außerdem müssen die Mitglieder nicht mehr in wichtigen Ausschüssen mitarbeiten, um sich auf nationaler Ebene zu profilieren oder Wahlkampfgelder zu erhalten, und dank der modernen Kommunikationsmittel, die den einzelnen Mitgliedern leicht zur Verfügung stehen, können sie immer noch mühelos Widerstand gegen Vorschläge mobilisieren. Diejenigen, die Herrn McCarthy als Sprecher herausfordern, wissen, dass sie Gefahr laufen, bei der Besetzung ihrer Ausschüsse bestraft zu werden, sollte er sich schließlich durchsetzen. Aber diese Drohung hat in einer Ära der freien Politiker nicht mehr das Gewicht, das sie einst hatte.

Viele Abgeordnete profitieren auch davon, dass sie zunehmend sichere Sitze innehaben, so dass sie sich keine Sorgen um die Parlamentswahlen machen müssen und die ideologisch engagierteren Vorwahlwähler ansprechen können. Die Möglichkeit, ein nationales Publikum zu erreichen und durch kleine Spenden mehr als genug Geld aufzubringen, hat auch den Aufstieg von Politikern begünstigt, die mehr wegen der Aufmerksamkeit und der Möglichkeiten, die sie bietet, als wegen des Regierens dabei sind. Das Risiko, dass sich die Moderatoren des Kabelfernsehens gegen sie wenden, ist eine viel größere Sorge als die Tatsache, dass sie nicht in bestimmte Ausschüsse berufen werden.

Die Tatsache, dass der einfache erste Akt eines neuen Repräsentantenhauses – die Wahl des Sprechers durch die Mehrheitspartei – so heikel ist, verdeutlicht die Schwierigkeiten, mit denen die politischen Parteien heute konfrontiert sind, wenn es darum geht, sich selbst zu verwalten, geschweige denn zu regieren. Selbst die Zugeständnisse, die McCarthy seinen Gegnern in seiner Partei machte, änderten daran wenig. Entweder aus persönlicher Abneigung und Misstrauen oder weil sie ihre Macht demonstrieren wollten, um einen potenziellen Redner zu Fall zu bringen, hielten sie an ihrer Trotzhaltung fest.

Diese besondere Schlacht ist ein Zeichen für die neue Welt der politischen Fragmentierung, mit der fast alle Demokratien konfrontiert sind. Politische Zersplitterung bedeutet, dass die politische Macht in so viele verschiedene Hände und Machtzentren zersplittert, dass ein effektives Regieren sehr viel schwieriger wird.

Wirtschaftliche und kulturelle Konflikte treiben diese Zersplitterung voran, die jedoch durch die Kommunikationsrevolution begünstigt wurde. In den westeuropäischen Systemen mit Verhältniswahlrecht haben sich die traditionell dominierenden großen politischen Parteien in ein Kaleidoskop kleinerer Parteien aufgespalten. In den Vereinigten Staaten sind die beiden großen Parteien intern gespalten, und die Führungen haben weniger Möglichkeiten, diese Spaltungen zu überwinden.

Die Demokratische Partei zeigt einen Weg auf, wie Parteien diese zersplitternden Kräfte, die sie auseinander zu reißen drohen, überwinden können: das Gespenst einer großen Wahlniederlage. In der gegenwärtigen Phase der Einigkeit vergisst man leicht die erbitterten Konflikte zwischen den gemäßigten und den progressiven Flügeln, die die Partei erst im letzten Jahr überwinden konnte.

Während dieser Monate des parteiinternen Gezänks, der Drohungen und Beschimpfungen sanken die öffentlichen Zustimmungswerte für Präsident Biden und den Kongress rapide. Es bedurfte der Beinahe-Todeserfahrung der Gouverneurswahlen in Virginia und New Jersey im Jahr 2021, damit die Progressiven ihre Forderungen aufgaben und die Verabschiedung des Infrastrukturgesetzes zuließen, dem schließlich ein Gesetz zur Verringerung der Inflation folgte, dessen Umfang erheblich reduziert worden war. Ein Vorteil der Demokraten war die Kontrolle über das Weiße Haus, was zur Disziplinierung der Partei beiträgt, da die Mitglieder ihr Wahlschicksal an den Erfolg des Präsidenten gebunden sehen. Auch scheinen weniger Mitglieder der Demokraten mehr an einer performativen Politik als an der Gesetzgebung interessiert zu sein.

Wie die Kandidatur von McCarthy für das Amt des Parlamentspräsidenten zeigt, haben sich die Anreize für eine Opposition und die Möglichkeiten, diese zu mobilisieren – sowohl für die Politik als auch für die Kontrolle der Partei – verbessert. Die Mobilisierung kollektiver Macht war schon immer schwieriger, aber sie ist nach wie vor die wesentliche Komponente für eine effektive Regierung. Die aufkommenden Kräfte der Zersplitterung werden den Führern beider politischer Parteien weiterhin zu schaffen machen, so wie sie es heute in allen Demokratien tun.

Richard H. Pildes, Professor an der School of Law der New York University, ist der Autor des Fallbuchs „The Law of Democracy: Legal Structure of the Political Process“. 

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Allgemein/Politik/Geschichte

Weimar: Lübeck rot oder schwarz?

Von 1919 bis 6. März 1933 hatte Lübeck zu keinem Zeitpunkt eine „rote“ Regierung. Unter Bürgermeister Fehling (1917-1920) herrschte in Lübeck die national-konservative, unter seinem Nachfolger Dr.Johann Neumann (1921-1926) die national-völkische und unter dem ersten SPD-Bürgermeister, Paul Löwigt (1926-1933), ab November 1926 der „neue Konsens“ mit dem national-völkischen Hanseatischen Volksbund. Die vermittelnde Haltung Löwigts kommt in dessen Würdigung Bürgermeister Neumanns bei der Einführung der Senatoren Eckholt und Dr. Geister am am 18.Juni 1926 zum Ausdruck (Max Knie, 15 Jahre Lübecker Zeitgeschichte,Lübeck 1933, S.54 https://michaelbouteiller.de/wp-content/uploads/2022/01/Knie-52-72.pdf).

In den sechs Bürgerschaftswahlen von 1919 bis 1932 wurde die SPD mit Ausnahme von 1926 bis 1929 zwar jeweils stärkste Fraktion in der Bürgerschaft. Allerdings obsiegte in der Bürgerschaftswahl am 10.2.1924 bis November 1926 nach der vorangegangenen und verlorenen Volksabstimmung über die Auflösung des Senats das bürgerliche Lager gegenüber KPD und SPD mit 42 von 80 Sitzen.

 Julius Leber bringt die Machtverhältnisse in der Weimarer Epoche Lübecks 1923 auf den Punkt: 

„Die bürgerliche Senatsmehrheit regierte und die sozialdemokratische Bürgerschaftsmehrheit bewilligte die Steuern.“ (Lübecker Volksbote vom 7.11.1923 (http://library.fes.de/luebeck/pdf/1923/1923-255.pdf)

Kabinette 1921-1933

Das heißt, die sozialistische Mehrheit in der Bürgerschaft (SPD und KPD), mit Ausnahme der Wahl vom 10.2.1924,  spiegelte sich nicht in einer etwaigen sozialistischen Mehrheit des Senats. Da der Senat nach der Revolution vom 9.11.1918 als einzige Regierung eines der 18 Bundesstaaten unter Bürgermeister Fehling fortbestand (mit 1919 14, nach 1920 12 Mitgliedern) und nur fünf SPD-Senatoren 1919 nachgewählt werden konnten, ein sechster erst 1921, blieb seine  Zusammensetzung bis 1926 mehrheitlich bürgerlich.

Denn nach Art. 4 der  Landesverfassung (LV) vom 29.März 1919 wurden die gegenwärtigen Senatsmitglieder in ihrer Stellung bestätigt, und zwar ab dem 1.4.1919 für die nächsten 12 Jahre (die 7 gelehrten Mitglieder) bzw. für 6 Jahre die sieben übrigen. Mit Art. 5 der Neufassung der LV 1920 wurde die Zahl von 14 auf 12 reduziert und die Wahlzeit sämtlicher Senatoren auf „unbestimmte Zeit“ verändert.

Die SPD hatte jedenfalls zu keinem Zeitpunkt im Senat eine Mehrheit. Das auf Antrag der SPD 1923 eingebrachte Misstrauensvotum gegen den Senat, mit der Absicht, den Senat entsprechend der Mehrheitsverhältnisse in der Bürgerschaft umzubilden, war zwar erfolgreich. Die vom Senat unter Bürgermeister Neumann daraufhin beschlossene Volksabstimmung brachte am 6. Januar 1924 indes eine schwere Niederlage für die Antragsteller. Die bürgerliche Senatsmehrheit blieb erhalten.

Der erbitterte Kampf Lebers gegen den völkischen Bürgermeister führte allerdings am 2. Juni 1926 zum Sturz Neumanns. Dieser trat am 3. Juni 1926 zurück und der Sozialdemokrat Paul Löwigt wurde im Senat zum Regierenden Bürgermeister gewählt. Auch dieser Wechsel im Bürgermeisteramt änderte jedoch nichts an der politischen gegenläufigen Ausrichtung von Bürgerschaft und Senat.

Denn in den Bürgerschaftswahlen vom 14.November 1926 überflügelte zwar der auf Veranlassung Neumanns gegründete nationalistische Hanseatische Volksbund mit 44,4% die SPD mit 42,4%. Zusammen mit der KPD (6,4%) überwog allerdings immer noch eine knappe Mehrheit des sozialistischen Lagers im Landesparlament. Neumann verstarb 1928, die Mitglieder seiner Partei, der Hanseatische Volksbund, gingen in der Folge im Wesentlichen zur NSDAP über. Die Regierung Lübecks (der Senat) verfügte trotz des SPD-Bürgermeisters Löwigt bis 1933 über keine Mehrheit der SPD, d.h. des sozialistischen Lagers.

Lübeck hatte demnach zu keinem Zeitpunkt von 1919 bis 1933 eine rote Regierung