Zerstörung der Wahrheit
Infokriege, Desinformation und Fake News, Verschwörungstheorien und Cancel Culture – warum sich liberale Gesellschaften nicht mehr auf eine gemeinsame Realität einigen können.
Von Jonathan Rauch
Der Spiegel 2021/40
Der 6. Januar 2021 war der wohl schwärzeste Tag für die amerikanische Demokratie seit dem Bürgerkrieg vor mehr als 150 Jahren. Tausende protestierten vor dem Kapitol in Washington in der Hoffnung, die friedliche Machtübergabe von Donald Trump an Joe Biden zu verhindern. Christliche Symbole. Galgen. Männer in Kampfmontur. Menschen, die Absperrgitter stürmten. Sicherheitsbeamte, die mit Fahnenstangen und erbeuteten Schutzschilden geschlagen, mit Reizgas geblendet werden, einer von ihnen bettelte um sein Leben: »Ich habe Kinder!« Glas zersprang, Türen öffneten sich, drinnen machten die Demonstranten Jagd auf die Sprecherin des Repräsentantenhauses und den Vizepräsidenten, vielleicht um sie zu entführen, vielleicht um sie zu töten. Mitglieder des Kongresses, die gerade das offizielle Ergebnis der Wahlen bestätigen sollten, mussten vor ihren Verfolgern gerettet werden.
Jonathan Rauch, Jahrgang 1960 in Phoenix, Arizona, geboren, ist Mitarbeiter der Brookings Institution, einem Thinktank in Washington, der der liberalen Mitte zugeordnet wird. Rauch arbeitet als Journalist und Buchautor. Im Juni ist in den USA Rauchs neues Buch »The Constitution of Knowledge. A Defense of Truth« erschienen. Die deutsche Ausgabe ist beim Hirzel Verlag Stuttgart in Vorbereitung.
Natürlich erzählt dieser Tag von einer großen politischen Krise – von einer politischen Partei, den Republikanern, deren Basis zunehmend desillusioniert ist, sich radikalisiert hat und deren Führer ihre Anhänger weder zügeln können noch wollen. Aber er erzählt auch von einem Glaubenskrieg. Von Menschen, die sich nicht mehr auf eine gemeinsame Realität einigen können und auch nicht darauf, wie sie ihre Differenzen lösen. Man könnte es einen epistemischen Bürgerkrieg nennen.
»The Misinformation Age«, »Truth Decay«, »Post-Truth«, »The Death of Truth«, so heißen Bücher von Wissenschaftlern und Experten, die fürchten, dass wir die Fähigkeit verlieren, Wahrheit von Unwahrheit zu unterscheiden, oder gar nicht mehr daran glauben, dass es einen Unterschied gibt. »Wenn wir nicht in der Lage sind, das Wahre vom Falschen zu unterscheiden«, sagt Barack Obama, »dann funktioniert unsere Demokratie grundsätzlich nicht.«
Auch Obama spricht von einer epistemischen Krise, in der Amerika steckt. Aber Europa sollte sich nicht so sicher fühlen. Auch dort verbreiten soziale Medien Empörung, streuen Staaten Desinformationen, sind extremistische Parteien auf dem Vormarsch, gedeihen Verschwörungstheorien, wächst die Unzufriedenheit mit etablierten Politikern und Eliten. Und war die Munitionierung der Brexit-Kampagne mit Fehlinformationen nicht schon ein Vorbote für Trumps erstaunlichen Sieg? Oder die versuchte Erstürmung des Reichstags in Berlin durch Coronaleugner und Extremisten im August vor einem Jahr nicht eine Vorahnung dessen, was am 6. Januar in Washington geschehen sollte? Während der Pandemie hat sich in Deutschland eine alternative Realität aus Verschwörungstheorien, rechten Fixierungen und Impfgegner-Ideologie herausgebildet. Und weiter östlich sind es Demagogen und Despoten wie Viktor Orbán, Recep Tayyip Erdoğan und Wladimir Putin, die ihre eigenen Versionen der Wahrheit entwerfen.
Menschen können sich grundsätzlich nur auf wenige Dinge einigen, aber bis vor Kurzem schien es in den USA und in Europa einen Konsens darüber zu geben, wie Meinungsverschiedenheiten beigelegt werden können: durch einer auf Regeln basierenden gesellschaftlichen Debatte mit dem Ziel, sich gegenseitig zu überzeugen. Ich nenne diesen Prozess und seine Regeln und Institutionen The Constitution of Knowledge, es ist eine Art ungeschriebenes Grundgesetz des Wissens.
Alle Gesellschaften verfügen über soziale Systeme, um zumindest für die Öffentlichkeit so etwas wie Wahrheit zu produzieren; einst verließ man sich dabei vor allem auf Autoritäten wie Prinzen, Priester und Politbüros. Das Grundgesetz des Wissens, wie die US-Verfassung und andere liberale politische Regime, brach mit all dem. Herrscher wurden durch Regeln ersetzt und Autoritäten durch Forscher und Experten, Abweichler nicht als Ketzer bekämpft, sondern eine Kultur der Fehlersuche und Kritik etabliert.
Als Generator von Wissen, Freiheit und Frieden ist dieses System die großartigste soziale Technologie, die der Mensch je erfunden hat. Allerdings ist es ein System, das darauf beruht, anstößige Äußerungen nicht nur zu tolerieren, sondern sogar zu schützen, mögen sie noch so irreführend, aufrührerisch, blasphemisch oder bigott sein. Es ist ein völlig kontraintuitives Prinzip, geradezu paradox, weil doch jeder menschliche Impuls sich dagegen wehrt, jede Generation neue Gründe findet, sich ihm zu widersetzen.
Solch ein System erhält sich nicht von selbst. Es ist abhängig von der Integrität der Eliten und der Unterstützung durch die Öffentlichkeit. Beides ist in Amerika bedroht wie seit den 1850er-Jahren nicht mehr, als eine Desinformationskampagne der Sezessionsbefürworter im Süden Paranoia und Kriegsfieber schürte. In Amerika und in vielen anderen Ländern sehen wir heute, wie die Instrumente der modernen Informationskriegsführung verfeinert und eingesetzt werden, um zu spalten, zu desorientieren und zu demoralisieren. Und wir alle sind die Zielgruppe.
Die Bedrohung kommt aus zwei Richtungen. Aus einer Troll-Kultur, die virale Desinformationen und alternative Realitäten verbreitet. Und aus der Cancel Culture, die zwanghaft Konformität herstellen und Andersdenkende ausgrenzen will. Die eine ist überwiegend rechts und populistisch, die andere überwiegend links und elitär. Die eine setzt auf Chaos und Verwirrung, die andere auf Anpassung und sozialen Druck. Aber ihre Absichten ähneln sich, und seltsamerweise agieren sie oft, als wären sie de facto Verbündete in ihrem Bestreben, die Regeln unserer Erkenntnisproduktion ins Wanken zu bringen.
Beide, Troll-Kultur und Cancel Culture, setzen auf die Techniken moderner Informationskriege. Beide Kulturen sind expansiv und verstehen es, unsere menschlichen Schwächen auszunutzen. Beide haben wichtige institutionelle Positionen erobert, das Weiße Haus genauso wie wesentliche Teile der akademischen Welt. Und beide leben vom Tempo und von der Schlagkraft digitaler Technologien.
Seit Platon wissen die Philosophen, dass die Sinne täuschen und der Glaube irren kann. Aber sie gingen lange davon aus, dass der Mensch dennoch von Natur aus die Wahrheit sucht und dass die Vernunft, dieses einzigartige Geschenk Gottes an unsere Spezies, uns leite. Die Sache aber ist komplizierter.
Unsere Wahrnehmung leidet unter allen möglichen Verzerrungen. Wir sind voreingenommen, weil unsere Gehirne darauf ausgerichtet sind, bestimmte Vermutungen und Vorhersagen zu treffen, um Zeit und Energie zu sparen. In der Savanne, um tödlichen Gefahren zu entkommen. In kleinen Stammesgruppen, wo man sich auf die Informationen und den Schutz anderer verlassen muss. Und auch in einer modernen Gesellschaft, wo kaum jemand die Zeit hat, sich ein komplettes Bild über einen Politiker zu machen oder über Menschen, denen wir begegnen. In einer komplexen Welt aber, in der wir differenzierte Entscheidungen fällen müssen, können uns unsere Voreingenommenheiten nicht nur in die Irre führen, sondern lassen uns nicht mal auf die Idee kommen, dass wir falsch liegen könnten.
Wir glauben das, was uns passend und überzeugend erscheint, und suchen dann nach Beweisen und Argumenten, um unsere Haltung zu verteidigen. Es ist, als würde man drei schwarze Katzen sehen und daraus den Schluss ziehen, dass alle Katzen schwarz sind, ohne sich die Mühe zu machen, nach Katzen zu schauen, die vielleicht nicht schwarz sind. Wir sollten aber nach Informationen und Meinungen suchen, die uns in Frage stellen. Leider ist dies oft das Letzte, das wir tun. Eigene Fehler zu finden und zu korrigieren, ist schwierig und unangenehm.
Definiert sich eine Gruppe über eine gemeinsame Überzeugung, kann diese die Rolle einer Religion bekommen. Eine Meinung abzulehnen, die von Gleichgesinnten geteilt wird, ist schwierig. Die Gruppe übernimmt das Denken für uns. Um es anders auszudrücken: Wir denken mit unseren Stämmen. Menschen seien, so hat das der New Yorker Sozialpsychologe Jonathan Haidt formuliert, in Diskussionen über moralisch aufgeladene Themen »vielmehr um den Schein und ihre Reputation bedacht, als darum, was sie wirklich meinen«. Sokrates dürfte es wichtiger gewesen sein, recht zu haben als beliebt zu sein, aber die meisten von uns wollen lieber ihren guten Ruf bei den Stammesbrüdern und -schwestern bewahren. Eine durchaus vernünftige Entscheidung. Sokrates wurde von seinen Mitbürgern hingerichtet.
Gruppen, Gemeinschaften, sogar ganze Nationen können Personenkulte entwickeln und Ideologien verfallen, die sich auf Kollisionskurs mit der Realität befinden. Es sind Systeme, die sich nicht korrigieren können, ohne sich selbst zu zerstören. Man denke an Nazi-Deutschland oder die Sowjetunion.
Hätte ein Frosch eine falsche Theorie darüber, wie er Fliegen fängt, könnte er sie nur korrigieren, indem er stirbt. Und es könnten Generationen vergehen, bevor die Spezies Frosch ihren Irrtum behebt. Menschen lernen besser als Frösche, und dennoch haben wir eine lange Zeit unserer Geschichte unsere Ideen und Vorstellungen nicht infrage gestellt, sondern sie als gottgewollt hingenommen. Anstatt unsere falschen Überzeugungen zum Teufel zu schicken, erklärten wir sie für heilig. Das Auffinden und Beheben von Fehlern dauerte oft Generationen und erforderte viel Blutvergießen, viele Fehler wurden nie behoben.
»Lasst Theorien sterben, nicht Menschen«, das ist ein Kerngedanke des Philosophen Karl Popper. Kein Wissenschaftler muss mit seinem Leben oder seiner Freiheit für einen Fehler bezahlen. Was ihm ermöglicht, jeden Tag aufs Neue Fehler zu machen, denn Fehler sind das Rohmaterial für die Wissensproduktion. Neue Theorien sind wie Mutationen: Die meisten scheitern, aber einige wenige werden erfolgreich sein und die Evolution vorantreiben. Sind die Fehler erst einmal ausgeschaltet, bleibt am Ende Erkenntnis.
Von Poppers Idee der Wissenschaft als fehlersuchendes System ist es nicht weit zu heutigen Netzwerktheorien: Objektives Wissen in einer ungewissen Welt fußt nicht auf den Erkenntnissen eines Individuums, so genial es auch sein mag, sondern auf einem sozialen Netzwerk.
Wir leben heute in einer fortschrittlichen und doch einigermaßen friedlichen Welt, weil wir in der Lage sind, unsere Voreingenommenheiten und Stammespräferenzen zu überlisten. Wir sind nicht dazu verdammt, alles zu glauben, was man uns erzählt. Die Evolution hat uns darauf getrimmt, große Mengen an Informationen zu sortieren und abzulehnen, was falsch und schädlich ist. Ob, wann und wie oft wir gut und richtig denken, hängt davon ab, wie wir unser soziales Umfeld, unsere Gesellschaften gestalten.
Dieses System einer liberalen Welt ist nicht perfekt, nicht einmal annähernd. Aber es hat in den Jahrhunderten seiner Geschichte in atemberaubendem Tempo Wissen erzeugt, gesammelt und verbreitet. Heute wird an jedem beliebigen Tag diesem Wissenskanon mehr hinzugefügt als in den 200.000 Jahren der Menschheitsgeschichte vor Galilei. Dass die meisten der weltweit bahnbrechenden Innovationen dort entwickelt werden, wo die Gedanken frei sind, dürfte kein Zufall sein.
Das Grundgesetz des Wissens hat zwei entscheidende Regeln. Die erste lautet, dass niemand das letzte Wort hat. Eine Erkenntnis ist immer nur vorläufig und hat nur so lange Bestand, wie sie einer Überprüfung standhält. Niemand, keine Autorität, kein Aktivist, kann eine Debatte endgültig entscheiden oder unterbinden oder deren Ergebnis vorherbestimmen. Wer das versucht, entfernt sich aus der Wissensproduktion.
Die zweite Regel fordert den Verzicht auf persönliche Autorität. Jede Aussage muss für jeden überprüfbar sein. Niemand, der eine These aufstellt, erhält einen Freifahrtschein, egal wer er ist oder zu welcher Gruppe er gehört.
Beide Regeln schließen viele der rhetorischen Manöver aus, die wir täglich in Debatten erleben. Dass eine Diskussion zu gefährlich oder zu blasphemisch sei, zu unterdrückend oder zu traumatisierend, verstößt fast immer gegen die Regel: kein letztes Wort. Aussagen, die mit »als Jude« oder »als Schwuler« oder »als Informationsminister« oder »als Papst« oder »als Chef des Obersten Sowjets« beginnen, können sinnvoll sein, um Kontext zu schaffen oder Referenzen zu liefern, als Argument aber verstoßen sie gegen die Regel: keine individuelle Autorität.
Ich stelle mir die institutionellen Knotenpunkte als Filter- und Pumpstationen vor, durch die Theorien und Ideen fließen. Jede Station sammelt und bewertet die Thesen, vergleicht sie mit dem gespeicherten Wissen, sucht nach Fehlern und verteilt die überlebenden Thesen an andere Stationen, die dasselbe tun. Wichtig ist, dass diese Stationen ein Netzwerk bilden, keine Hierarchie. Kein einzelner Gatekeeper kann entscheiden, welche Hypothesen in das System gelangen. Schlecht belegte Thesen schaffen diesen Weg nicht. Sie haben kein langes Leben. Das Zusammenspiel von Pumpen und Filtern lenkt Informationen in Richtung Wahrheit.
Stellen Sie sich nun vor, das System würde in umgekehrter Richtung arbeiten, weil sich ein bösartiger Dämon eines Nachts in das Kontrollzentrum gehackt hätte, worauf die Pumpen und Filter, anstatt Fehler herauszufiltern, sie einfach weitergeben. Die Verbreitung falscher und irreführender Behauptungen würden nicht verlangsamt, sondern beschleunigt. Persönliche Angriffe nicht aussortiert, sondern ermutigt. Fachwissen durch Dilettantismus ersetzt. Thesen nicht verifiziert, sondern geteilt. Bloßstellung wichtiger als Kommunikation erachtet. Quellen nicht genannt, sondern verschleiert. Dieses System würde weder Erkenntnis noch Wahrheit produzieren. Es wäre keine Informationstechnologie, sondern eine Desinformationstechnologie.
Niemand hat so etwas kommen sehen. Wir – auch ich – hatten erwartet, dass die digitale Technologie den Markt der Ideen erweitern und vertiefen würde. Mehr Theorien, mehr Prüfer, mehr Wissen. Wie hätte das nicht ein Sprung nach vorn sein können?
Leider haben wir vergessen, dass unser Bezug zur Realität von Regeln und Institutionen abhängt. Wir haben vergessen, dass die Überwindung unserer kognitiven und stammesbedingten Voreingenommenheiten davon abhängt, dass wir diese Regeln und Institutionen beherzigen und sie nicht zu »Plattformen« verflachen. Mit anderen Worten: Wir haben vergessen, dass sich Informationstechnologie sehr von Wissenstechnologie unterscheidet. Informationen können einfach übermittelt werden, aber Wissen ist das Produkt einer komplexen sozialen Interaktion, Wissen muss erarbeitet werden. Um in einer digitalen Welt Informationen in Wissen umzuwandeln, müssen einige wichtige konzeptionelle Entscheidungen getroffen werden. Leider haben die digitalen Medien die falschen getroffen.
Das gesamte System wurde dahin gehend optimiert, ein reaktionsfreudiges Publikum für die Informationen zu schaffen, die man den Menschen vorsetzen will, wobei die Richtigkeit der Informationen (wenn überhaupt) nur am Rande eine Rolle spielt. Die Metriken, Algorithmen und Optimierungswerkzeuge sind sensibel, was die Beliebtheit ihrer Inhalte betrifft, aber die Wahrheit ist ihnen egal. Sie sind ausschließlich und unerbittlich auf Klicks und Seitenzugriffe ausgerichtet.
Eine Informationstechnologie, die genauso oft falsche wie richtige Ergebnisse liefert und nicht zwischen beiden entscheiden kann, funktioniert nicht. Aber brauchen wir nicht genau das: Informationssysteme, die uns vor Irrtümern und Voreingenommenheiten schützen? Sind die Institutionen und Standards der modernen Wissenschaft und des Journalismus nicht genau dafür geschaffen worden? Das Geschäftsmodell der digitalen Medien garantiert einen Wettlauf um die Aufmerksamkeit. Aber es hat darüber hinaus Eigenschaften entwickelt, die nicht nur blind für Fehlinformationen sind, sondern sie sogar verstärken.
Als Erstes wurden unsere Gehirne gehackt. 2009 führte Twitter seine »Retweet«- und Facebook seine »Gefällt mir«-Funktion ein, die Twitter dann kopierte; sie wurden bald Standardfunktionen im Netz. Die Kombination mit der »Teilen«-Funktion ermöglicht es den Usern, beliebige Inhalte sofort und unreflektiert in ihrem gesamten sozialen Netzwerk zu verbreiten. »Wir hätten auch einem Vierjährigen eine geladene Waffe in die Hand geben können«, sagt Chris Wetherell, der die Retweet-Funktion bei Twitter entwickelt hat. »Und ich glaube, wir haben das tatsächlich gemacht.«
Dank dieser Dynamik kann ich mit wenig oder gar keinem persönlichen Aufwand oder Risiko mitmachen und mich in der Anonymität verstecken, wenn sich eine Gruppe von Menschen empört. Das Opfer und ich, wir kennen uns vielleicht gar nicht. Ich mache mir nicht einmal Gedanken darüber, dass es seinen Job verlieren könnte oder über die Ächtung, die es erlebt, weil Empathie und Verantwortungsbewusstsein ersetzt sind durch Empörung und Anonymität.
Während es darunter leidet, beschämt oder verleumdet zu werden, werde ich glauben, dass das Opfer es verdient. Meine Wut ist keine gewöhnliche Wut, keine Emotion von Angesicht zu Angesicht, die vielleicht eine Interaktion ermöglicht und zur Versöhnung oder zu neuen Erkenntnissen führen kann. Wir, die In-Group, glauben, dass das Objekt unserer Empörung eine Bedrohung oder ein Verräter ist. Selbst wenn das Opfer es gut gemeint hat, hätte es es besser wissen müssen, und in jedem Fall dient seine Beschämung als Warnung für andere.
So werden wir von Clickbait-Medien, Aktivisten und staatlichen Troll-Farmen mit Empörung gefüttert, unterstützt von Software, die jeden Klick beobachtet. Ein solches System kann uns davon abhalten, uns mit Menschen auszutauschen, die die Realität anders sehen. Was sagen die anderen? Was sind unsere Unterschiede? Noch seltsamer ist, dass wir von einer Software beeinflusst werden, die uns nicht erklärt, was sie uns zeigt. Sie lernt, was wir anklicken und was andere Menschen anklicken, die uns ähnlich sind, erstellt einen virtuellen Avatar von uns und füttert uns mit allem, was unser Avatar will. Niemand kann nachvollziehen, warum wir sehen, was wir sehen. Niemand weiß, was die anderen sehen. Sogar die Maschinen wissen nicht, was ihre Algorithmen tun.
Digitale Medien sind nicht so konzipiert, dass sie uns zwingen, unsere Differenzen zu erkennen und uns zu einigen. Sie wollen keine gemeinsame Realität erzeugen. Anstatt den Fluss von Informationen zu verlangsamen, weil diese überprüft und getestet werden, belohnen die digitalen Medien Unmittelbarkeit und Impulsivität, Emotionen statt Sachlichkeit. Anstatt persönliche Angriffe zu ächten, werden sie gefördert.
Ich bin 61 Jahre alt. In meiner Kindheit gab es in den USA drei Fernsehsender, zwei Nachrichtenmagazine und ein oder zwei große Zeitungen in jeder Stadt. Egal ob man nun den alten Zeiten hinterhertrauert oder froh ist, dass die Ära der großen alten Medien vorbei ist: Es gibt einen Grund dafür, dass es so wenige Gatekeeper waren und dass sie so erfolgreich agierten. Information mag frei sein, aber Wissen ist teuer. Ein großer investigativer Report oder eine akademische Studie erfordert die Arbeit von Fachleuten und viel Geld.
Bis etwa 2016 war es für die Führungskräfte und Techniker der digitalen Welt eher nebensächlich, ob die Informationen, denen sie eine Plattform geben, wahr sind oder nicht, wenn sie überhaupt darüber nachdachten, Menschen vorzuschreiben, was sie zu posten haben? Lasst 1000 Blumen blühen! Es ist nicht unsere Aufgabe, die Onlinewelt zu kontrollieren! Aber das Jahr 2016, Trumps Sieg, die Beeinflussung der US-Wahlen durch rechte Netzwerke und destruktive, ausländische Akteure, hat vieles verändert.
Warum? Facebook beispielsweise ist nicht nur eine Plattform. Es ist auch eine community, und Gemeinschaften implodieren, wenn Soziopathen Amok laufen. Facebook ist darüber hinaus ein Unternehmen, und ein Unternehmen wird unrentabel, wenn es für seine Kunden oder die Gesellschaft toxisch wird. Wenn Nutzer das Netz mit Material überschwemmen, das andere Nutzer verschreckt und verunsichert, Werbekunden vergrault, die Marke vergiftet und systematisch unwahr ist, wird es eine Auswahl treffen müssen, was und wie prominent etwas verbreitet wird. In einigen Fällen wird es Inhalte oder Benutzer ganz ausschließen. Kurz gesagt, es muss ein Äquivalent finden für die Killer-App-Technologie der alten Medien: redaktionelle Bearbeitung.
Längst schon haben die großen sozialen Netzwerke damit begonnen, sich ein institutionelles Gewand zuzulegen. Sie entwickeln Normen und Anreize, um ihre Nutzer dazu zu bringen, ihr Verhalten zu ändern. Was mit ein paar Teams von Fact-Checkern begann, die eine Handvoll Stichproben durchführten, hat sich zu einem globalen Netzwerk entwickelt, das mit Facebook, Google und YouTube zusammenarbeitet.
Was funktioniert und was nicht, wird sich zeigen. Es gibt Experten, die bestreiten, dass Fact-Checking einen Unterschied macht. Aber wichtiger ist es, dass frühere kommerzielle Entscheidungen und ideologische Vorurteile überdacht werden. Immerhin ist jetzt klar, dass die vermeintliche Neutralität der Plattformen schon immer das war, was es ist: ein Vorwand.
Ein Soziopath ist jemand, der soziale Normen nicht akzeptiert. Regelverstöße und eine gewisse Schamlosigkeit können durchaus sinnvoll sein, weil Innovationen in Wirtschaft, Politik oder Kunst davon leben, dass Grenzen ignoriert werden. Aber zu viele Verstöße führen zum Untergang einer friedlichen Gesellschaftsordnung – insbesondere einer liberalen, die davon abhängt, dass alle Menschen prinzipiell die gleichen Regeln befolgen.
Ehrgeizige Soziopathen haben liberale Ordnungen immer wieder zu Fall gebracht, aber die modernen liberalen Demokratien des Westens schienen lange stabil zu sein. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts jedoch haben digitale Technologie und soziale Medien eine unendliche Zahl anonymer Schwärme hervorgebracht, und von dem Moment an, als diese sich mit staatlichen Akteuren verbanden, zunächst mit Putin, Orbán, Erdoğan und dann mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, gewann eine undurchschaubare und beängstigende Form der digitalen Desinformation an Bedeutung.
Unter Propaganda versteht man die Beeinflussung der öffentlichen Meinung ohne Rücksicht auf die Wahrheit, oft (aber nicht immer) durch staatliche Akteure, die Desinformation als psychologische und informatorische Kriegsführung. Das Ziel: zu demoralisieren, entmutigen, isolieren oder einzuschüchtern. Moderne Trolle sehen das ähnlich. Als die Russen ihren Informationsangriff auf die US-Wahlen 2016 starteten, glaubten sie nicht, damit Donald Trump ins Amt zu verhelfen, aber sie hofften, die Vereinigten Staaten zu polarisieren und weniger regierbar zu machen. Was ihnen gelungen ist.
Präsidenten Putin, Trump 2017
Foto: Sputnik / REUTERSDie Angriffe zielen nicht auf einzelne Personen oder Themen, sondern auf den gesamten Informationsraum. Steve Bannon, der ehemalige Chef von Breitbart News und spätere Chefstratege Trumps, hat einmal gesagt: »Die wahre Opposition sind die Medien. Und der Weg, mit ihnen umzugehen, ist: flood the zone with shit.« Die Zone mit Scheiße fluten.
Es gibt keine präzisere Beschreibung dafür, worum es bei modernen Informationskriegen geht. Gemeinschaften sind auf Vertrauensnetzwerke angewiesen, um herauszufiltern, was wahr ist und was nicht. Die Menschen müssen wissen, mit wem sie sprechen, ob diese Person glaubwürdig ist, welche Institutionen Glaubwürdigkeit vermitteln und so weiter. Vertrauen und Glaubwürdigkeit werden beeinträchtigt, wenn die Zone überflutet wird.
Als russische Agenten 2018 Sergej Skripal und seine Tochter in Großbritannien vergiftet hatten, gaben russische Medien Großbritannien die Schuld. Oder der Ukraine. Oder beiden. Oder es war ein Unfall. Oder Selbstmord. Oder ein Rachemord durch Verwandte. Oder alles zusammen. Es hieß auch, Russland habe den verwendeten Nervenkampfstoff nicht hergestellt. Oder es sei ein ganz anderer Nervenkampfstoff verwendet worden. Der »widersprüchliche Charakter der Behauptungen ist kein Fehler der Kreml-Propaganda, sondern Absicht«, schrieb der »Economist«. »Der Zweck der Desinformationskampagne besteht darin, westliche Geheimdienste in einer Kakofonie wilder Behauptungen zu ertränken, anstatt eine kohärente Gegenerzählung anzubieten.« Ein Schlüssel zum Erfolg jeder Desinformationskampagne ist es, dass die Medien und politischen Ökosysteme der angegriffenen Gesellschaft selbst die Fehlinformationen aufgreifen und verstärken.
Der britische Journalist Peter Pomerantsev hat in den Nullerjahren in Moskau gearbeitet und miterlebt, wie sich russische Propaganda veränderte. »Im Kommunismus«, sagt er, »wollte man die Menschen davon überzeugen, dass eine großartige sozialistische Zukunft vor ihnen liege. Die neue Propaganda konzentriert sich darauf, Verwirrung zu stiften und Verschwörungstheorien zu verbreiten.« Der Kreml nutzte seine Kontrolle über die Medien nicht dazu, die Bevölkerung zur Unterstützung der Regierung zu motivieren, sondern sie zu demotivieren. »Wenn man von Verschwörungstheorien umgeben ist, hat man das Gefühl, nichts ändern zu können; es gibt nichts, woran man sich orientieren kann«, sagte er. »Das Meta-Narrativ: Es gibt keine Alternative zu Putin.«
Und noch etwas hat sich geändert. Traditionelle Zensur geht davon aus, dass Informationen knapp sind und ihre Verbreitung beim Publikum blockiert oder eingeschränkt werden kann. Im digitalen Zeitalter, schreibt der amerikanische Rechtswissenschaftler Tim Wu, sind Informationen (gute und schlechte) im Überfluss vorhanden; Aufmerksamkeit ist das, was knapp ist. Warum also nicht Aufmerksamkeit statt Informationen blockieren? Flutet man die Zone mit Ablenkungen und Müll, erschöpft man die Aufmerksamkeit des Publikums und überwältigt es.
Was geschieht, wenn man sich nicht sicher sein kann, ob man manipuliert oder betrogen wird? Man geht davon aus, immer betrogen zu werden. Oder man verkriecht sich mit seinen Onlinefreunden in eine eigene private Version von Realität. Oder verfällt einem demagogischen Politiker, dem man jedes Wort glaubt.
Schon 2013, lange bevor Donald Trump seine politische Karriere begann, wurde er in einem Tweet als »most superior troll« bezeichnet, als bester aller Trolle. »Ein großartiges Kompliment«, war sein Kommentar. Trump, sein Stratege Bannon und ihre Gefolgsleute wussten, was sie taten, und sie waren gut.
Trump, so haben es die vielen Faktenprüfer herausgefunden, verbreitete Unwahrheiten und Verdrehungen in ungeahntem Ausmaß. Im Januar 2020 notierten Faktenchecker der »Washington Post« 22 Falschaussagen pro Tag. Wie die russischen Desinformationen waren auch Trumps Unwahrheiten nicht nur falsch, sondern lächerlich falsch. Niemand sollte von irgendetwas überzeugt werden, es war eine Demonstration, dass die normalen Regeln außer Kraft gesetzt sind und der Anführer die oberste Autorität ist.
Kaum im Amt behauptete er, die Menschenmenge bei seiner Amtseinführung sei größer gewesen als die bei der Amtseinführung Obamas – obwohl Fotografien das Gegenteil bewiesen. An einem Tag sagte er, das Verfahren zur Amtsenthebung schade dem Aktienmarkt, am nächsten Tag prahlte er damit, dass der Markt neue Höchststände erreiche. Als er während einer live übertragenen Kabinettssitzung das amerikanische Strafrechtssystem als Witz und Lachnummer bezeichnet hatte, dementierte das Weiße Haus ein paar Stunden später, dass Trump dies gesagt habe.
Trump und seine Unterstützer verwandelten den Informationsraum in einen Zirkus. Sie schürten Paranoia, indem sie Verschwörungstheorien wiederholten und verstärkten. Sie ignorierten alle sachlichen Einwände, wiesen alle Anschuldigungen zurück und bezeichneten alle realitätsbasierten Medien als »Fake News«. Unwillkommene wissenschaftliche Studien erklärten sie zu »politischen Hetzjagden«. Sie setzten Empörung als Waffe ein, manipulierten die öffentliche Agenda und bestimmten so die nationalen Debatten. Indem sie einen Strudel von Verzerrungen und Ablenkungen erzeugten, konnten sie von ihrer Korrumpierbarkeit und Inkompetenz ablenken. Kein Student der Informationswissenschaften würde bestreiten, dass Trump in der Tat der »beste aller Trolle« ist.
Mit seinen manipulativen Fähigkeiten, die er jahrzehntelang im Umgang mit Journalisten, durch den Einsatz von – wie er es nannte – »wahren Übertreibungen« und seinen Auftritten im Reality-TV verfeinert hatte, dürfte er einer der geschicktesten Desinformationsstrategen seit den Dreißigerjahren sein. Trumps Meisterschaft zeigte sich endgültig, als er sein Publikum davon überzeugte, dass er die Präsidentschaftswahlen gewonnen habe oder dass zumindest das Ergebnis fraglich sei.
Seine Propagandamaschine entfesselte eine Desinformationskampagne, wie sie in den Vereinigten Staaten nie zuvor versucht oder auch nur erdacht worden war. Über soziale Medien, rechte Mainstream-Medien und auf der Bühne des Weißen Hauses sowie mit der Hilfe Hunderter republikanischer Politiker verbreiteten Trump und seine Verbündeten erfundene oder widersprüchliche Geschichten über vermeintliche Verschwörungen und angebliche Rechtsbrüche. Sie reichten eine Flut von Klagen ein, um die Wahl zu annullieren – wohl wissend, dass sie vor Gericht zwar verlieren, aber erfolgreich Zweifel säen würden.
Und sie hatten Erfolg. Putin dürfte neidisch sein auf Trump, der herausgefunden hat, wie man Desinformationsstrategien im russischen Stil auf die amerikanische Politik überträgt, was keine leichte Aufgabe ist. Andere Populisten und Demagogen werden neue Wege finden, die epistemischen Waffen zu verfeinern, mit denen Trump Pionierarbeit geleistet hat.
Das alles hat einen perfekten Sturm des Chaos heraufbeschworen. Die Frage ist, wie sich die liberale, realitätsbasierte Gesellschaft wehrt. Was auch davon abhängt, wie wir einer anderen Herausforderung begegnen: nicht dem Chaos der Rechten und Populisten, sondern dem, was eher von links kommt und elitär erscheint und auf Konformität und sozialen Zwang setzt.
Am 14. Februar 1989 cancelte Ajatollah Khomeini den Schriftsteller Salman Rushdie. Der war, als er 1988 »Die satanischen Verse« veröffentlichte, ein angesehener Schriftsteller, aber keine Berühmtheit. Khomeini rief die Muslime in aller Welt auf, Rushdie und alle, die an dem Buch beteiligt waren, zu ermorden. Der japanische Übersetzer wurde ermordet, viele weitere wurden bedroht. Aus Sorge um ihre Sicherheit begannen Schriftsteller, Verleger, Buchhändler, Dozenten und Studenten darauf zu achten, was sie sagten. Das Phänomen der Selbstzensur ist uralt, aber Khomeini zeigte, dass es mithilfe der Massenmedien weltweit aktiviert werden und über Nacht jeden erreichen kann.
Der englische Philosoph John Stuart Mill hat im 19. Jahrhundert erklärt, warum eine Vielfalt der Meinungen unabdingbar ist. Erstens: Egal wie sicher wir uns fühlen, wir können uns auch irren. Zweitens: Es ist vor allem in Fragen der Moral und Politik fast nie so, dass eine Meinung absolut richtig und die andere absolut falsch ist. Und drittens: Selbst wenn sich eine Ansicht durchgesetzt hat, muss man sie auch immer wieder an widersprechenden Ansichten messen. »Wenn man sie nicht vollständig, regelmäßg und furchtlos diskutiert, wird sie ein totes Dogma und keine lebendige Wahrheit.« Weil der menschliche Geist nicht perfekt sein könne, brauche die Wahrheit eine Vielfalt von Meinungen.
Psychologie und Soziologie bestätigen, was die Erkenntnistheorie vorhersagt: Wenn eine Gemeinschaft der intellektuellen Konformität zum Opfer fällt, steigt sie in eine Art epistemisches Kaninchenloch. Die Soziologin Elisabeth Noelle-Neumann hat dafür den Begriff »Schweigespirale« geprägt. Ihrer Ansicht nach fürchten Menschen die soziale Isolation. Wir stimmen unsere Überzeugungen und sogar unsere Wahrnehmungen mit denen der Menschen um uns herum ab, oft ohne uns dessen bewusst zu sein.
Autokraten können staatliche Medien nutzen, um die Menschen glauben zu machen, dass der Führer breite Unterstützung genießt und kaum jemand anderer Meinung ist. Onlinepropagandisten können algorithmische Verstärkung und gefälschte Identitäten nutzen, um eine kleine Gruppe wie die Impfgegner als große, respektable Denkschule erscheinen zu lassen. Diejenigen, die sich in der Minderheit wähnen, werden annehmen, dass ihre Ansichten an Boden verlieren. Je mehr sie sich isoliert fühlen, desto weniger sind sie geneigt, ihre Meinung zu äußern, und desto mehr Druck verspüren sie, sich anzupassen. »Je mehr Individuen diese Tendenzen wahrnehmen und ihre Ansichten entsprechend anpassen, desto mehr scheint die eine Fraktion zu dominieren und die andere auf dem absteigenden Ast zu sein«, schreibt Noelle-Neumann. »So setzt die Tendenz der einen, sich zu äußern, und die der anderen, zu schweigen, einen spiralförmigen Prozess in Gang, der die eine Meinung zunehmend als die vorherrschende etabliert.«
In ihrem Buch »The Misinformation Age« beschreiben die Autoren Cailin O’Connor und James Owen Weatherall die perverse Dynamik, die daraus entstehen kann. Stellen Sie sich vor, dass sich eine wissenschaftliche Gemeinschaft in zwei feindliche Lager spaltet. Beide Gruppen verlieren das Vertrauen ineinander und hören auf, miteinander zu kommunizieren. Sie besuchen unterschiedliche Konferenzen, veröffentlichen in unterschiedlichen Journalen, lehren an unterschiedlichen Schulen. Anstatt den Konsens beider Lager zu suchen, trauen sie nur noch den Ergebnissen ihres eigenen Lagers. Keine Beweise, keine Belege der anderen Seite werden sie überzeugen. Am Ende reden die Wissenschaftler nur noch mit sich selbst.
Wie das zu verhindern ist? Durch intellektuelle Diversität. Suchen Sie nach einer Vielfalt von Standpunkten. Meinungen, die Ihnen Unbehagen bereiten. Denker, die Sie verunsichern, Ihnen seltsam und unorthodox erscheinen. Wenn alle um Sie herum mit Ihnen übereinstimmen (oder übereinzustimmen scheinen), machen Sie etwas falsch. Meinungsvielfalt meint tatsächlich Meinungsvielfalt; andere Arten von Vielfalt sind zwar wichtig, aber kein Ersatz. Ein demografisch gemischter Raum voller Menschen mit identischen Ansichten ist immer noch eine Blase.
Ich schlage nicht vor, dass jeder Jude sich mit einem Neonazi unterhält; dass Historiker überdenken, ob der Holocaust stattgefunden hat; oder dass die Psychiatrie noch mal prüft, ob Homosexuelle nicht vielleicht doch geisteskrank sind. Vielfalt der Standpunkte bedeutet nicht, dass alles erlaubt ist. Plausibilität, Glaubwürdigkeit, Übereinstimmung mit bekannten Fakten: All diese Kriterien sind wichtig. Aber Einschüchterung oder sozialer Druck zur Unterdrückung intellektueller Vielfalt verstößt gegen die Verfassung des Wissens, ganz gleich, wie die Rechtfertigungen auch lauten. Wenn wir also mit einer unangenehmen oder sogar abstoßenden Theorie konfrontiert werden, sollten wir die Frage stellen: »Was kann ich daraus lernen?« und nicht: »Wie kann ich das loswerden?«
Terrorangriff auf das World Trade Center am 11. September 2001
Foto: Spencer Platt / Getty ImagesIn einer zunehmend therapeutisch orientierten Gesellschaft hat sich die Vorstellung herausgebildet, dass Worte und Ideen emotionale Folgen haben, weil sie verletzend seien. Demnach seien körperliche und emotionale Verletzungen nur zwei Varianten derselben Sache, daher sei jede Rede oder Idee, die jemanden kränkt oder verstört, ein »Angriff«. Und sollte das Opfer einer Minderheit angehören, wäre der Angriff ein Hassverbrechen. Wenn wir das Recht haben, auf öffentlichen Straßen vor physischer Gewalt geschützt zu sein, dann müssten wir auch das Recht haben, im öffentlichen Diskurs vor emotionaler Gewalt geschützt zu sein. Es reiche also nicht aus, eine Reaktion zu zeigen, wenn sich jemand beleidigt oder verärgert fühlt; wir sollten das Umfeld proaktiv von unsicheren Ideen säubern, damit wir ihnen nicht unerwartet oder, schlimmer noch, unvermeidlich begegnen.
Tatsächlich können Ideen und Worte subjektiv verletzend sein. Wir sollten selbstverständlich zivilisiert miteinander umgehen, unsere Meinungsverschiedenheiten entpersonalisieren, aufmerksam zuhören, unsere Behauptungen belegen und unsere intellektuellen Kontroversen im Rahmen vermittelnder Institutionen austragen. Und natürlich sind echte Drohungen und gezielte persönliche Beleidigungen verboten. Der normale Anstand gebietet auch, andere vor unnötigen Demütigungen zu bewahren.
Wir müssen uns dennoch ein dickes Fell zulegen. Kritik tut weh, sie kann demütigen. Aber Sprache allein besitzt nicht die magischen Kräfte, uns tatsächlich zu verletzen. Es ist unsere Entscheidung, wie wir die Sätze eines anderen verstehen und interpretieren. Eine Pistolenkugel lässt keinen Raum für Interpretationen.
Wenn mich jemand eine »verdammte Schwuchtel« nennt, würde ich sagen, dass da jemand Hilfe braucht, aber nicht, dass ich wirklich eine verdammte Schwuchtel bin. Was nicht geht, ist die Gleichsetzung von Kritik, Beleidigung oder emotionaler Kränkung mit physischer Gewalt oder der Schutz vor emotional verletzenden Äußerungen als Recht. Wenn subjektiv verletzende Äußerungen Gewalt sind, dann ist Kritik Gewalt und Wissenschaft eine Menschenrechtsverletzung.
Dabei ist das vermeintliche Ziel der Cancel Culture, sei es eine Person wie Rushdie oder ein Werk wie »Die satanischen Verse«, nicht das eigentliche Ziel der Kampagne, sondern eher ein passendes Motiv für die Inszenierung von Gruppensolidarität. Canceln ist vor allem ein performativer Akt, eine Show, die man für seine soziale Gruppe aufführt.
Wo die Trollkultur verwirren und zerstören will, will Cancel Culture abschrecken und einschüchtern. Sie zielt darauf ab, ein soziales oder mediales Umfeld zu organisieren und zu manipulieren, um Gegner zu demoralisieren, von den digitalen Plattformen zu vertreiben, sie zu isolieren oder einzuschüchtern. In der Praxis aber sind die Grenzen zwischen Kritik an einer Person und ihrer Ablehnung unscharf und subjektiv, vieles dürfte diskussionswürdig sein. Wer allzu schnell »Cancel Culture!« ruft, macht sich zum Teil des Problems und beginnt einen Wettstreit der Schuldzuweisungen.
Die Techno-Utopisten der Informationsrevolution gingen davon aus, dass Wissen spontan aus den Interaktionen in einem Netzwerk Gleichberechtigter entstehen würde – mit erwartbar enttäuschenden Ergebnissen. Ohne Institutionen, in denen Experten, Redakteure und Wissenschaftler Diskussionen organisieren, Thesen vergleichen, Kompetenzen bewerten und Rechenschaft ablegen – von wissenschaftlichen Zeitschriften bis hin zu Wikipedia-Seiten –, gibt es keinen Marktplatz der Ideen, sondern nur Sekten, die sich bekriegen, und Einzelpersonen, die herumlaufen und Lärm machen.
Was also geschehen müsste? Beispielsweise, dass die akademische Welt weltanschauliche Diversität genauso ernst nimmt wie alle anderen Arten von Diversität. Dass Unternehmen sich den Cancel-Forderungen von Aktivisten entgegenstellen. Dass die großen Tech-Konzerne sich der Herkulesaufgabe annehmen, einen Ozean von Inhalten zu moderieren – was sie überraschenderweise sogar tun.
Und die etablierten Medien? Stehen unter wachsendem Druck von Aktivisten in den eigenen Reihen, die Berichterstattung auf Fragen der sozialen Gerechtigkeit hin (wie sie in der Regel von der politischen Linken definiert werden) auszurichten und gegenteilige Ansichten zu verunglimpfen oder zumindest zu missbilligen. Konservative und auch gemäßigt liberale Journalisten berichten davon, dass sie sich selbst zensieren, um Ärger mit Kollegen zu vermeiden. »Eine Redaktion«, sagt Tom Rosenstiel, bis vor Kurzem geschäftsführender Direktor des American Press Institute, »in der es keinen Streit über Geschichten gibt, ist eine dysfunktionale Redaktion.«
Umfragen in den USA und Europa belegen, dass die Redaktionen wichtiger Qualitätsmedien nach links tendieren. »Wir müssen ideologisch diverse Nachrichtenredaktionen zusammenstellen, oder das Produkt wird unter einer Voreingenommenheit leiden, die die Journalisten, die sie produzieren, nicht einmal erkennen«, sagt Rosenstiel.
Am Ende aber kommt es auf den Einzelnen an, sich dem Canceln und anderen Formen des modernen Propagandakrieges entgegenzustellen. Als vor ein paar Jahren hypersensible Studenten amerikanischer Elite-Universitäten von Mikro-Agressionen sprachen, wenn sie sich beispielsweise durch alberne Halloween-Kostümierungen verletzt fühlten, prägten konservative Polemiker den Begriff der Snowflakes.
Aber diejenigen, die an diesen auf Regeln basierenden Prozess der gesellschaftlichen Debatte glauben, an ein System, das ich das Grundgesetz des Wissens nenne, können es sich nicht erlauben, selbst Schneeflocken zu sein oder sich in epistemischen Kaninchenlöchern zu verstecken. Wir sollten nicht den Mund halten.
Wir Schwule kennen uns gut damit aus, wie das ist, wenn man gecancelt wird. Die Idee des Konformitätszwangs wurde gegen uns entwickelt und perfektioniert. Wir wurden wegen unseres Nonkonformismus denunziert, weil wir eine »Gefahr« waren – für das Land, für die Kinder und für uns selbst. Wir wurden denunziert, weil wir lieben, wen wir lieben, und denken, was wir denken. Wir wurden zu Aussätzigen erklärt. Wir wurden eingeschüchtert, damit wir schweigen und uns verstecken. Diejenigen, die sich für uns einsetzten, wurden ebenfalls ausgegrenzt (»Bist du auch eine Schwuchtel?«). Oh ja, wir kennen uns aus mit Canceln. Aber wir haben nicht das vergangene halbe Jahrhundert und länger gegen all das gekämpft, um nun andere zu Parias zu erklären.
Die Gesellschaft, für die wir gekämpft haben, ist ein Ort der Toleranz und der Vielfalt, ein Ort, an dem alle Menschen, nicht nur Homosexuelle, ihr wahres Selbst zum Ausdruck bringen und so leben können, wie es ihr Gewissen vorschreibt, im Einklang mit den Rechten, die jeder Mensch hat, und unter Gesetzen, die alle gleich behandeln.