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Kriegsschuldlüge und Weimarer Republik

Weimarer Republik

Ehre und Schande

In der Weimarer Republik blüht die „Cancel Culture“ im rechten Lager: Die Radikalnationalen ächten jeden, der den Versailler Vertrag verteidigt, als „Vaterlandsverräter“.

Von Frank Werner

18. April 2021, 12:38 Uhr ZEIT Geschichte Nr. 2/2021, 23. März 2021

Die Weimarer Republik ist gerade zwei Wochen alt, da landet Kurt Eisner den größten Enthüllungscoup ihrer Geschichte. Am 23. November 1918 lanciert der bayerische Ministerpräsident Auszüge aus den Geheimakten der königlichen Gesandtschaft in Berlin an die Presse.

Die deutsche Öffentlichkeit erfährt, wie die Reichsregierung im Sommer 1914 vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit dem Feuer spielte und den österreichisch-serbischen Konflikt bewusst eskalierte. Eisners Indiskretion entfacht einen Sturm der Entrüstung. Das Kainsmal des Landesverräters klebt an ihm.

Es ist der Auftakt einer rigorosen Verleumdungskampagne, die jedes auch nur halbwegs neutrale Urteil über die deutsche Kriegsschuld und den Versailler Vertrag als Versündigung am Vaterland geißelt – und so das politische Klima der Republik vergiftet. Wer den alliierten Vorwurf der Kriegsschuld nicht mit hellauf empörter Stimme zurückweist, beschmutzt aus Sicht der rechten Republikgegner das nationale Nest. Er kann sich nicht darauf berufen, nur seine Meinung gesagt zu haben, denn „Landesverrat“ ist keine Meinung. Ein solcher Akt verdient keine Widerrede, sondern den öffentlichen Pranger – oder den Tod.

Ein gutes halbes Jahr nach Eisners Enthüllung, am 31. Juli 1919, verabschiedet die Nationalversammlung die Weimarer Verfassung. Der Grundrechtekatalog ist umfassend, die Meinungsfreiheit garantiert. Aber was nützt das, wenn eine Debatte gar nicht geführt, sondern im Keim erstickt werden soll? Wenn es nicht darum geht, das Argument des Gegners zu erschüttern, sondern Als die Nationalversammlung kurz zuvor am 23. Juni über den Versailler Vertrag debattiert, erleben die Parlamentarier, wie Abgeordnete der nationalliberalen Deutschen Volkspartei (DVP) und der rechtskonservativen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) ihren Widersachern, den Befürwortern der Unterzeichnung, ausdrücklich vaterländische Motive zubilligen. Eine noble Geste, Fair Play in Weimar. Ein beinahe surrealer Moment.

Zwei Wochen darauf, am 9. Juli, wird der Vertrag ratifiziert, mit den Stimmen von SPD, Unabhängigen Sozialdemokraten und Zentrum – jenen Parteien, die schon im Kaiserreich als „innere Reichsfeinde“ und „vaterlandslose Gesellen“ galten. In diese Kerbe schlagen nun die Deutschnationalen. Fortan schmettert die DNVP den Sozialdemokraten immer wieder entgegen, die „Schuldlüge“ auf sich genommen zu haben, weil ihr Hass auf das Kaiserreich größer sei als ihre „Treue zum Vaterland“.

Mit der hämmernden Revisionspropaganda gegen Versailles arbeiten die Kaiserlich-Konservativen und die Radikalnationalen an ihrem Comeback. Das Thema ist gut gewählt, denn die Ablehnung des Friedensvertrags ist mehrheitsfähig, vor allem der Kriegsschuldvorwurf gilt weithin als Skandal. Nicht nur im Parlament setzt die Opposition die Vertreter der Weimarer Koalition unter Druck. Den Ton gibt eine öffentliche Kampagne an, gefördert vom Auswärtigen Amt und orchestriert vom Arbeitsausschuss Deutscher Verbände, einer Propagandazentrale, die auch scheinbar unpolitische Organisationen wie die Caritas oder den Städtebund gegen

Eine Welle von Publikationen prangert die „Kriegsschuldlüge“ an, während Gutachten, die den aggressiven Kurs der deutschen Regierung belegen, unveröffentlicht bleiben. An Litfaßsäulen, in Schaufenstern, im Kino, auf Wanderausstellungen und Massenkundgebungen, der Protest ist allgegenwärtig – und die Diktion eindeutig: Nicht von der selbst verschuldeten Niederlage ist die Rede, sondern vom „Schandfrieden“, von der „Schmach“ oder, unter Antisemiten, vom „Talmud-Diktat“. Schon einen Monat nach der Abstimmung über die Annahme des Vertrags beklagt der Zentrumspolitiker Heinrich Brauns, die Begriffe seien zu Waffen geworden: „Man hat das Schlagwort vom ‚Schmachfrieden‘ geprägt; wie es scheint, auch nicht ohne Absicht, damit politische Geschäfte zu machen.“

Die Gegner der Republik wollen mit ihrer Agitation wieder salonfähig werden – und die Demokraten als Verantwortliche für die Katastrophe kompromittieren. Prominente Republikaner werden als „Novemberverbrecher“ oder „Erfüllungspolitiker“ diffamiert. Ein Plakatentwurf von 1919 fordert: „Man nagle sie zu ihrer Schand mit ihrer Unterschriften-Hand an eine öffentliche Wand!“ – zu sehen sind Außenminister Hermann Müller (SPD) und Kabinettskollege Johannes Bell (Zentrum), die den Versailler Vertrag unterzeichnet haben. Auch Reichspräsident Friedrich Ebert muss sich des Verratsvorwurfs erwehren; Finanzminister Matthias Erzberger, der im November 1918 den Waffenstillstand besiegelt hat, wird vom Deutschnationalen Karl Helfferich in einer Serie von Zeitungsartikeln als „Reichsverderber“ an den Schandpfahl gestellt.

Die Demokraten sind keine echten Männer, sondern „Drückeberger“

Hassrede und Gewalt liegen in der Weimarer Republik eng beieinander. Helfferichs Parole „Fort mit Erzberger“ nehmen Rechtsterroristen beim Wort und ermorden den Zentrumspolitiker im August 1921. Auch Kurt Eisner fällt 1919 einem Attentat zum Opfer, ebenso wie 1922 Außenminister Walther Rathenau.

Erzberger hatte der rechten Legende vom „Dolchstoß“ entschieden widersprochen. Im Juli 1919 hielt er den Kaisertreuen entgegen, dass die Weimarer Koalition die Schuld der anderen büße, der „allmächtigen Militärs“, die den Frieden 1917 in ihren Siegträumen verschenkt hätten. Doch es wird immer schwieriger für die Republikaner, die Realität gegen die anschwellende Empörungspropaganda zu verteidigen.

Die Rechtsnationalen attackieren auf einem Feld, auf dem die Demokraten nur schwer widersprechen können, ohne ihr Ansehen als Patrioten zu gefährden. Im Kampf um die „Ehre“ der Nation gibt es – ähnlich wie im Sommer 1914 – kaum zwei Meinungen; die Grenzen des Sagbaren sind eng gezogen. Selbst ein Kritiker des wilhelminischen Militarismus wie der Historiker Hans Delbrück prangert öffentlich an, die Sieger hätten Deutschland nicht nur territorial „verstümmelt“, sondern durch den Kriegsschuldvorwurf versucht, „unsere nationale Ehre zu schänden und uns in Kreisen der Kulturvölker als ein Verbrechervolk zu kennzeichnen“.

Wer in Regierungsverantwortung steht und Realpolitik betreiben muss, hat in diesem Reizklima kaum Chancen, ein abwägendes Urteil zu fällen. „Es war für die demokratischen Parteien, allen voran die SPD, schwer, wenn nicht unmöglich, eine differenzierte Bewertung des Versailler Vertrags zu entwickeln“, konstatiert der Historiker Eckart Conze. Ging es um „Ehre“ und „Schande“, blieb wenig Raum für nüchterne Zwischentöne, geschweige denn für konstruktive Politik.

Eine Debatte, wie man die Reparationslasten so erträglich wie möglich gestalten könnte, wollen die Rechtsnationalen auch gar nicht führen. Ihr Ziel ist, den Demokraten die Diskussionswürdigkeit abzusprechen – sie so zu verunglimpfen, dass man sich gar nicht die Mühe machen muss, ihre Argumente anzuhören, weil sie wahlweise „Landesverräter“ oder, ein nicht weniger beliebter Vorwurf, „Weibsbilder“ sind.

Die Historikerin Martina Kessel hat gezeigt, wie vor allem die Nationalsozialisten die Sprache der Geschlechter beherrschen, um die Republik als „Schwatzbude“ und die Demokraten als „weibische Drückeberger“ zu desavouieren. „Die Schwätzer haben zu schweigen; die Männer allein zu bestimmen. Politische Deserteure und hysterische Weiber beiderlei Geschlechts müssen ausgeschifft werden“, pöbelt der spätere SA-Chef Ernst Röhm. Nach Jahrzehnten der Verherrlichung einer soldatischen Männlichkeit und dem jähen Absturz aus dieser Traumwelt fällt eine solche Ehrabschneiderei auf fruchtbaren Boden: Wem der Ruf des Unsoldatischen und Unmännlichen anhaftet, der steht schnell im Verdacht, den „Dolchstoß“ in den Rücken des Heeres persönlich geführt zu haben.

Auf der Suche nach Sündenböcken für die Niederlage schmähen die Antidemokraten „Frau Republik“ als wankelmütig – und die parlamentarische Debatte als kraftlos und unmännlich. Vergeblich fordert der DVP-Vorsitzende Gustav Stresemann, den Versuch des Interessenausgleichs seiner Partei nicht als „Politik des schwächlichen Kompromisses“ zu verdammen. Denn wie schwach und lächerlich wirken sie, die Spitzen der Republik, wie sie da in kurzen Badehosen im knietiefen Wasser stehen? Ein der Presse zugespieltes Foto zeigt Ebert und Reichswehrminister Gustav Noske beim anscheinend vergnüglichen Bad in der Ostsee, drei Wochen nach Unterzeichnung des Versailler Vertrages. Die Deutsche Tageszeitung lästert über die zur Schau gestellte „Mannesschönheit“, eine Postkarte kontrastiert die halb nackten Demokraten mit Kaiser Wilhelm II. und Hindenburg in Paradeuniform. Der Hannoversche Kurier sieht im ganz und gar unbewaffneten Reichswehrminister gar das Sinnbild für die in Versailles gedemütigte Nation.

Der Anpassungsdruck, in den rechten Ehrenchor einzustimmen

Immer wieder Versailles. Im Laufe der Jahre verschafft die Polemik gegen den „Schandfrieden“ und die „Schuldlüge“ den Rechten moralische Lufthoheit über die Republik. Der Sozialdemokrat Eduard Bernstein beklagt 1924 gegenüber seinem Parteigenossen Karl Kautsky, die eigenen Leute seien der Unschuldspropaganda „beinahe waffenlos ausgeliefert“ – es sei ein Leichtes, so „den Massen plausibel zu machen, daß das Kaisertum zu Unrecht gestürzt worden und die ‚Judenrepublik‘ und ihre Erfüllungspolitik an allem Übel schuld seien, unter dem Deutschland leide“.

Bernstein hat auf dem SPD-Parteitag 1919 selbst erfahren müssen, welche Reaktionen es auslöst, wenn die Kriegsschuld nicht in Bausch und Bogen geleugnet wird. Er hatte an die Genossen appelliert, sich von alten Ehrbegriffen zu befreien und die Frage nach „Schuld und Verantwortung“ kritisch zu stellen. Parteiführung und Delegierte hätten ihn „förmlich niedergemacht“, schreibt der Historiker Heinrich August Winkler.

Stimmen der Vernunft wie Bernstein werden in den späten Jahren der Republik immer seltener und leiser. Vor allem die bürgerlichen Parteien glauben, Rücksicht auf die nationale Empfindlichkeit nehmen zu müssen. Vom Vorhaben, einen Staatsgerichtshof zur Verfolgung der Kriegsschuldigen einzurichten, waren Zentrum und DDP schon im Frühjahr 1919 abgerückt, um „weitere Reizungen im Innern“ zu vermeiden, wie es im Protokoll der Nationalversammlung heißt. Bei den Sozialdemokraten mühte sich vor allem Außenminister Hermann Müller, seine Kritiker zu beschwichtigen: Wenige Tage nachdem er den Vertrag unterzeichnet hatte, pestete er in der Ratifizierungsdebatte gegen die „vertraggewordene Vergewaltigung“ – ganz im Stil seiner Verleumder.

Zehn Jahre darauf, am 28. Juni 1929, ist Müller Reichskanzler und die Ächtung der „Kriegsschuldlüge“ längst ein Ritual. Zum zehnten Jahrestag der Vertragsunterzeichnung scheut der Sozialdemokrat sogar den Schulterschluss mit Reichspräsident Hindenburg nicht – die beiden rufen gemeinsam zur Trauerkundgebung auf.

In der Skandalisierung von Versailles treffen sich Rechts und Links, selbst die KPD agitiert gegen die „Versklavung der Werktätigen“ und verspricht für den Fall der Machtübernahme, den „räuberischen Friedensvertrag“ zu „zerreißen“. Die Front der Ablehnung ist breit, die Tonlage laut und ehrpusselig emotional – realpolitische Einwände bleiben den Demokraten da meist im Halse stecken. Selten sind in den späten Jahren noch kritische Töne zu vernehmen. Zu den Standhaften, die sich dem Mainstream widersetzen, gehört Carl von Ossietzky, der im Juli 1929 in der Weltbühne für eine „leidenschaftslos vernünftige Betrachtung“ des Friedensvertrags wirbt und gegen die Revisionspropaganda stachelt: „Das Gerassel mit den Ketten von Versailles klingt immer blechener.“ Öffentlichen Beifall darf Ossietzky dafür allerdings nicht mehr erwarten. Die Demokraten bleiben in Deckung und versuchen, keine Angriffsfläche zu bieten.

Meinungsfreiheit ist in Weimar ein hohes Gut, verbrieft in der Verfassung, gelebt in einer weltanschaulich diversen Demokratie. Aber echte Freiheit benötigt ein Mindestmaß an Toleranz, um die Debatte vor Diffamierungskampagnen zu schützen. Echter Streit beruht auf einem Konsens über Regeln und Grenzen. In einem radikalen Entweder-oder-Klima können sich Meinungen hingegen nur schwer entfalten. Als „unmöglich“ markierte Standpunkte fallen aus der Debatte. Die Gegner der Republik beherrschten diese Strategie der Ausgrenzung durch Etikettierung meisterhaft. Ihre aggressive Ressentimentkultur gegen Versailles und das Weimarer „System“ wurde so mächtig, dass sie die Demokraten in die Defensive drängte und in der symbolisch so wichtigen Frage der Kriegsschuld nahezu mundtot machte.

Auf ihrem Leipziger Parteitag 1931 schwenkt die SPD endgültig auf den Rechtskurs ein, unter großem Beifall macht die Parteiführung die „Kriegsschuldlüge“ für die Last der Reparationen verantwortlich. Mahnende Stimmen, die vor einer Übernahme der rechten Rhetorik warnen, werden kaum noch gehört. Der Sozialdemokrat Rudolf Hilferding, unter Stresemann und Müller Finanzminister, attestiert den führenden Genossen im Februar 1932, der „nationalistischen Psychose“ endgültig anheimgefallen zu sein.

Wie groß der Anpassungsdruck ist, in den rechten Ehrenchor einzustimmen, dafür gibt ausgerechnet Otto Wels in seiner mutigen Rede gegen das Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten ein letztes Beispiel. Am 23. März 1933 stemmt der Sozialdemokrat sich im Reichstag gegen die Diktatur, zitiert Hitler aber ausdrücklich zustimmend, als es um Versailles und den „Wahnwitz der Reparationen“ geht. Wels fühlt sich selbst in dieser Stunde noch genötigt, daran zu erinnern, dass er 1919 „als erster Deutscher vor einem internationalen Forum […] der Unwahrheit von der Schuld Deutschlands am Ausbruch des Weltkrieges entgegengetreten“ sei.

Am Ende behält sein Parteigenosse Eduard Bernstein recht. Der Versuch der Demokraten, sich die Anti-Versailles-Propaganda zu eigen zu machen, ist ein Lehrstück dafür, dass sich Rechtspopulisten nicht mit ihren eigenen Waffen schlagen lassen. Bernstein hat eine solch opportunistische Politik schon 1924 „selbstmörderisch“ genannt.

Protokoll der Sitzung des Untersuchungsausschusses 1919