Nachtwey und andere Autoren bemühen zunehmend die Subjektivierung als Ersatz für kausale Erklärungen. Ein Beispiel:
„Die Krise fortgeschrittener kapitalistischer Gesellschaften wirkt sich auf die affektiven Tiefenstrukturen aus und erzeugt destruktive Mentalitäten, die aus einem Gefühl der „Vereitelung des Lebens“ heraus entstehen.“ (Amlinger, Carolin und Nachtwey, Oliver, Sehnsucht nach Zerstörung, Die Anziehungskraft des demokratischen Faschismus, Blätter für deutsche und internationale Politik,11/2025, S.49). Oder:„Liberale Gesellschaften sorgen nicht länger für umfassenden Fortschritt.“(S.47).
Oder: „Der Liberalismus, der sich eigentlich als Gegenspieler des Faschismus versteht, hat dessen Aufstieg nicht nur nicht verhindert, sondern sogar noch befördert. Er leidet unter dem angesprochenen Mangel an Problemlösungskapazität. Insbesondere in seiner neoliberalen Ausprägung hat er paradoxerweise zu einer Ausweitung staatlicher Kontrolle geführt. Die Funktionsweise dieses hypertrophen Staats ist nicht durch weniger, sondern durch mehr Bürokratie, Vorschriften und Gesetze gekennzeichnet, mit denen die Komplexität moderner Gesellschaften bewältigt (und Märkte vor demokratischen Ansprüchen geschützt) werden sollen.“(S.48).
Bei der Nutzung dieser Methode verfällt man in Fehl-Schlüsse, die schon im 19. Jahrhundert durch Marx und Engels erkannt worden sind: Im „Kommunistischen Manifest” schreiben sie:
„…Der deutsche oder der „wahre“ Sozialismus. Die sozialistische und kommunistische Literatur Frankreichs, die unter dem Druck einer herrschenden Bourgeoisie entstand und der literarische Ausdruck des Kampfes gegen diese Herrschaft ist, wurde nach Deutschland eingeführt zu einer Zeit, wo die Bourgeoisie soeben ihren Kampf gegen den feudalen Absolutismus begann. Deutsche Philosophen, Halbphilosophen und Schöngeister bemächtigten sich gierig dieser Literatur und vergaßen nur, daß bei der Einwanderung jener Schriften aus Frankreich die französischen Lebensverhältnisse nicht gleichzeitig nach Deutschland eingewandert waren.
Den deutschen Verhältnissen gegenüber verlor die französische Literatur alle unmittelbar praktische Bedeutung und nahm ein rein literarisches Aussehen an. Als müßige Spekulation über die Verwirklichung des menschlichen Wesens mußte sie erscheinen. So hatten für die deutschen Philosophen des 18. Jahrhunderts die Forderungen der ersten französischen Revolution nur den Sinn, Forderungen der „praktischen Vernunft“ im allgemeinen zu sein, und die Willensäußerungen der revolutionären französischen Bourgeoisie bedeuteten in ihren Augen die Gesetze des reinen Willens, des Willens, wie er sein muß, des wahrhaft menschlichen Willens.
Die ausschließliche Arbeit der deutschen Literaten bestand darin, die neuen französischen Ideen mit ihrem alten philosophischen Gewissen in Einklang zu setzen oder vielmehr von ihrem philosophischen Standpunkte aus die französischen Ideen sich anzueignen. Diese Aneignung geschah in derselben Weise, wodurch man sich überhaupt eine fremde Sprache aneignet, durch die Übersetzung.
Es ist bekannt, wie die Mönche Manuskripte, worauf die klassischen Werke der alten Heidenzeit verzeichnet waren, mit abgeschmackten katholischen Heihgengeschichten überschrieben. Die deutschen Literaten gingen umgekehrt mit der profanen französischen Literatur um. Sie schrieben ihren philosophischen Unsinn hinter das französische Original. Z. B. hinter die französische Kritik der Geldverhältnisse schrieben sie „Entäußerung des menschlichen Wesens“, hinter die französische Kritik des Bourgeoisstaates schrieben sie „Aufhebung der Herrschaft des abstrakt Allgemeinen“ usw.
Die französische sozialistisch-kommunistische Literatur wurde so förmlich entmannt. Und da sie in der Hand des Deutschen aufhörte, den Kampf einer Klasse gegen die andre auszudrücken, so war der Deutsche sich bewußt, die „französische Einseitigkeit“ überwunden, statt wahrer Bedürfnisse das Bedürfnis der Wahrheit und statt der Interessen des Proletariers die Interessen des menschlichen Wesens, des Menschen überhaupt vertreten zu haben, des Menschen, der keiner Klasse, der überhaupt nicht der Wirklichkeit, der nur dem Dunsthimmel der philosophischen Phantasie angehört….”
(Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, Geschrieben im Dezember 1847/Januar 1848. Gedruckt und als Einzelbroschüre im Februar/März 1848 in London erschienen. Der vorliegenden Ausgabe liegt der Text der letzten von Friedrich Engels besorgten deutschen Ausgabe von 1890 zugrunde., S. 486).
Theodore Hermann von Laue, beschreibt diese Methode folgendermaßen: „Das deutsche Vokabular ist voll von Abstraktionen, die zu grammatischen Subjekten aktiver Verben werden. Anders gesagt: die Tätigkeit wird von Abstraktionen abgeleitet und nicht von Individuen allein.“(Theodore H. von Laue, Leopold Ranke. The formative Years, Princeton University Press, Princeton 1950). Karl Marx erkennt in den 1840er Jahren diesen Dreh: „Ideen können nie über einen alten Weltzustand, sondern immer nur über die Ideen des alten Weltzustandes hinausführen. Ideen können überhaupt nichts ausführen. Zum Ausführen der Ideen bedarf es der Menschen, welche eine praktische Gewalt aufbieten.“ (Karl Marx, „Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik“, in MEW Band 2, Berlin 1962, S. 126).
Da Begriffe an die Stelle von Menschen treten und handeln, kann alles behauptet werden, was die Autoren in den Begriff hineinstecken. So kommt Nonsens heraus, der nicht weiterhilft.
Lübeck, 24.10.2025
 




