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Absurd und kaum zu glauben: Still liegt die Lübecker Bucht

https://www.abendblatt.de/hamburg/kultur/article242038654/Absurd-und-kaum-zu-glauben-Still-liegt-die-Luebecker-Bucht.html

 

Lübeck.Spannender und verstörender als jeder Krimi. Helge Schmidt macht Anschlag auf Lübecker „Hafenstraße“ zu berührendem Dokumentartheater.
 
Von „True Crime“ spricht man, wenn ein reales Verbrechen so vertrackt ist, dass man es gar nicht mehr nennenswert künstlerisch bearbeiten muss – die Realität ist spannender als jeder Kriminalroman. Entsprechend hat der Hamburger Regisseur Helge Schmidt mit seiner Bühnenrecherche „Hafenstraße“ am Theater Lübeck True Crime geschaffen: Das Nachzeichnen eines Brandanschlagsauf ein von Asylbewerbernbewohntes Haus ist so absurd, man sitzt mit offenem Mund im Theatersessel und kann kaum glauben, was man hier erfährt.
 
Im Januar 1996 brannte das Haus in der Lübecker Hafenstraße aus, zehn Menschen starben. Lübeck stand damals in einer Reihe mit zahllosen Angriffen auf Migranten und Asylbewerber in Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen, auch in Lübeck gab es damals Anschläge, unter anderem auf die Synagoge. Entsprechend groß war die Angst vor einem Imageschaden: Der Tourismus im schmucken Hansestädtchen hätte gelitten, würde Lübeck nicht mehr mit mittelalterlicher Altstadt und Marzipan assoziiert worden, sondern mit Feuertoten, wie der damalige SPD-Bürgermeister Michael Bouteiller in einer Videoeinspielung erklärt. Also legte sich die Polizei frühzeitig auf die These fest, dass der Brand von einem Bewohner gelegt worden sei, Indizien, die auf Mecklenburger Neonazis hinwiesen, wurden nicht weiter verfolgt, selbst Geständnisse der Rechtsradikalen wurden ignoriert. Bis heute sind keine Täter verurteilt.
 

Theaterkritik: Absurd und kaum zu glauben – Still liegt die Lübecker Bucht

 
Seit Jahren entwickelt Helge Schmidtregelmäßig dokumentarische Theaterarbeiten, in Hamburg vor allem am Lichthof-Theater, darunter das bundesweit gefeierte „Cum-Ex Papers“, oder zuletzt „Wem gehört das Land?“Im Vergleich zum kleinen Off-Theater hat Lübeck die Mittel eines Stadttheaters mittlerer Größe zur Verfügung, entsprechend kann Schmidt hier großformatiger arbeiten: Die von Jonas Link und Jonas Plümke gedrehten Videos mit Zeitzeugen-Interviews werden auf Jalousien projiziert, die optisch reizvoll auf- und abfahren, außerdem haben Lani Tran-Duc und Anika Marquardt einen Pool auf die Bühne gebaut, in dem es kurz mal bedrohlich brodelt, schnell aber beruhigt sich die Wasseroberfläche. Still und glatt liegt sie da, wie die Ostsee in der Lübecker Bucht. Friedlich. Harmlos.
 
Jenseits solcher Ausstattungstricks aber bleibt Schmidt bei seinem bewährten Konzept, ein bisschen verfeinert vielleicht: Auf der Bühne stehen Schauspieler, die ihre eigene Position auch thematisieren. „Weder Sie dort drunten noch wir hier oben bilden die Vielfalt der Gesellschaft ab“, spricht Vincenz Türpe ins Publikum. Oft kommen im dokumentarischen Theater die Betroffenen selbst zu Wort, zum Beispiel in den erfolgreichen Stücken des Kollektivs Rimini Protokoll, bei Schmidt aber sind es Leute, die wie das Publikum selbst erst nachvollziehen, was geschehen ist – man schaut also vor allem Menschen beim Denken zu, und dass das nicht trocken wirkt, liegt daran, dass „Hafenstraße“ ein hoch spannendes Sujet ist, True Crime eben.
Und es liegt daran, dass Schmidt die Betroffenen dann doch noch auf die Bühne holt, im Videobild: Ex-Bürgermeister Bouteiller, Aktivistin Jana Schneider, vor allem die Überlebende Esperanca Bunga. Die junge Frau, die 1996 als kleines Kind ihre Familie in den Flammen verlor, leidet sichtlich darunter, dass das Verbrechen nicht aufgeklärt wurde, dass die Geschichte nicht zu einem Ende kam. Entsprechend kann auch „Hafenstraße“ keinen Schluss finden. „Ich würde nicht klatschen“, meint Bunga. Betroffene Stille im Saal.
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Lübeck – Hochburg von Rechtsextremisten und Neonazis? Der Schoß ist fruchtbar

Die jüngste Anschlagserie in Lübeck hat die Stadt in ein „rechtes“ Licht gerückt. Immer wieder be-tonen Bürgermeister Michael Bouteiller und Vertreter der Landesregierung in Kiel, daß es in der Hansestadt keine überproportionalen rechtsextremistischen Aktivitäten gäbe. Ein Blick in das Archiv und Fälle der Gegenwart lassen an dieser Aussage Zweifel aufkommen.

Mittwoch, 06. August 1997

Horst Freires

Lübeck und die Neonazis – zum ersten Mal kam die Marzipanstadt Anfang der 80er Jahre in die Schlagzeilen, als sich im Stadtteil Moisling eine Neonazi-Clique „SA-Sturm Moisling“ nannte. Spätestens seit 1983 existierte in Lübeck auch eine ANS/NA-Kameradschaft (dabei u. a. Michael Jordt). Paraellel dazu entwickelte sich in der Stadt des Holstentors eine starke Skinhead-Subkultur, über die die Polizei schon damals urteilte: „Die Gruppe vertritt eindeutig rechtsgerichtete Ziele und macht diese Einstellung durch ihr äußeres Erscheinungbild sichtbar“. Immer wieder gab es Auseinandersetzungen mit Punks, Ausländern und politischen Gegnern. Die Polizei bildete daraufhin ei-ne Sonderkommission, die sich fortan nicht über Mangel an Arbeit beklagen sollte. Schon 1984 verfolgte die SOKO 771 tatverdächtige Skins, wobei die meisten Beschuldigten Vielfachtäter waren. Hauptdelikt war stets Körperverletzung. Im Spät-sommer 1983 kam es in Lübeck zu einem überregionalen Skintreffen mit rund 700 Teilnehmern aus dem gesamten Bundesgebiet. Auch die FAP als Nachfolgeorganisation der im Dezember 1983 verbotenen ANS/NA faßte in Lübeck schnell Fuß, sie verfügte sogar über ein Parteibüro in der Innenstadt. 1983 und 1987 wurde der jüdische Friedhof im Stadtteil Moisling geschändet – im zweiten Fall gab es dazu Farbschmierereien mit dem Schriftzug der FAP. 1988 wuchs die Zahl der Skins in der Ostseestadt noch einmal – die der Gewalttaten eben-falls. 100 zum Teil bewaffnete Skinheads zogen beispielsweise gegen eine Juso-Veranstaltung im April auf. Ein Eskalieren der Gewaltspirale zeigte sich auch darin, daß Polizeibeamte jetzt ebenfalls Oper brutaler Skinattacken wurden.

Anfang der 90er Jahre bilanzierte das Innenministerium in Kiel: Lübeck sei Hochburg der Skinheads im Lande mit rund 190 Anhängern. Durch Verbrüderungen mit Skins anderer Orte wachse ihre Zahl noch an.

Ein brennendes Fanal

Dann der 25. März 1994: Zum ersten Mal nach der Nazizeit brennt in Deutschland wieder eine Synagoge – in Lübeck waren Brandstifter am Werk. Die vier Täter wurden gefaßt: Stephan Marcus Westphal, Nico Trapiel, Dirk Brusberg und Boris Sven Holland-Moritz. Westphal orderte massenweise DVU-Material und verteilte es, wie er vor dem Oberlandesgericht Schleswig beim Prozeß 1995 zugab, im Bekanntenkreis. Das Quartett wurde zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.

Am 7. Mai 1995 brennt die Synagoge erneut – ein Arbeitsloser wird als Beschuldigter ermittelt, dann aber wieder auf freien Fuß gesetzt. Am 13. Juni des Jahres geschieht dann Unfaßbares im Rathaus: Eine Briefbombe, gerichtet an den stellvertretenden Bürgermeister Dietrich Szameit (SPD) explodiert und verletzt den SPD-Fraktionsgeschäftsführer Thomas Rother schwer. Szameit htte das Urteil im Synagogenprozeß als noch zu milde kritisiert. Am 18. Januar 1996 brennt die Asylbewerberunterkunft in der Lübecker Hafenstraße. Der Fall ist bis heute ungeklärt. Seitdem ist die Stadt nicht mehr zur Ruhe gekommen.

Das Jahr 1997: Am 16. Januar finden sich Hakenkreuzschmie-rereien an der St.-Jürgen-Kapelle; ebenfalls am 16. Januar werden Hakenkreuze am Haus des nordelbischen Bischofs Karl-Ludwig Kohlwage geschmiert. Zudem erhält seine Frau einen Drohanruf: Wer für Schwarze einstehe, dem stecke man das Haus über dem Kopf an, sagte eine Stimme. Kohlwage hatte sich für ein Bleiberecht der Asylbewerber aus der Hafenstraße ausgesprochen.

Am 26. Februar wird auf dem Grundstück des Bischofs eine Gartenlaube angezündet. Die Täter hinterlassen abermals Hakenkreuze. Das Fanal gegen Gotteshäuser ging weiter: Am 25. Mai wurde die katholische Vicelin-Kirche im Stadtteil St. Jürgen durch Feuer zerstört. Ein 19jähriger gesteht die Tat. An die Kirchenfassade wurde von Mittätern der Name des Lübecker Pastors Günter Harig gesprüht. Dieser gewährte einer algerischen Familie Kirchenasyl.

Am 25. Juni werden die St. Jakobi-Kirche und das 300 Meter entfernt gelegene Büro des Schriftstellers Günter Grass mit Hakenkreuzen be-malt. Wieder taucht der Name „Harig“ auf. Nur vier Tage später richtet ein Brananschlag auf dem Kirchenbüro der St. Augustinus-Gemeinde nur geringen Sachschaden an. Dazu prangert die Parole „Harig, wir kriegen dich“ an der Fassade. Hakenkreuze fehlen auch diesmal nicht. Am 12. Juli wurde das vorerst letzte Feuer gezündet, das in diesen Zusamenhang gehört. Ein Holzschuppen der Luthergemeinde Moisling, in der gerade eine Ausstellung über vier von den Nazis ermordete Geist-liche spielte, ging in Flammen auf.

Der Gauleiter der„Wiking-Jugend“

Der „Bodensatz“ für solche Täter ist in Lübeck vorhanden. Dies zeigt auch ein Blick auf die Wahlergebnisse 1992 und 1994. Bei den Landtagswahlen ’92 erreichte die DVU aus dem Stand in den vier Lübecker Wahlkreisen zwischen 8,1 und 9,8 Prozent. Zwei Jahre später bei den Kommunalwahlen lagen die „Republikaner“ in Lübeck bei 4,1 Prozent – landesweit das beste Resultat. 1996 holte die DVU in Lübeck wieder 6,3 Prozent bei den Landtagswahlen – in „Problemstadtteilen“ sogar mehr – der Wiedereinzug in das Kieler Parlament scheiterte allerdings an den landesweiten 4,3 Prozent.

Die Ziehväter bei den Lübecker „Republikanern“ waren die teilweise noch heute aktiven Heinz Bittiehn, Horst Porath und Thomas Schröder. Beruflich rekrutierte sich die REP-Anhänger-schaft auch auffallend stark aus Bundesgrenzschutz- und Polizeikräften. Nach seinem „Gastspiel“ bei den REP lenkte der 41jährige Schröder den „Arbeitskreis für deutsche Politik“ – ein Sammelbecken und Diskussionsforum für Rechtsextremisten unterschiedlicher Herkunft. Seit zweieinhalb Jahren ist der ehemalige BGS-Ausbilder vom Dienst „beurlaubt“. Noch immer läuft ein Disziplinarverfahren gegen ihn. Die Bezüge hat man ihm nach Angaben des Bonner Innenministeriums jedenfalls nicht gestrichen bzw. reduziert.

Die NPD-Köpfe der Stadt waren Reinhard Dutschke (JN) und bis zum heutigen Tag Ulrich Schwetasch. Er wechselte inzwischen das Lager: Über die DVU, DLVH landete er jetzt beim „Bündnis rechts für Lübeck“. Für diese Organisation meldete er jedenfalls am 31. Mai 1997 eine Demonstration in der Marzipanstadt unter dem Motto „Kirchenasyl – Wider Gesetz und Recht!“ an, die verboten wurde. Zeitgleich meldete für die NPD Jürgen Gerg ei-ne Kundgebung an unter der Parole „Arbeitsplätze zuerst für Deutsche“. Auch diese Veranstaltung wurde untersagt. Zuletzt tauchen Gerg und Schwetasch übrigens als „Saalschützer“ am 21. Juni bei einer „Republikaner“-Veranstaltung mit Dr. Richard Eckert (Ex-MdL REP Baden-Württemberg) im Stadtteil Moisling auf.


Direkt nach dem Anschlag auf die Vicelin-Kirche meldete sich auch der bekannte Neonazi Thomas Wulff aus Hamburg mit einem Flugblatt des „Nationalen und Sozialen Aktionsbündnis Norddeutschland“ zu Wort. Er greift in seinem Pamphlet Harig und Bürgermeister Bouteiller an und endet in der Forderung „Schluß mit der Kriminalisierung der Nationalen Opposition“. Das Flugzeug wurde gezielt rund um die St. Vicelin-Kirche verteilt!


BGS-Ausbilder „beurlaubt“

Und auch das ist/war Lübeck: 1985 wird man das erste Mal auf Reinhard Leichert, Beamter im „Amt für Denkmalpflege“, aufmerksam. In seinem damaligen Heimatort Bönebüttel-Husberg (Kreis Plön) war er Organisator einer Sonnenwendfeier am 21. Juni. Dabei redete er sich später heraus, es sei nicht, wie berichtet, ein Treffen der „Wiking-Jugend“ gewesen, sondern vom „Bund Heimattreuer Jugend“ – diese Organisation war damals allerdings ebenso verfassungsfeindlich. Im November 1994 rückt Leichert dann wieder ins Rampenlicht: Die „Wiking-Jugend“ wird bundesweit verboten und er wird von den Innenbehörden als „Gauleiter Nord-mark“ tituliert. Bei einer Hausdurchsuchung auf seinem Anwesen in Großsteinrade bei Lübeck wer-den die Staatsschützer auch fündig. Auf dem Grundstück war ein Bundeswehr-Kübelwagen geparkt sowie Leicherts Kfz mit DVU-Aufkleber. Zudem zu sehen: Ein großer Findling (Stein) mit Odalsrune und der verbotenen Wolfsangel. Knapp drei Jahre sind inzwischen vergangen, dienstrechtliche Konsequenzen hat Leichert bislang nicht zu spüren bekommen.

Überhaupt die Stadtverwaltung: Im Februar 1992 tauchte in Nordrhein-Westfalen ein rechtsextremes Blatt mit dem Titel „Neues Deutschlandlied“ auf. Auf den Kopien des Hetzpapierswar der Audruck „Hansestadt Lübeck, Amt 50“ zu erkennen. Nachforschungen dazu liefen bisher ins Leere. Das „Lübecker Bündnis gegen Rassismus“ enttarnte jetzt Dieter Kern von der NPD als Umweltschutztechniker im Amt der Hansestadt. Kern war im März 1996 aufgefallen, als er einen Propagandastand der DLVH mitbetreute. Er räumte ein, beim Aufmarsch des „Freiheitlichen Volks Blocks“ am 24. Mai 1997 in Bad Segeberg dabei gewesen zu sein, berichtet das schleswig-holsteinische Publikation „Enough is enough“.

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Allgemein/Politik/Geschichte Lübeck Theorie/Diskussion

Überlegungen zur geistigen Gesundheit unseres Nobel-preisträgers Thomas Mann in den Zeiten von Höhenrausch und Fiebertraum

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Allgemein/Politik/Geschichte Lübeck Persönliches Profil

Nach 30 Jahren: Welche Rolle hatten Sie 1996 bei dem Brand in der Hafenstraße Herr Bouteiller?

https://drive.google.com/file/d/1c4KyRiHSoIsfZg5k_mHs2GNtmWRyxcfe/view?pli=1

 

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DGB-LÜBECK und die Gesinnungsprüfung

https://michaelbouteiller.de/wp-content/uploads/2025/05/Leserbrief-1.pdf

 

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Präfaschismus in Lübeck 1921 – 1933


Lübecker Lügengeschichten

Max Knie, 15 Jahre Lübecker Stadtgeschichte. Von der Revolte bis zur Nationalen Erhebung, Lübeck 1933, https://michaelbouteiller.de/max-knie-15-jahre-luebecker-zeitgeschichte/

– Stegmann, Dirk, Emil Possehl und seine alldeutschen Senatskollegen in Lübeck, Ein Beitrag zum völkischen Nationalismus vor 1918, https://www.beirat-fuer-geschichte.de/fileadmin/pdf/band_31/Demokratische_Geschichte_Band_31_Essay_3.pdf, Malente 2022

 

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Sollen sie auf den Burgtorfriedhof?

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Der satanische Furz

Dank an Jutta Kähler für den Artikel über Maximilian Krahs „Manifest“ in den Lübeckischen Blättern (2024/10, S. 161). Die Kritik an dem Machwerk dieses modernen Alldeutschen darf ruhig vertieft werden! Dessen alldeutsches  „Menschenbild“ steht nämlich für eine gut bürgerliche Oberschicht  der 1970er Jahre in der Oberlausitz und in Dresden. Für diese war immer „alles Paletti“. Keine Probleme mit der Naziwelt der Eltern und Großeltern. Sozialistische Demokratie halt. Befehl und Gehorsam. Dort ist der Bürgersohn aufgewachsen.

Man denkt automatisch an das unbeschwerte Nachkriegsleben des langjährigen Vorsitzenden des im Deutschen Reich und in der Weimarer Zeit politisch außerordentlich wirksamen profaschistischen Alldeutschen Verbandes, Heinrich Claß, einer der führenden deutschen völkischen Rassisten, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht von ungefähr nach Jena zurückzog, von den sowjetischen Besatzern unbehelligt. 

Oder an die von Rosemarie Will vorzüglich beschriebene Kolonisierung der DDR durch die BRD (Rosemarie Will, Die Deutsche Wiedervereinigung als Kolonisierungsakt?, in Philipp Dann, Isabel Feichtner und Jochen von Bernstorff, (Post)Koloniale Rechtswissenschaft. Tübingen 2022, S.581) – von der Kohl-Regierung eiskalt durchgezogen. Keine ernsthafte Widerrede, keine empathische Anerkennung der einzig erfolgreichen RevolutionärInnen in der deutschen Geschichte. Keine gesamtdeutsche Volksabstimmung, sondern Beitritt, sonst nichts. Auch kein Hinweis mehr in unserem Grundgesetz: Art 23, der Artikel über den Beitritt wurde 1990 kurzerhand  gestrichen. Der Hinweis in Art.146 GG: Volksabstimmung über eine gesamtdeutsche Verfassung statt Beitritt, aufgehoben und auf den St. Nimmerleinstag verschoben! Nichts erinnert.

Da ist sie deshalb (?) wieder, die überkommene Geisteswelt eines neu erwachten schrecklichen Alldeutschen: Plato, Aristoteles, Carl Schmitt und Thomas Mann. Auch das noch, Thomas Mann! Ja, wir in Lübeck kennen den Thomas Mann von 1918, das  »Bekenntnis eines innerlich zerbrochenen Geistes«, wie Hermann Kurzke entschuldigend schreibt. Dieser Thomas Mann fand aber Beifall bei den Nationalisten damals wie heute. 

Nach seiner demokratischen Wende wandten sich seine bisherigen GönnerInnen im Bürgertum ab. Wenn er schreibt: »Ich bekenne mich tief überzeugt, daß das deutsche Volk die politische Demokratie niemals wird lieben können, aus dem einfachen Grunde, weil es die Politik selbst nicht lieben kann, und daß der vielverschrieene »Obrigkeitsstaat« die dem deutschen Volke angemessene, zukömmliche und von ihm im Grunde gewollte Staatsform ist und bleibt« (Betrachtungen, S.26), so war und ist das Wasser auf deren Mühlen. 

Und auch der mehrfache Hinweis des späteren Lübecker Nobelpreisträgers auf Paul de Lagarde in den Betrachtungen, den er zu den „Großen des deutschen Volkes“ zählte –  er bezeichnet ihn als „Praeceptor Germaniae“ (Lehrmeister Deutschlands) – passt in das rassistische Weltbild der Neonationalisten. Paul de Lagarde hielt die Juden für  »Artfremde«, die keinen Platz in dem geeinten Deutschen Volk hatten. Mit diesem „wuchernden Ungeziefer“ könne es „keinen Kompromiss geben“. „Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt. Trichinen und Bazillen werden auch nicht erzogen. Sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet“. Fritz Stern schreibt dazu: „Nur wenige Menschen haben Hitlers Vernichtungswerk so genau vorhergesagt – und so entschieden im voraus gebilligt“. 

Und dann selbstverständlich Carl Schmitt, der „Rechtsgelehrte“, dessen falsches Geschwurbel heute noch die Köpfe verdreht! 1936 trat er dafür ein, Juden aus den Bibliotheken auszusondern und sie namentlich besonders zu kennzeichnen (»Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist«, in: Deutsche Juristen-Zeitung 41 (1936), Heft 20, Spalte 1193-1199). Rassistisch in eliminatorischer Absicht ist insbesondere die Definition seines Begriffes „Demokratie“. In der 1923 erstmals erschienen viel gelesenen Schrift: Geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, schreibt er in der Vorbemerkung auf S. 13,14 : „Jede wirkliche Demokratie beruht darauf, daß nicht nur Gleiches gleich, sondern, mit unvermeidlicher Konsequenz, das Nichtgleiche nicht gleich behandelt wird. Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen…“ 

Vielleicht lohnt sich an dieser Stelle in Sachen „deutscher Politik“ noch ein Stück tiefer zu graben, in die von Maximilian Krah so geschätzte politische Klassik Griechenlands einerseits und in die heute herrschende deutsche Politik andererseits: 

Vor rund 2.500 Jahren hat Platon (428 -348 v.C.) diejenigen scharf verurteilt, die behaupteten, Politik erschöpfe sich in Worten: nicht die »Verba« seien die Wirklichkeit, hielt er dagegen, sondern ausschließlich die »res«. Auf die tatkräftige Veränderung  der Wirklichkeit komme es an und nicht auf das Gerede darüber. Aufgabe des Staates und der Politik sei die gerechte Verteilung des Vermögens. Denn in der Polis gehe es um die Verhinderung der Ursachen von Krieg: »Jede Stadt, wie klein sie auch sein mag, ist in der Tat in zwei geteilt, die eine ist die Stadt der Armen, die andere die der Reichen; diese liegen miteinander im Krieg.« 

In der Neuzeit versuchte der US-amerikanische Verfassungsrichter Louis Brandeis (1856 – 1941) diese Erkenntnis erneut folgendermaßen auf die Tagesordnung zu setzen::»We must make our choice. We may have democracy, or we may have wealth concentrated in the hands of a few, but we can’t have both.« 

Thomas Piketty brachte diesen uralten Zusammenhang von Staat, Politik und Gesellschaft 2021 nochmals auf den Punkt (https://michaelbouteiller.de/afd-verhindern-umverteilung-jetzt-erster-schritt-vermoegenssteuer/).

Diese schlichte Wirklichkeit (res) von Krieg und Frieden ist aus den mehr oder weniger vernebelten Hirnen der heutigen BerufspolitikerInnen offenbar verschwunden. Stattdessen regiert der bare Irrsinn des Wortes. Die führenden PolitikerInnen werden über diesen Weg zu DienerInnen der Vermögenden. Da aussen- und innenpolitisch die großen Aufgaben von Krieg und Frieden nicht bewältigt werden, flüchten sie sich in eine »Wirklichkeit der Worte«: »In der Politik ist Sprache das eigentliche Handeln. Ganz buchstäblich. Indem Eide geschworen oder Verfassungen und Gesetze beschlossen werden, tritt eine neue Wirklichkeit in Kraft« (Robert Habeck, Wer wir sein könnten. Warum unsere Demokratie eine offene und vielfältige Sprache braucht, e-book, Köln 2018, S. 17). Oder Maximilian Krah: » Denn die Sprache ist das Mittel der Politik« (Manifest, S.11).

Weder wird unser in 16 Bundesländer verzetteltes Land zur Handlungsfähigkeit reorganisiert, noch gelingt die soziale Transformation der Karbonwirtschaft, obgleich nur rund 10 Jahre vor Erreichen der Kipppunkte verbleiben. Von dem Beenden der mörderischen Kriege und der dafür vorgesehenen UN ganz zu schweigen. 

Ein eindrucksvolles mittelalterliches Bild im wundervollen Lübecker St.Annen Museum sei allen anempfohlen: ich nenne es den »Furz des Satans«: Alle starren gebannt auf den satanischen Furz (die verba)  und niemand achtet auf die bedrohte Lebenswirklichkeit (die res)  davor.

Wer sich näher informieren will, gehe ins Museumsquartier in Lübeck und/oder  greife zu dem Aufsatz des in Lübeck 1920 geborenen und 1996 in Altenberge im Grünen Weg 30 verstorbenen großartigen Literaten und Philosophen Hans Blumenberg, Wirklichkeit und Staatstheorie (1968), Schweizer Monatshefte: Zeitschrift für Politik, Wirtschaft, Kultur, Band (Jahr): 48 (1968-1969), Heft 2( https://michaelbouteiller.de/hans-blumenberg-…aatstheorie-1968/).

Michael Bouteiller

19.Mai 2024

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Hans Blumenberg, Wirklichkeit und Staatstheorie (1968)

Schweizer Monatshefte 5/1968

 

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Die Reichsfreiheitsfeier Lübecks 2026 vorbereiten!