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Allgemein/Politik/Geschichte Lübeck

Die Lübeckische Zeitgeschichte als Lernort. Ein Versuch.

Wir erleben keine Krise der Demokratie, sondern ihr Ende« sagt der Politikwissenschaftler Veith Selk 2024.1 Er gibt mit dieser Behauptung einer von rechter und linker Seite um sich greifenden Auffassung Raum. Ob eine derartige kulturpessimistische These zutrifft, sollten wir genau prüfen, bevor wir ihr folgen. Lübeck ist seit alters her ein gut überschaubares Beispiel für den Kampf der EinwohnerInnen um den demokratischen Rechtsstaat.2

Denn darum geht es, nicht nur um das demokratische, d.h. das allgemeine,  freie und gleiche System der Mehrheitswahl allein, sondern um den Schutz des einzelnen Menschen vor Angriffen auf seine Identität, verbrieft in den rechtsstaatlichen Regeln unsere Verfassung. Das Ende der Demokratie, das hier ausgerufen wird, ist bei Licht besehen, das Ende unserer Verfassung von 1949, das Ende der Geltung des Grundgesetzes. Um es vorweg zu nehmen: Diese Schlacht ist mitnichten verloren. Der Kampf lohnt sich auch heute. Trotzalledem.

Diese eherne Regel der Politik, dass es bei Abfassung von Verfassungen den Besitzenden um die Abwehr der Nichtbesitzenden von der Regierung geht, beherrschte die Verfassungsfrage seit Anbeginn. Die Sorge vor dem Zugriff der Nichtbesitzenden bestimmte etwa die Diskussion der Gründungsväter der US-amerikanischen Verfassung 1776:

Die ungleichen Vermögens- und damit verbundenen Machtverhältnisse begründen in einer auf Gleichheit ausgerichteten Gesellschaft wie der Deutschen Hass und Gewalt. Folgen wir dem Soziologen Norbert Elias, so explodiert dieser Doppelbinderprozess aus Unterdrückung, Hass und Gewalt in langen Zyklen. Ich weiß nicht, wie es Lesern geht, wenn sie die brecht’sche  Formulierung hören: »Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an, und der Arme sagte bleich: „Wär ich nicht arm wärst du nicht reich“« 4 Hat sich der Fall heute erledigt? Was meinen Sie?

Eine grundsätzliche gesellschaftliche Änderung dieser sowohl von Platon als auch von Brandeis beklagten schädlichen Vermögensspreizung benötigt offenbar andere als die hergebrachten Machtmittel und eine Strategie, d.h. Idee und Organisation, die noch erfunden werden muss. Die alten Kampfmittel kosteten allein im 20. Jahrhundert über 160 Mio. Menschenleben.4a

Sie waren das Produkt der Ideologien des 19. Jahrhunderts und änderten an den gesellschaftlichen Machtverhältnissen bis heute – entgegen der Erwartungen eines Bismarck, Kaiser Wilhelm II, Hitler nichts5.

Das gilt sowohl für die militärische Auseinandersetzung mithilfe des Miliärisch-industriellen-Komplexes zum Schutz der bestehenden Ordnung, d.h., die dafür erforderliche Erziehung des Menschen zum Massenmord 6, 6a als auch für den Erhalt des Besitzstandes. Zu einer Reduzierung der Vermögensspreizung führten sie bis heute nicht.

Im 19. Jahrhundert formulierten Karl Marx und Friedrich Engels für die »werktätige Bevölkerung« Idee und Organisation. Für das »Bürgertum« übernahm diese Rolle Paul de Lagarde (Bötticher)7. An dieser Frontstellung änderte sich bis heute im Wesentlichen nichts. Die Konfrontation führte vom Ersten 30-jährigen Krieg im 17. in den Zweiten 30-jährigen Krieg im 20. Jahrhundert (1914-1945).

Die Weimarer Zwischenkriegszeit ist ein Musterbeispiel. Das beginnt mit dem kurzen Frühling der Münchner Räterepublik (2.4.-7.5.1919) unter Beteiligung Erich Mühsams, die von der Reichsregierung zusammengeschossen wurde. In Lübeck vermasselte die mit absoluter Mehrheit bei den ersten Landtagswahlen nach der Novemberrevolution (1918) hervorgegangene SPD bei der Abfassung der Landesverfassung sogar einen demokratischen Zugriff auf die Regierung (Senat). Der nationalistische, 1917 vom Senat gewählte Regierende Bürgermeister Fehling, sicherte mit der von ihm geleiteten Verfassungs-Kommission in der Landesverfassung praktisch die bestehenden Verhältnisse, d.h. die Fortdauer des Patriziats.7

Die Frontstellung (Besitzende/ Werktätige) überdauerte so das Kriegsende und dauerte bis zur ersten „großen Koalition“ unter Kurt Georg Kiesinger und Willy Brandt (1966).

Nach 1966 löste sich diese gesellschaftliche Spaltung in »Bürger | Werktätige«, wie sie Julius Leber 1921 beschreibt8, und damit das gesellschaftliche Klassenbewusstsein langsam auf. Mit dem Klassenbewusstsein, das dem Werktätigen und dem Bürger Zusammenhalt gab, erledigten sich auch die beiden Kampfmittel Streik, Generalstreik und Aussperrung. Die Soziologen untersuchten diese Entwicklung empirisch und nannten das Ergebnis ihrer Untersuchungen „Diversifizierung in Milieus“.9 Der Klassenbegriff hatte ausgedient. Mit der Verankerung von gesellschaftlichen Gruppen in „Milieus“ verschwand quasi als self-fulfilling prophecy die

gesamtgesellschaftliche Kohärenz. 10  Diese Zergliederung in Milieus zerstörte in der Folgezeit mit dem Klassenbewusstsein auch die sogenannten Volksparteien. 

Im Zentrum der wissenschaftlichen Betrachtung von Gemeinschaften stand danach (ab 1980) mit dem steigenden Wohlstand in Westeuropa und den USA11 die Tendenz zur  gesellschaftlichen »Individualisierung« auf dem politischen Programm. Damit öffnete sich Tür und Tor für die Ideologie des »Neoliberalismus«. Dessen Bedeutung kann bei Poul F. Kjaer, dem Professor an der Copenhagen Business School und Herausgeber von „The Law of Political Economy: Transformation in the Function of Law“ (2020), nachgelesen werden.12  

Poul Kjaer erinnert an Margret Thatchers These „Es gibt keine Gesellschaft“ (1987) und stellt zurecht fest: »Diese These steht im Zentrum des neoliberalen Epistémè und die Probleme, mit denen der westliche Teil der Weltgesellschaft konfrontiert ist, lassen sich weitgehend auf diese ontologische Ausgangslage zurückführen. Die vorherrschende Weltanschauung der letzten vier Jahrzehnte (1980-2020) wurde von einer methodisch individualistischen Prämisse abgeleitet, die zu der Annahme führte, dass die Summe der Handlungen von Individuen der Gesellschaft entspricht. Dieser unreflektierte Sprung vom Mikro zum Makro taucht in juristischen Diskursen auf, die alles von der Wahlkampffinanzierung in den USA bis zum EU-Wettbewerbsrecht und der EU-Wettbewerbspolitik betreffen

Was trägt nun diese eben genannte Klärung zum Thema »Neoliberalismus« auf gesamtgesellschaftlicher Ebene zum Verständnis einer städtischen Gesellschaft, etwa derjenigen Lübecks, bei? Zunächst zum Zusammenhang von Neoliberalismus und Postdemokratie: Colin Crouch (200313) analysiert am Beginn des 21. Jahrhundert die Entwicklung demokratischer Prozesse und diejenigen der dazugehörenden politischen Institutionen. Wie werden die Entscheidungen der politische Parteien und in deren Folge die Regierungen gesteuert? Er sieht die Wahlvorgänge für das Führungspersonal und die Beschlüsse in Sachfragen zunehmend vom Führungspersonals selbst beherrscht. Das Gemeinwesen befindet sich infolgedessen auf dem Weg in die Steuerung durch Eliten. Parteimitglieder und am Ende die Wähler und Wählerinnen verlieren an Einfluss. Unterstützt wird der Entscheidungsprozess des Führungspersonals durch externe hauptberufliche Berater, die marktgängige Produkte gegen Bezahlung abliefern (Prognosen erstellen, »Wirtschaftsweise« usw.) Das Beratungsgewerbe hat Hochkonjunktur.

Diese Verlagerung der Beratung auf externe gewerblich tätige »Experten« ist Teil des neoliberalen Modells: Die Bedeutungsverlagerung auf private, marktgängige Produkte. Diese Marktrationalität oder -effizienz hat sich seit Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre – wie beschrieben –  unter dem Begriff „Neoliberal“ (Milton Friedman, Lambsdorff-Papier 1982) durchgesetzt (vgl. zur Diskussion auch Poul Kjaer, Was kommt nach dem Neoliberalismus? Vier Vorschläge für ein neues Gesetz der politischen Ökonomie jenseits von Strukturliberalismus und Strukturmarxismus, 31.8.2020, Verfassungsblog).

Voraussetzung waren der Niedergang des Keynesianismus (staatliche Steuerung der Nachfrage bei Gütern und Dienstleistungen) Anfang der 1970er Jahre, der Ölpreisschock 1973, die Wahlen von Margret Thatcher (1979) und Ronald Reagan (1981) sowie der Aufstieg der Chicago School of Economics unter Milton Friedman (1912-2006)14.  Diese Ereignisse markieren auch den Beginn des Prozesses der Postdemokratisierung.

Ein Weg, der von der aktiven Beteiligung an den leitenden Entscheidungen in den bloßen Konsum oder Genuss des Endproduktes führt. Vom Citoyen zum Bourgeois. Die Auswirkungen des postdemokratischen Denkens auf das politische System lassen sich am Beispiel der Politik des Kabinetts Gerhard Schröder – Josef Fischer (1998-2005) darstellen. Dessen „Programm 2010″ der „Neuen Mitte“ führte bei der SPD nicht nur zum Verlust von ca. 400.000 Parteimitgliedern. Es deregulierte ferner den Arbeits- und Finanzmarkt (Niedriglohnsektor, Absenkung der Rente auf 45%, Flexibilisierung des Bankensektors). Die Parteieliten führten die SPD und die Grünen ferner zur Beteiligung an Kriegen ohne UN-Mandat (Kosovo, Irak, Syrien, Afghanistan). Diese Kriegsbeteiligungen waren völkerrechtswidrig. 

In der Lübecker Gesellschaft lassen sich die Auswirkungen dieser Ideologie des (noch) herrschenden postdemokratischen Denkens in der Kulturpolitik ablesen. Im Vordergrund stehen dabei die Versuche, die städtische Kulturpolitik zu privatisieren.15 Anhaltspunkte sind neben dem Entwurf der Lübecker Kulturleitlinien16 die Projekte des früheren Direktors der Overbeck-Gesellschaft,  einer der Tochtergesellschaften der Gemeinnützigen, Oliver Zybok (2015-2023)17, der den aktiven Einbezug der Stadtgesellschaft in staatlichen und kommunalen Bildungseinrichtungen entsprechend dem »Beutelsbacher Konsens« (1976) missachtete, nämlich die dreifache Verpflichtung, wie sie die Bundeszentrale für politische Bildung ausgearbeitet hat: 1. Das Indoktrinationsverbot, 2. Das Gebot der Kontroversität und 3. Das Gebot der Schülerorientierung. 

Diese Grundsätze sind indessen auf kulturellem Gebiet eine Barriere gegen die Übernahme von Gesellschaft und Staat durch die »Milliardärsherrschaf«t18. Mag heute – anders als in den 1920er Jahren19 – im Übergang von analogen zu digitalen Medien die Auswirkung eines Medienmonopols in Lübeck auch nicht unmittelbar bemerkbar sein.


Lübeck, 14.1.2024

Endnoten

  1. https://krautreporter.de/5201-wir-erleben-keine-krise-der-demokratie-sondern-ihr-ende?shared=d7bdd8e3-422a-48fd-9ec5-33a598468d44
  2. Dazu Grassmann, Antjekathrin, hrsg., Lübeckische Geschichte, Lübeck 1988
  3. Beard, Charles A., Eine ökonomische Interpretation der amerikanischen Verfassung, Frankfurt a.Main 1974 (1.Auflage 1913)
  4. Bert Brecht 1934; Nietzsche, der den Sozialismus bekämpfte, schlägt zur Lösung  des Problems folgendes vor: „Man könnte vielleicht an eine massenhafte Einführung barbarischer Völkerschaften aus Asien und Afrika denken, so dass die zivilisierte Welt fortwährend die unzivilisierte Welt sich dienstbar macht.“ Nachweise bei Franz Mehring: Nietzsche gegen den Sozialismus, 20. Januar 1897, Die Neue Zeit, 15. Jg. 1896/97, Erster Band, S. 545-549. Nach Gesammelte Schriften, Band 13, S. 164, https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/mehring/mehring-philosophie/franz-mehring-nietzsche-gegen-den-sozialismus; Norbert Elias, Zivilisation und Gewalt: über das Staatsmonopol der körperlichen Gewalt und seine Durchbrechungen. In J. Matthes (Hrsg.), Lebenswelt und soziale Probleme: Verhandlungen des 20. Deutschen Soziologentages zu Bremen 1980. Frankfurt am Main 1981, S. 98-122 in: J.Matthes (Hrsg.),Lebenswelt und soziale Probleme.Verhandlungen des 20.Deutschen Soziologentages zu Bremen 1980, S.98-122, https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-135461); https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/16608/ssoar-1981-elias-zivilisation_und_gewalt.pdf?sequence=1&isAllowed=y&lnkname=ssoar-1981-elias-zivilisation_und_gewalt.pdf 4a) Hobsbawm Eric, Das Zeitalter der Extreme, München Wien 1995, S.11
  5. Das gilt besonders für die Vermögensverhältnisse, vgl.dazu https://bit.ly/3GjFjYI; Miriam Rehm, Matthias Schnetzer, Vermögenskonzentration und Macht. Der blinde Fleck der Mainstream-Ökonomie, Kurswechsel 2/2015: 69-79 , https://bit.ly/3Fx2vBF; Walter Scheidel, Nach dem Krieg sind alle gleich, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-27945; Der Freitag, 7.4.2022, S.42,  https://www.evernote.com/shard/s340/nl/61667751/3177b65e-33f6-50ea-66ab-67e3589c9fb0/; 6a: Elias, Norbert, Zivilisation und Gewalt: über das Staatsmonopol der körperlichen Gewalt und seine Durchbrechungen. In J. Matthes (Hrsg.), Lebenswelt und soziale Probleme: Verhandlungen des 20. Deutschen Soziologentages zu Bremen 1980. Frankfurt am Main 1981, S. 98-122 in: J.Matthes (Hrsg.),Lebenswelt und soziale Probleme.Verhandlungen des 20.Deutschen Soziologentages zu Bremen 1980, S.98-122, https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-135461); https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/16608/ssoar-1981-elias-zivilisation_und_gewalt.pdf?sequence=1&isAllowed=y&lnkname=ssoar-1981-elias-zivilisation_und_gewalt.pdf   
  6. https://michaelbouteiller.de/?p=5653
  7. Julius Leber., Lübecker Volksbote, 2.9.1921, S.1
  8. Lepsius, Mario Rainer: Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft . In: Abel, Wilhelm (Hg .): Wirtschaft, Geschichte und Wirtschaftsgeschichte . Festschrift zum 65. Geburtstag von Friedrich Lütge, Stuttgart 1966, S . 371; Freche, Julian, Milieus in Lübeck während der Weimarer Republik (1919–1933), Kiel/Hamburg 2019; dazu kritisch: Buss, Hansjörg, Rezension zu Julian Freche, Milieus in Lübeck während der Weimarer Republik (1919-1933) (Kieler Schriften zur Regionalgeschichte 4), Kiel/Hamburg: Wachholtz 2019, 415 S., ISBN 978-3-529-03604-0, Zeitschrift für Lübeckische Geschichte, Band 100 (2020/21), S.744
  9. Robert Reich, Superkapitalismus, Frankfurt a.M. 2008
  10. MB, Zweimal Lübeck,
  11. Colin Crouch, Postdemokratie, e-book, Berlin 2012
  12. https//de.m.wikipedia.org/wiki/Milton_Friedman, abgerufen 14.1.2024
  13. https://michaelbouteiller.de/?p=2214
  14. https://michaelbouteiller.de/?p=4965
  15. https://michaelbouteiller.de/?page_id=1575
  16. MB, Milliardisierung oder die Käuflichkeit der Politik, https://michaelbouteiller.de/?p=5317
  17.  vgl. Poul F. Kjaer, Was kommt nach dem Neoliberalismus? Vier Vorschläge für ein neues Gesetz der politischen Ökonomie jenseits von Strukturliberalismus und Strukturmarxismus, 31.8.2020, Verfassungsblog; https://verfassungsblog.de/what-comes-after-neoliberalism-2/
  18. https://michaelbouteiller.de/alfred-hugenberg-der-eigentliche-unsichtbare-herrscher-der-freien-und-hansestadt-luebeck/
  19. https://michaelbouteiller.de/neoliberalismus/;
  20. Kjaer PF. The Law of Political Economy: An Introduction. In: Kjaer PF, ed. The Law of Political Economy: Transformation in the Function of Law. Cambridge: Cambridge University Press; 2020:1-30. doi:10.1017/9781108675635.001;  https://verfassungsblog.de/what-comes-after-neoliberalism-2/
  21. Grünes Kriegsprogramm https://michaelbouteiller.de/gruenes-kriegsprogramm-offener-brief-an-die-mitglieder-und-freunde-der-gruenen-zu-den-friedenspolitischenpositionen-im-neuen-grundsatzdokument-der-partei-von-reiner-braun-und-werner-ruf/
  22. MB, Über Demokratie und Kultur in Lübeck, Lübeck 2o21; https://michaelbouteiller.de/?page_id=2276
  23. 2020; https://michaelbouteiller.de/?p=2214
  24. https://michaelbouteiller.de/?page_id=1575