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Allgemein/Politik/Geschichte USA

USA als Diktatur

Der Untergang der amerikanischen
Republik

FAZ, Claudius Seidl, 20231223


Will Donald Trump in den Vereinigten Staaten eine Diktatur
errichten? Und könnte es ihm gelingen?
Die Aussicht, dass Donald Trump, sollte er wieder zum
Präsidenten gewählt werden, die Demokratie in den Vereinigten
Staaten liquidieren und sich selbst zum Diktator machen
könnte, ist bizarr, monströs und absolut unwahrscheinlich – so
wie im Sommer 2015, als er seine Kandidatur erklärte, die
Aussicht absolut unwahrscheinlich war, dass die Amerikaner
diesen Verrückten zum Präsidenten wählen könnten.
Liz Cheney, Tochter des einstigen Vizepräsidenten und
aufrechteste Trump-Gegnerin in der Republikanischen Partei,
hat Anfang des Monats die Diskussion eröffnet, als sie erklärte,
dass die nächste Wahl, falls Trump gewinne, womöglich auch
die letzte werden könnte. Donald Trump, wenig später von
einem Journalisten des Senders Fox News darauf
angesprochen, ob er Diktator von Amerika werden wolle,
antwortete: „Nein, nein, nein, nur am ersten Tag.“ An diesem
Tag werde er die südliche Grenze schließen und (nach Öl)
„bohren, bohren, bohren“. Danach, sagte Trump, werde er kein
Diktator sein. Der Journalist fragte nicht, was Trump tun
werde, wenn das Pensum an einem Tag nicht zu schaffen sei. Es
war, nach der ersten Antwort, auch nicht nötig.
Und als Robert Kagan, neokonservativer Publizist und
Politikdeuter, in einem großen Essay für die „Washington Post“
den künftigen Weg Donald Trumps von der Kandidatur zur
Diktatur schon mal durchschritt und beschrieb, forderte einer
von Trumps engsten Beratern, dass man Kagan dafür ins
Gefängnis werfen müsse. Trump selbst hat seine politischen
Gegner in diesem Herbst als „Ungeziefer“ beschimpft und
angekündigt, dass er die Kommunisten, Faschisten, Sozialisten
„ausrotten“ werde. Wobei er zu den Kommunisten auch den
Präsidenten Joe Biden und dessen gesamte Regierung zählt, ja
eigentlich jeden, der ihm, Trump, die Missachtung der Gesetze,
die Verhöhnung der Institutionen und ein grundsätzliches
Unverständnis der „checks and balances“ vorwirft.
Die Leser der „Washington Post“ und alle, die einander den
Artikel weiterreichten, waren von Kagans Essay offenbar so
beunruhigt, dass Kagan eine Fortsetzung schreiben musste: Wie
man die Diktatur noch verhindern kann. Und das war der
Moment, da man, als amerikanophiler Europäer, tief Luft holen
musste. Und sich dann fragte, ob man beim Lesen, Nachdenken
und Beobachten irgendwo vom Weg der Wirklichkeit
abgekommen und mitten in der Fiktion gelandet sei. Im Sequel
von Philip Roth’ „Verschwörung gegen Amerika“ oder in einer
noch ungedrehten Staffel von „The Man in the High Castle“. In
einer Erzählung also, die sich vorzustellen versucht, was man
sich als Freund Amerikas und seiner selbstbewussten Menschen
nicht vorstellen mag: Dass ausgerechnet im Land der Freien
eine quasifaschistische Diktatur die Macht übernimmt und die
Freiheitsrechte der Verfassung nicht mehr gelten.
Den Untergang der Demokratie sollten wir uns nicht unbedingt
als Putsch vorstellen, mit Militär auf den Straßen,
Schusswechseln vor dem Parlament, der Verhaftung der
gewählten Regierung, wie das in manchen Ländern des Südens
tatsächlich immer wieder geschieht. So schreiben die beiden
Harvard-Professoren Steven Levitzky und Daniel Ziblatt in
ihrem Bestseller „Wie Demokratien sterben“: Die Abschaffung
der Demokratie tarne sich als Rettung der Demokratie und gehe
von deren gewählten Repräsentanten aus. So habe das Chávez
in Venezuela betrieben, Putin in Russland, Orbán in Ungarn.
Und so, fürchteten die Autoren im Jahr 2018, dem zweiten Jahr
der Amtszeit Trumps, als das Buch erschien, drohe das auch mit
Trump zu kommen: Dass einer, der sich selbst zum Außenseiter
erklärt, die Institutionen als morsch und korrupt denunziere
und die Gewaltenteilung als Hemmnis für entschlossenes
Regieren – und deshalb beides entmachte oder ganz abschaffe.
Und dabei dem Volk verspreche, ihm die ganze Macht
zurückzugeben, wobei er sich selbst als Verkörperung dieses
Volks betrachte.


Es ist so weit nicht gekommen: Das war der Trost des Buchs. Es
könnte nach der Wiederwahl Trumps geschehen: Das ist Robert
Kagans Warnung. Die Prozesse, zu denen er persönlich
erscheinen und wo er, wenn er nicht gefragt wird, schweigen
muss; die offenkundige Anstiftung zum Aufruhr am 6. Januar
2021, all das werde Trump nicht schwächen, sondern stärken:
weil er, wenn er unbestraft davonkommt, die Impotenz der
Justiz bewiesen haben wird. Und wenn sie ihn verurteilen, wird
die Antwort seiner Anhänger dem Bürgerkrieg sehr ähnlich
sehen.


Schon nennt Trump seinerseits Joe Biden einen Diktator und
Chinesenknecht – und wenn er gewinne, schreibt Kagan, werde
Trump sich rächen wollen, mit einer Wucht, die auch der
Kongress nicht werde aufhalten können. Zumal Trump, anders
als in seiner ersten Amtszeit, jetzt über eine Mannschaft
verfüge, über willige Funktionäre und Bürokraten, die ihm
jeden Wunsch erfüllen würden. Wenn der Antidemokrat erst
einmal an der Macht sei, so klingt das bei Kagan wie bei
Levitzky und Ziblatt, offenbare sich, dass das System
Demokratie darauf angewiesen sei, dass die Akteure seine
Normen respektierten. Einer wie Trump, der auf sie pfeift, sei
nicht vorgesehen. Und schon deshalb in der stärkeren Position.
Wo bleibt da aber das Volk, möchte man fragen, wieso sollten
die Amerikaner, die doch angeblich ihre Freiheit mehr als alles
andere lieben, sich die Tyrannei eines seltsamen alten Mannes
mit schlechten Manieren gefallen lassen?


Es kann sein, dass man eine der Antworten am anderen Ende
der Welt findet, in Russland oder in den beiden Büchern, die
der britisch-russische Autor und Journalist Peter Pomerantsev
über russische Massenkommunikation und Politik geschrieben
hat.


Von 2006 an arbeitete Pomerantsev fürs russische Fernsehen.
Und lernte dort, dass alle Unterhaltung darauf angelegt war,
jedem Realismus die Grundlage zu entziehen. „Nichts ist wahr,
alles ist möglich“, heißt das Buch, in dem Pomerantsev
beschreibt, wie es nur darum ging, das Publikum einem solchen
Quatsch, einem so monströsen Irrsinn auszusetzen, dass
sämtliche moralischen Koordinaten verblassten. Und in „Das ist
keine Propaganda“ schildert Pomerantsev eine Strategie, deren
Ziel es nicht ist, eine Lüge an die Stelle der Wahrheit zu setzen.
Sondern die schon die Möglichkeit der Wahrheit zerstören und
der Idee einer verbindlichen Wirklichkeit die Grundlage
entziehen will. Bis nur noch eine Stimme bleibt, der man
unbedingt glauben muss: die des Herrschers im Kreml.


Das amerikanische Volk lässt sich nicht so leicht kontrollieren.
Aber amüsieren will es sich auch, und Donald Trump ist als
Entertainer, als Unterhaltungskünstler eine Klasse für sich. Es
ist ja sein Hauptberuf; als Immobilienentwickler war er nie das
Genie, als das er sich aufgespielt hat, und als er Anfang der
Neunziger pleite war, bekam er von den Banken 450.000 Dollar
im Monat, damit er den Tycoon glaubwürdig spielen konnte.
Und nur damit hat er jemals Geld verdient: Dass er den großen
Immobilienunternehmer, der er nicht war, umso glaubwürdiger
spielte, in der Fernsehserie „The Apprentice“, die man auch
deshalb keine Reality-Serie nennen kann. Die Leute, die Trump
am Ende jeder Folge feuerte, waren echt. Nur er war es eben
nicht.


Und genau so muss man den ganzen Trump verstehen: als
einen Mann, für den die Grenze zwischen den Fakten und den
Fiktionen keine Gültigkeit hat. Wenn er sie überhaupt erkennen
kann. Er lobt Xi Jinping als starken Führer und verteufelt ihn
als seinen schlimmsten Gegner. Er sagt, er hätte Russlands
Angriff auf die Ukraine an einem einzigen Verhandlungstag
verhindert. Er erklärt sich zum Mann des Volks, zum Hüter der
Demokratie und schwärmt von Autokraten wie Orbán oder
Erdoğan. Joe Biden, sagt er, regiere diktatorisch, und Justiz,
Polizei, Geheimdienste hätten sich verschworen, ihn von der
Macht, die ihm legitimerweise zustehe, für immer fernzuhalten.
Geht es ihm darum, dass die Leute das glauben? Oder nur
darum, dass die Leute nichts mehr glauben. Und sich dann an
den halten, der die bessere Show verspricht.


Die russische Arbeitsteilung, wie sie Pomerantsev beschreibt,
zwischen den Massenmedien, die das Volk verblöden, und dem
Herrscher, der davon profitiert, ist jedenfalls nichts für Donald
Trump. Er kann beides, verblöden und von der Verblödung
profitieren. Er ist der semifiktionale Held, in dessen trivialen
Erzählungen solch nervige und komplizierte Phänomene wie
Gewaltenteilung, unabhängige Justiz oder Minderheitenrechte
von der Action nur ablenken.


In einem populären Video bei Youtube ist zu sehen, wie ein
kleiner Junge fragt: „Mr Trump, are you Batman?“ Trump
grinst und antwortet: „Yes, I am Batman“, was eine seiner
charmanteren Lügen ist. Denn Donald Trump ist eine viel
zeitgemäßere Figur: Bis vor Kurzem war fast die gesamte
amerikanische Fiktionsproduktion den Rechten der
amerikanischen Verfassung verpflichtet – was so weit ging, dass
auch in Filmen, die lange vor der Gründung der Vereinigten
Staaten spielten, in „King Arthur“ oder dem „Gladiator“, das
Recht auf Leben, Freiheit, das Streben nach Glück gefordert
wurde. Schon weil Chronologie keine Entschuldigung dafür war,
diese Rechte den alten Römern oder Briten vorzuenthalten.
Mit der fortgeschrittenen Globalisierung hat sich das erledigt.
Die Filme müssen ihr Geld auch in China einspielen, die Serien
sollen in autokratisch regierten Ländern laufen, da darf man
von Menschen- und Bürgerrechten nicht zu viel Aufhebens
machen: Im Universum der marktbeherrschenden Marvel-
Filme mit ihren apolitischen und autoritären Helden gelten
weder Freiheitsrechte noch Naturgesetze; das ist der Kontext, in
dem man den Mann mit den orangefarbenen Haaren verstehen
muss. „Are you Drax the Destroyer, Mr Trump?“


Bei Robert Kagan liest es sich so, als gäbe es einen sehr smarten
und präzisen Plan zur Abschaffung der Demokratie in Amerika.
Beim Betrachten von Trumps Reden und Auftritten, beim Lesen
seiner Posts denkt man, dass noch der beste Plan an Trumps
Charakter scheitern wird: weil Trump zu sprunghaft ist, zu
verrückt und längst von altersbedingter Konzentrationsschwäche geplagt. Womöglich werden sich aber der Plan seiner Leute und Trumps Planlosigkeit ergänzen. Dass er herrschen will, ungebremst von allen Institutionen, und dass
er seine Gegner vernichten will: das sagt Trump selbst. Dass
ihm das gelingen könnte, wird womöglich auch daran liegen,
dass kaum jemand das wirklich wahrhaben wird: weil selbst
seine Gegner sich nur auf die böse, unberechenbare, empörende
semifiktionale Show Donald Trumps konzentrieren werden.
Und nicht auf die Tatsachen, die im Hintergrund seine Leute
schaffen.


Am ersten Weihnachtstag hat Trump einen Post veröffentlicht,
in dem er allen „Merry Christmas“ wünschte, auch dem
„krummen“ Joe Biden, dem „geistesgestörten“ Sonderermittler
Jack Smith sowie all den Schurken im In- und Ausland, die er
für die Inflation, die Kriege und die vielen Elektroautos
verantwortlich macht. „Mögen sie in der Hölle verrotten!“ Das
klang nicht siegessicher. Das klang, als ergriffe ihn manchmal
die Angst vor seinen eigenen Fiktionen. Claudius Seidl

Amerika vor der Trump-Diktatur

Von Robert Kagan

Blätter 1/2024, S.43

Wohl kaum ein Text hat zuletzt international derart für Aufsehen gesorgt wie die jüngste Inter- vention von Robert Kagan in der „Washington Post“. Unter dem Titel „A Trump dictatorship is increasingly inevitable. We should stop pretending“ warnte er dort am 30. November 2023 vor dem Ende der US-Demokratie. Diese Aufmerksamkeit verdankt sich zu einem nicht geringen Teil dem Verfasser, der viele entscheidende Debatten der vergangenen Jahrzehnte maßgeblich mitgeprägt hat. Unter Ronald Reagan Berater im US-Außenministerium wurde Kagan um die Jahrtausendwende als Vordenker der Neokonservativen bekannt (vgl. seinen Text Macht und Schwäche, „Blätter“, 10/2002). Später avancierte er zu einem scharfen, liberalkonservativen Trump-Kritiker und plädierte für eine Abkehr von der „America-First“-Politik (vgl. Zur Super- macht verdammt, „Blätter“, 4/2021). Wir präsentieren Kagans Text in deutscher Erstveröffent- lichung. Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von Thomas Greven.

Beenden wir das Wunschdenken und stellen wir uns der harten Realität: Es gibt einen klaren Pfad zu einer Diktatur in den USA und er verkürzt sich jeden Tag. In wenigen Wochen wird sich Donald Trump die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten der Republikaner gesichert haben. Die Vor- stellung, dass er unwählbar wäre, ist Unfug – in allen jüngsten Umfragen liegt er mit Präsident Joe Biden gleichauf oder führt sogar –, was den ande- ren republikanischen Herausforderern den selbsterklärten Grund nimmt, gegen ihn anzutreten. Das Argument, dass viele Amerikaner andere Kandi- daten bevorzugen könnten, um das Experten wie Karl Rove so viel Tamtam machen, wird bald irrelevant werden, wenn sich Millionen republikanischer Wähler an den Urnen für die Person entscheiden, die angeblich niemand will.

Seit vielen Monaten leben wir nun in einer Welt der Selbsttäuschung, voller imaginierter Möglichkeiten. Vielleicht wird es Ron DeSantis werden oder vielleicht Nikki Haley. Vielleicht werden die unzähligen Anklagen gegen Trump ihm bei republikanischen Vorstadtbewohnern zum Verhäng- nis. Diese hoffnungsvollen Spekulationen haben uns erlaubt, passiv durchs Leben zu gleiten, wie gewohnt unsere Alltagsgeschäfte zu verrichten, ohne dramatische Versuche zu unternehmen, den Kurs zu ändern, immer in der Hoffnung und Erwartung, dass etwas passieren wird. Wir sind wie Menschen auf einem Flussschiff, die seit langem wissen, dass vor ihnen ein Wasserfall liegt, aber annehmen, dass sie es irgendwie ans Ufer schaffen werden, bevor sie über die Klippe stürzen. Aber nun wirken die Manöver, die uns ans Ufer bringen könnten, immer schwieriger, wenn nicht gar völlig unmöglich.

 Die Phase des magischen Denkens geht zu Ende. Wenn kein Wunder geschieht, wird Trump bald der republikanische Präsidentschaftskandidat sein. Wenn dies eintritt, wird es zu einer schnellen und dramatischen Ver- schiebung in der politischen Machtdynamik kommen, zu seinen Gunsten. Bis jetzt haben sich Republikaner und Konservative relativ frei gefühlt, Anti- Trump-Ansichten zu äußern, offen und positiv über alternative Kandidaten zu sprechen und Kritik an Trumps früherem und aktuellen Verhalten zu üben. Geldgeber, die Trump geschmacklos finden, konnten ihre Spenden frei an seine Konkurrenten verteilen, um ihnen zu helfen. Establishment-Repu- blikaner haben kein Geheimnis aus ihrer Hoffnung gemacht, dass Trump verurteilt und so aus der Konkurrenz genommen wird, ohne dass sie sich gegen ihn positionieren müssten.

All dies wird enden, sobald Trump am Super Tuesday gewinnt, wenn am 5. MärzVorwahlen in mehr als einem Dutzend Bundesstaaten stattfinden. In unserem System sind Stimmen die Währung der Macht, und das Geld folgt ihnen. Daran gemessen wird Trump schon bald mächtiger sein, als er es ohnehin schon ist. Die Zeit, um nach Alternativen zu fischen, läuft ab. In der nächsten Phase werden sich die Menschen den Realitäten anpassen.

Tatsächlich hat dies schon begonnen. Da seine Nominierung unausweich- lich wird, springen die Geldgeber von anderen Kandidaten Richtung Trump. Die jüngste Entscheidung des politischen Netzwerks des Milliardärs Charles Koch, die republikanische Hoffnungsträgerin Nikki Haley zu unterstützen, ist wohl kaum ausreichend, um diesen Trend zu stoppen. Und warum nicht? Wenn Trump der Kandidat wird, ist es sinnvoll, früh auf seinen Zug aufzu- springen, solange er Überläufern noch dankbar ist. Selbst Anti-Trump-Geld- geber müssen sich fragen, ob ihren Anliegen am besten gedient ist, wenn sie jenen Mann meiden, der eine reelle Chance hat, der nächste Präsident zu werden. Werden Konzernchefs die Interessen ihrer Aktionäre aufs Spiel set- zen, nur weil sie Trump hassen? Es überrascht nicht, dass Menschen, denen es um bare Münze geht, die ersten sind, die das Pferd wechseln.

Der Rest der republikanischen Partei wird ihnen schnell folgen. Roves kürzliche Ermahnung, dass Wähler in den Vorwahlen doch bitte alle außer Trump unterstützen sollen, ist vermutlich der letzte Appell dieser Art von jemandem, der noch eine Zukunft in der Partei hat. Selbst in einem normalen Wahlkampf verschwindet der innerparteiliche Zwist, sobald die Vorwahlen einen klaren Gewinner ergeben. Die meisten führenden Kandidaten haben bereits zugesichert, Trump zu unterstützen, wenn er Präsidentschaftskandi- dat wird, noch bevor dieser eine einzige Vorwahlstimme gewonnen hat. Stel- len Sie sich deren Position vor, wenn er am Super Tuesday das Feld abräumt. Die meisten Kandidaten, die jetzt gegen ihn antreten, werden schnell zu ihm überlaufen und sich um seine Gunst streiten. Nach dem Super Tuesday wird es nämlich für einen Republikaner keinen sichereren und kürzeren Pfad zur Präsidentschaft geben, als der loyale Vizepräsidentschaftskandidat eines Mannes zu sein, der im Jahr 2028 seinen 82. Geburtstag feiern wird.

Republikaner, die die Trump-Ära überstehen wollten, indem sie ihre Ansprachen an jene, die Trump nicht wählen wollen, mit wiederholten Loyalitätsbekundungen an Trump verbanden, werden dieses Theater beenden. Schon heute ist es für Republikaner gefährlich, sich negativ über Trump zu äußern, und es wird unmöglich werden, sobald er die Nominierung unter Dach und Fach hat. Die Partei wird dann vollständig im Wahlkampfmodus sein und alles dem Rennen ums Präsidentenamt unterordnen. Welcher Repu- blikaner wird sich Trump dann noch widersetzen? Wird die Meinungsre- daktion des „Wall Street Journal“, die sich ziemlich deutlich gegen Trump positioniert, dies weiterhin tun, wenn er der Kandidat ist und es um die Wahl zwischen ihm und Biden geht? Es wird keinen innerparteilichen Streit mehr geben, nur noch den Kampf auf Sieg, kurz: eine riesige Welle der Unterstützung für Trump aus allen Richtungen. Ein Gewinner ist ein Gewinner. Und ein Gewinner, der eine reelle Chance hat, über alle Macht zu verfügen, über die man in der Welt verfügen kann, wird Unterstützung bekommen, egal wer er ist. Das ist die Natur der Macht, zu jeder Zeit, in jeder Gesellschaft.

Aber Trump wird nicht nur seine Partei dominieren. Er wird wieder die volle Aufmerksamkeit aller auf sich ziehen. Selbst heute können die Medien kaum widerstehen, jede von Trumps Aussagen und Handlungen zu doku- mentieren. Sobald er sich die Nominierung gesichert hat, wird er sich wie ein Koloss über dem Land auftürmen, und über all seine Aussagen und Gesten wird endlos berichtet werden. Schon jetzt versuchen große Medien, darunter die „Washington Post“ und NBC News, gemeinsam mit Trumps Anwälten durchzusetzen, dass sein Strafverfahren vor dem Bundesgericht in Washing- ton im Fernsehen übertragen wird. Trump will das Verfahren dazu nutzen, seine Kandidatur anzukurbeln und das US-Justizsystem als korrupt zu dis- kreditieren – und die Medienunternehmen, die ihre eigenen Interessen ver- folgen, helfen ihm dabei.

Der Vorteil des Systemsprengers

Trump wird also mit Rückenwind in den Hauptwahlkampf eintreten, ausge- stattet mit wachsenden politischen und finanziellen Ressourcen und unter- stützt von einer zunehmend geeinten Partei. Kann man dasselbe von Biden sagen? Ist es wahrscheinlich, dass Bidens Macht während der nächsten Monate zunehmen wird? Wird seine Partei die Reihen hinter ihm schließen? Oder werden die bereits großen Sorgen und Zweifel unter Demokraten noch weiter zunehmen? Schon heute kämpft der Präsident mit einem zweistelli- gen Rückgang der Zustimmung unter schwarzen Amerikanern und jüngeren Wählern. Jill Stein und Robert F. Kennedy Jr. bedrohen mit ihren Kandida- turen auf der populistischen Linken außerhalb der Demokratischen Partei hauptsächlich Biden. Sollte der Demokrat Joe Manchin, der seinen Senats- sitz für West Virginia nicht verteidigen will, tatsächlich für eine Drittpartei um die Präsidentschaft kandidieren, wäre das für Biden möglicherweise ver- heerend. Die demokratische Wählerkoalition bleibt vermutlich gespalten, während die Einigkeit der Republikaner wächst und Trump seine Kontrolle festigt.

 Biden genießt nicht die üblichen Vorteile eines Amtsinhabers. Denn schließ- lich ist auch Trump praktisch ein Amtsinhaber. Biden kann also nicht die übliche Behauptung aufstellen, die Wahl seines Gegners sei ein Sprung ins Ungewisse. Nur wenige Republikaner betrachten die Präsidentschaft Trumps als ungewöhnlich oder als einen Misserfolg. In seiner ersten Amtszeit haben die respektierten „Erwachsenen“ in seinem Umfeld nicht nur einige seiner gefährlichsten Impulse blockiert, sondern sie auch vor der Öffentlichkeit ver- steckt. Bis heute sprechen sich einige dieser Amtsträger nur selten öffent- lich gegen ihn aus. Warum sollten republikanische Wähler ein Problem mit Trump haben, wenn jene, die ihm gedient haben, das nicht tun? Ganz egal was Trumps Gegner denken, dies wird eine Schlacht zwischen zwei bewähr- ten und legitimen Präsidenten werden.

Zugleich genießt Trump den üblichen Vorteil dessen, der nicht im Amt ist: die Abwesenheit von Verantwortung. Wie jeder Amtsinhaber muss Biden die Probleme der Welt wie einen Mühlstein um seinen Hals tragen, aber wenigs- tens können die meisten Amtsinhaber behaupten, dass ihre Gegner zu uner- fahren seien, als dass man ihnen diese Krisen anvertrauen könne. Biden kann das nicht. Als Trump im Amt war, gab es keine umfassende Invasion der Ukraine, keinen großangelegten Angriff auf Israel, keine galoppierende Inflation, keinen katastrophalen Rückzug aus Afghanistan. Es ist schwierig, diejenigen von Trumps Untauglichkeit zu überzeugen, die das nicht ohnehin schon glauben.

Zudem erfreut sich Trump einiger Vorteile, die für einen Herausforderer ungewöhnlich sind. Nicht einmal Ronald Reagan hatte „Fox News“ und den Sprecher des Repräsentantenhauses auf seiner Seite. Kurzum: Sofern es strukturelle Vorteile bei der kommenden Wahl gibt, begünstigen sie Trump. Und das ist schon so, ohne dass wir auf das Problem zu sprechen kommen, das Biden gar nicht lösen kann: sein Alter.

Trump genießt noch einen weiteren Vorteil. Weniger als ein Jahr vor der Wahl herrscht landesweit eine überparteiliche Abscheu gegenüber dem politischen System im Allgemeinen. Nur selten in der US-Geschichte war die der Demokratie innewohnende Unordnung so unübersehbar. Während der Weimarer Republik profitierten Hitler und andere Agitatoren vom Zank der demokratischen Parteien, rechts wie links, vom endlosen Streit über den Haushalt, von den Blockaden im Parlament, den fragilen und zerstrittenen Koalitionen. Die deutschen Wähler sehnten sich zunehmend nach jeman- dem, der das Ganze durchbrechen und etwas – irgendwas – hinkriegen würde. Es spielte keine Rolle, wer für die politische Lähmung verantwortlich war, ob die Unnachgiebigkeit von rechts oder von links kam.

Heute mögen die Republikaner für Washingtons Dysfunktionalität verant- wortlich sein, und es kann sein, dass sie bei Wahlen dafür unterhalb der Prä- sidentschaftsebene einen Preis bezahlen. Aber Trump profitiert von der Dys- funktionalität, weil er derjenige ist, der eine einfache Antwort anbietet: sich. Bei dieser Wahl gibt es nur einen Kandidaten, der sich mit dem Programm bewirbt, eine nie dagewesene Machtfülle zu nutzen, um die Dinge zu erledi- gen, zur Hölle mit den Regeln. Und eine wachsende Zahl von Amerikanern

in beiden Parteien behauptet, das zu wollen. Trump tritt gegen das System an. Biden ist die lebende Verkörperung des Systems. Vorteil: Trump.

Das führt uns zu Trumps sich ausweitenden juristischen Schlachtfeldern. Ohne Zweifel hätte er den Wahlkampf lieber geführt, ohne sich die meiste Zeit gegen Versuche wehren zu müssen, ihn ins Gefängnis zu stecken. Und doch wird Trump im Gerichtssaal zeigen, über welch ungewöhnliche Macht er im politischen System der USA verfügt.

Jenen, die Trump vor Gericht gebracht haben, kann man nur schwer einen Vorwurf machen. Er hat sicherlich mindestens eines der Verbrechen began- gen, derer er angeklagt ist. Wir brauchen kein Gerichtsverfahren, um zu wis- sen, dass Trump versucht hat, das Wahlergebnis von 2020 zu kippen. Man kann es auch jenen nicht verübeln, die Trump so den Weg zurück ins Oval Office verstellen wollten. Wenn ein Räuber durch dein Haus stürmt, wirst du mit allem, was du hast, nach ihm werfen – Töpfe, Pfannen, Kerzenständer –, in der Hoffnung, ihn zu verlangsamen und zu Fall zu bringen. Aber das heißt nicht, dass es klappt.

Die Gerichte und der Rechtsstaat werden Trump nicht einhegen. Im Gegenteil, er wird die Gerichtsverhandlungen nutzen, um seine Macht zu demonstrieren. Deshalb will er, dass sie im Fernsehen übertragen werden. Trumps Macht rührt aus seiner Gefolgschaft, nicht aus den Institutionen der US-Demokratie, und seine ihm ergebenen Wähler lieben ihn, eben weil er Linien überschreitet und alte Grenzen ignoriert. Sie fühlen sich dadurch ermächtigt, und das ermächtigt wiederum ihn. Bevor die Verhandlungen überhaupt begonnen haben, spielt er mit den Richtern, zwingt sie zu Versu- chen, ihn mundtot zu machen, indem er sich ihren Anordnungen widersetzt. Er ist ein wenig wie King Kong, der die Ketten an seinen Armen testet und fühlt, dass er sich jederzeit befreien kann, wenn er will.

Wer kann Trumps Macht begrenzen?

Und warten Sie nur, bis die Stimmen massenhaft zugunsten Trumps einge- hen. Werden Richter den mutmaßlichen Kandidaten der Republikaner wegen Missachtung des Gerichts ins Gefängnis stecken? Sobald klar ist, dass sie das nicht tun werden, verschiebt sich die Machtbalance im Gerichtssaal und im ganzen Land wieder zugunsten von Trump. Als wahrscheinlichstes Resul- tat der Gerichtsverhandlungen wird sich erweisen, dass unser Justizsystem nicht fähig ist, jemanden wie Trump einzuhegen – und nebenbei auch dessen Untauglichkeit als Kontrollinstanz, sollte Trump wieder Präsident werden. Trump dafür anzuklagen, dass er versucht hat, die Regierung zu stürzen, ist so, als ob man Caesar für das Überschreiten des Rubikon angeklagt hätte – und wird ähnlich effektiv sein. Wie Caesar verfügt Trump über eine Macht, die über die Gesetze und Institutionen des Staates hinausgeht, basierend auf der unerschütterlichen persönlichen Loyalität seiner Armee von Anhängern.

Ich erwähne all dies nur, um eine einfache Frage zu beantworten: Kann Trump die Wahl gewinnen? Wenn nicht etwas Radikales und Unvorhergesehenes passiert, lautet die Antwort: Natürlich kann er das. Wenn dem nicht so wäre, befände sich die Demokratische Partei nicht in wachsender Panik.

Falls Trump die Wahl tatsächlich gewinnt, wird er sofort zur mächtigsten Person, die dieses Amt jemals bekleidet hat. Er verfügt dann nicht nur über die beeindruckende Macht der US-Exekutive – eine Macht, über deren seit Jahrzehnten wachsende Ausweitung sich Konservative früher beschwert haben –, sondern ihm werden auch die wenigsten Schranken gewiesen wer- den, die ein Präsident jemals zu gewärtigen hatte, weniger noch als in seiner ersten Amtszeit.

Was begrenzt diese Macht? Die offensichtlichste Antwort ist: die Institutio- nen der Justiz – die Trump allerdings bis zur Wahl alle missachtet und damit als machtlos offenbart haben wird. Ein Rechtssystem, das Trump als Privat- person nicht kontrollieren konnte, wird ihn nicht besser kontrollieren, wenn er der US-Präsident ist und seinen eigenen Justizminister und Generalstaats- anwalt ernennen kann sowie alle anderen ranghohen Beamten des Justizmi- nisteriums. Bedenken Sie, welche Macht ein Mann hat, der es schafft, trotz Anklagen, mehrfacher Gerichtstermine und vielleicht sogar Verurteilungen gewählt zu werden. Würde er einer Anweisung des Obersten Gerichtshofs überhaupt Folge leisten? Oder würde er stattdessen fragen, über wie viele Panzerdivisionen der Vorsitzende des Gerichts denn verfügt?

Wird ihn der Kongress stoppen? Präsidenten können heute eine Menge ohne Zustimmung des Kongresses erreichen, wie sogar Barack Obama gezeigt hat. Die eine Kontrollfunktion, die der Kongress gegenüber einem skrupellosen Präsidenten hat, nämlich Impeachment und Amtsenthebung, hat sich de facto bereits als undurchführbar erwiesen – sogar als Trump nicht mehr im Amt war und nur noch über vergleichsweise geringe institutionelle Macht über seine Partei verfügte.

Eine andere traditionelle Begrenzung der Macht des Präsidenten sind die Bundesbehörden, dieser gewaltige Apparat mit Karrierebeamten, die Gesetze ausführen und unter jedem Präsidenten die Regierungsgeschäfte erledigen. Sie sind üblicherweise damit beschäftigt, die Optionen eines jeden Präsidenten zu begrenzen. Wie Harry S. Truman es einmal formuliert hat: „Armer Ike [Dwight Eisenhower, sein Nachfolger im Weißen Haus]. Er wird sagen ‚macht dies‘ und ‚macht das‘ und gar nichts wird passieren.“ Dies war ein Problem für Trump während seiner ersten Amtszeit, weil er kein eige- nes Regierungsteam hatte, das die Regierungsämter hätte besetzen können. Das ist nun anders. Wer sich entscheidet, in seiner zweiten Amtszeit für seine Regierung zu arbeiten, wird das nicht mit der unausgesprochenen Absicht tun, sich der Ausführung seiner Wünsche zu widersetzen. Setzt sich der kon- servative Thinktank Heritage Foundation durch, und davon ist auszugehen, werden viele dieser Karrierebeamten mit Leuten ersetzt werden, deren Loya- lität zu Trump man sehr gründlich geprüft hat.

Was ist mit dem Wunsch, wiedergewählt zu werden, ein Faktor, der die meisten Präsidenten beschränkt? Vielleicht will Trump keine dritte Amts- zeit, aber falls er doch eine anstreben sollte, wie er es manchmal angedeutet hat – könnten ihn dann der 22. Verfassungszusatz, der die Amtszeiten des Präsidenten auf zwei begrenzt, oder der Oberste Gerichtshof effektiv davon abhalten, Präsident auf Lebenszeit zu werden? Warum sollte für einen Mann wie Trump – oder vielleicht wichtiger: für seine treuen Anhänger – dieser Verfassungszusatz unverletzlicher sein als irgendein anderer Teil der Ver- fassung?

Eine letzte Beschränkung für Präsidenten ist ihr Bedürfnis nach einem glanzvollen Vermächtnis, das traditionell grob am Wohlergehen des Landes gemessen wird. Aber ob das Trumps Denkweise ist? Ja, Trump mag sich ein großartiges Vermächtnis wünschen, aber er sehnt sich, genau genommen ,nur nach eigenem Ruhm. So wie Napoleon vom Ruhm Frankreichs sprach, aber das Land mit seinen eng auf sich und seine Familie zielenden Ambi- tionen in den Ruin führte, beginnen und enden Trumps Ambitionen bei sich selbst, obwohl er davon spricht, Amerika wieder groß zu machen. Was seine Anhänger betrifft: Für sie muss er nichts erreichen, um ihre Unterstützung zu erhalten – dass es ihm nicht gelang, während seiner ersten Amtszeit die Mauer zu bauen, schadete seiner Beliebtheit bei den Millionen seiner Loya- listen überhaupt nicht. Sie haben von ihm nie etwas anderes gefordert, als über die Kräfte zu triumphieren, die sie in der US-Gesellschaft hassen. Und wir können sicher sein, dass dies Trumps vorrangige Mission als Präsident sein wird.

Trumps Rachegelüste und die Gefahr eines neuen McCarthyismus

Nachdem wir die Frage beantwortet haben, ob Trump gewinnen kann, kön- nen wir uns nun mit der dringendsten Frage beschäftigen: Wird seine Präsi- dentschaft zu einer Diktatur werden? Auch dafür stehen die Chancen ziem- lich gut.

Stellen wir uns vor, was Trump durch den Kopf geht und wie seine Laune nach einem Wahlsieg wäre. Er wird dann mehr als ein Jahr damit verbracht haben, gegen eine Gefängnisstrafe zu kämpfen, geplagt von zahllosen Ver- folgern und nicht in der Lage, zu tun, was er am liebsten tut: Rache zu üben. Stellen Sie sich die Wut vor, die er angesammelt haben wird, eine Wut, die er aus seiner Sicht vorbildlich im Zaum gehalten hat. Wie er einmal gesagt hat: „Ich glaube, ich habe mich gemäßigt, wenn Sie die Wahrheit wissen wollen. Ich könnte wirklich deutlicher sein.“ In der Tat, das könnte er – und das wird er. Wir haben einen Eindruck von seinem großen Rachedurst bekommen, als er am Tag der Veteranen versprach, „die Kommunisten, Marxisten, Faschis- ten und linksradikalen Schläger auszurotten, die wie Ungeziefer in den Grenzen unseres Landes leben, die lügen, stehlen und Wahlbetrug begehen, und die alles tun werden, ob legal oder illegal, um Amerika und den ame- rikanischen Traum zu zerstören“. Beachten Sie die Gleichsetzung von sich selbst mit „Amerika und dem amerikanischen Traum“. Er glaubt, dass man ihn zerstören will, und als Präsident wird er sich revanchieren.

Wie wird das aussehen? Trump hat bereits die Namen von einigen genannt, die er nach seiner Wiederwahl aufs Korn nehmen will: Hohe Beamte seiner ersten Amtszeit wie General a.D. John F. Kelly, General Mark A. Milley, den ehemaligen Justizminister und Generalstaatsanwalt William P. Barr und andere, die sich nach der Wahl 2020 gegen ihn geäußert haben; Beamte beim FBI und bei der CIA, die an der Russland-Untersuchung beteiligt waren; Beamte des Justizministeriums, die sich seiner Forderung verweigert haben, die Wahl von 2020 zu kippen; Mitglieder des Untersuchungsausschusses zum 6. Januar 2021; Gegner aus der Demokratischen Partei wie den Abgeordne- ten Adam B. Schiff; und Republikaner, die für sein Impeachment und seine Verurteilung gestimmt oder sich öffentlich dafür ausgesprochen haben.

Aber das ist nur der Anfang. Schließlich wird Trump nicht der Einzige auf Rachefeldzug sein. Seine Regierung wird voll von Leuten mit ihren eigenen Feindeslisten sein, eine entschlossene Gruppe „überprüfter“ Beamter, die es als ihre vom Präsidenten autorisierte Hauptaufgabe ansehen werden, die- jenigen im Staatsapparat „auszurotten“, denen man nicht vertrauen kann. Viele wird man schlicht entlassen, aber andere wird man Untersuchungen aussetzen, die ihre Karrieren zerstören. Die Regierung Trump wird von Leuten besetzt sein, die genauso wenig expliziter Anweisungen von Trump bedürfen wie Hitlers lokale Gauleiter. Unter diesen Bedingungen arbeiten Menschen „dem Führer entgegen”, das heißt, sie antizipieren dessen Wün- sche und versuchen, seine Gunst durch Handlungen zu erlangen, von denen sie glauben, dass sie ihn zufriedenstellen, womit sie zugleich ihren eigenen Einfluss und ihre eigene Macht ausweiten.

Es wird auch nicht schwierig sein, etwas zu finden, womit man Opposi- tionelle belangen kann. In unserer Geschichte gibt es unglücklicherweise zahlreiche Beispiele von Beamten, die ungerechterweise unter Beschuss gerieten, weil sie zur falschen Zeit die falsche Position zu einem bestimmten Thema vertreten haben – die „China Hands“ der späten 1940er Jahre zum Beispiel, deren Karrieren zerstört wurden, weil sie zufällig zum Zeitpunkt der chinesischen kommunistischen Revolution einflussreiche Positionen besetzten. Heute liegt der Geruch eines neuen McCarthyismus in der Luft. MAGA-Republikaner behaupten felsenfest, dass Biden ein „Kommunist“ ist, dass seine Wahl eine „kommunistische Machtübernahme“ war und dass seine Regierung ein „kommunistisches Regime“ ist.

Es ist deshalb nicht überraschend, dass Biden angeblich eine „Agenda zugunsten der Kommunistischen Partei Chinas“ verfolgt, wie es Cathy McMorris Rodgers, die mächtige republikanische Vorsitzende des Ener- gie- und Handelsausschusses des Repräsentantenhauses, in diesem Jahr formulierte, und dass er gezielt „amerikanische Führung und Sicherheit an China abgibt“. Republikaner werfen ihren Gegnern derzeit routinemäßig vor, bezüglich der wachsenden Macht Chinas nicht nur naiv oder zu wenig aufmerksam, sondern tatsächlich „Sympathisanten“ Pekings zu sein. Die republikanische Abgeordnete Marjorie Taylor Greene tweetete zu Bidens Amtseinführung: Das „kommunistische China hat seinen Präsidenten […] China Joe“. Der republikanische Senator Marco Rubio nannte den Präsiden- ten „Peking-Biden“. Und der republikanische Kandidat für den Senatssitz von New Hampshire bezeichnete sogar den republikanischen Gouverneur des Staates, Chris Sunuu, als „Sympathisanten der kommunistischen Partei Chinas“. Wenn der Krieg gegen den „Staat im Staate“ richtig losgeht, können wir mehr davon erwarten. Laut dem republikanischen Senator Josh Hawley gibt es eine Intrige von Leuten, die die Sicherheit der USA untergraben wol- len, eine „Einheitspartei“ aus Eliten der „Neokonservativen auf der Rech- ten“ und der „linksliberalen Globalisten auf der Linken“, die keine richtigen Amerikaner sind und deshalb nicht die wahren Interessen Amerikas verfol- gen. Kann solch „antiamerikanisches“ Verhalten kriminalisiert werden? Das ist in der Vergangenheit geschehen und kann wieder passieren.

Wer wird für die Verfolgten einstehen?

Die Regierung Trump wird also viele Möglichkeiten haben, ihre echten und gefühlten Gegner zu verfolgen. Denken wir an all die Gesetze, die der Bun- desregierung gewaltige Kompetenzen verleihen, Menschen wegen mögli- cher terroristischer Verbindungen zu beobachten, ein Tatbestand, der gefähr- lich flexibel auslegbar ist. Hinzu kommen all die regulären Möglichkeiten, gegen Menschen aufgrund behaupteter Steuerhinterziehung oder von Ver- stößen gegen Gesetze zur Registrierung von Auslandsvertretern zu ermit- teln. Die Steuerbehörde IRS hat unter Regierungen beider Parteien gelegent- lich geprüft, ob Thinktanks ihre Steuerbefreiung verlieren sollten, weil sie sich für die Politik einsetzen, die mit den Positionen der politischen Parteien übereinstimmen. Was wird mit dem Thinktank-Beschäftigten geschehen, der während einer zweiten Amtszeit Trumps das Argument vertritt, man solle den Druck auf China verringern? Oder mit dem Regierungsbeamten, der unbesonnen genug ist, solche Ideen in Regierungspapieren festzuhalten? Mehr war in den 1950er Jahren nicht nötig, um Karrieren zu zerstören.

Und wer wird unzulässige Ermittlungen und Klagen gegen Trumps viele Feinde stoppen? Der Kongress? Ein republikanischer Kongress wird mit sei- nen eigenen Untersuchungen beschäftigt sein, wird von seiner Befugnis Gebrauch machen, Menschen vorzuladen, ihnen alle möglichen Verbrechen vorwerfen, genau wie jetzt. Wird es eine Rolle spielen, ob die Vorwürfe halt- los sind? Und selbstverständlich werden sie in manchen Fällen berechtigt sein, was den Anspruch auf eine größer angelegte Untersuchung von politi- schen Gegnern noch weiter rechtfertigen wird.

Wird „Fox News“ sie verteidigen oder stattdessen die Vorwürfe nur weiter verstärken? Die amerikanische Presse wird so gespalten bleiben wie heute, zwischen Organisationen, die auf Trump und sein Publikum zielen, und sol- chen, die das nicht tun. Aber in einem Regime, in dem der Herrscher erklärt hat, dass Medien „Feinde des Staates“ sind, wird sich die Presse unter erheb- lichem und konstantem Druck befinden. Eigentümer von Medienunterneh- men werden herausfinden, dass ihnen ein feindseliger und hemmungsloser Präsident das Leben auf ganz verschiedene Weise schwermachen kann.

Wer wird überhaupt für jemanden eintreten, der im öffentlichen Raum angeklagt wird, jenseits von Anwälten? Während einer Präsidentschaft Trumps wird es nicht weniger Mut erfordern, für so jemanden einzutreten wie dafür, gegen Trump selbst standzuhalten. Wie viele werden ihre Karrie- ren riskieren, um andere zu verteidigen? Wer wird in einer Nation, die seit jeher staatsskeptisch eingestellt ist, die Hand zugunsten der Rechte ehema- liger Beamter erheben, die zu Zielen von Trumps Justizministerium gewor- den sind? Für jene, die die Strafverfolgung legitimieren wollen, gibt es reich- lich Präzedenzfälle. Abraham Lincoln setzte das Recht auf die gerichtliche Anordnung von Verhaftungen (Habeas Corpus) aus, die Wilson-Regierung schloss Zeitungen und Zeitschriften, die dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg kritisch gegenüberstanden; Franklin D. Roosevelt befahl Razzien gegen japanischstämmige Amerikaner und internierte sie in Lagern. Für jede jemals begangene Übertretung jener Gesetze, die individuelle Rechte und Freiheiten schützen sollen, werden wir einen Preis bezahlen.

Wie werden die Amerikaner auf die ersten Zeichen eines Regimes der politischen Verfolgung reagieren? Werden sie sich vor Empörung erheben? Rechnen Sie nicht damit. Wer keinen Grund dafür gefunden hat, sich bei den Vorwahlen gegen Trump zu stellen, und keinen Grund, sich bei den Hauptwahlen gegen ihn zu stellen, wird kaum plötzlich zur gegenteiligen Erkenntnis kommen, wenn gegen einen ehemaligen Trump-nahen Beamten wie Milley wegen weiß Gott was ermittelt wird. Sie werden nur wissen, dass Ankläger des Justizministeriums, der Steuerbehörde IRS, des FBI und meh- rerer Kongressausschüsse sich mit der Sache befassen. Und wer sagt denn, dass jene, die da verfolgt werden, nicht wirklich Steuerbetrüger, chinesische Spione oder Perverse sind oder was auch immer man ihnen vorwirft? Wird die große Menge der Amerikaner diese Anschuldigungen überhaupt als Ver- folgung und als ersten Schritt zur Auslöschung der Opposition gegen Trump im ganzen Land erkennen?

Die Trump-Diktatur wird keine kommunistische Tyrannei sein, in der fast jeder die Unterdrückung zu spüren bekommt und wo jedermanns Leben davon geprägt wird. In konservativen, antiliberalen Tyranneien werden ganz normale Leute alle möglichen Einschränkungen ihrer Freiheiten gewärti- gen, aber dies wird für sie nur dann ein Problem sein, wenn sie diese Frei- heiten schätzen, und viele Menschen tun das nicht. Die Tatsache, dass diese Tyrannei völlig von den Launen eines Mannes abhängen wird, bedeutet, dass die Rechte von Amerikanern nicht mehr garantiert sind, sondern von Bedingungen abhängen. Aber wenn die meisten Amerikaner ihr normales Leben führen können, kann es sein, dass ihnen das egal ist, so wie es vielen Russen und Ungarn egal ist.

Ja, es wird eine große Oppositionsbewegung rund um die Demokra- tische Partei geben, aber es ist schwer zu sehen, wie diese Opposition die Verfolgungen aufhalten soll. Der Kongress und die Gerichte werden wenig Hilfe dabei leisten. Demokratische Politiker, insbesondere die Angehörigen der jüngsten Generation, werden aufschreien und protestieren, aber wenn ihnen keine Republikaner beispringen, wird es wie der immer gleiche Par- teienstreit aussehen. Wenn die Demokraten immer noch eine Kammer des Kongresses kontrollieren, werden sie einige Untersuchungen abschwächen können, aber die Chancen, dass sie nach der Wahl 2024 beide Häuser des Kongresses kontrollieren, stehen schlechter als die für einen Sieg Bidens. Es gibt auch keinen ausreichenden Grund zur Hoffnung, dass die ungeordnete und dysfunktionale Opposition gegen Trump plötzlich geeinter und effekti- ver wird, wenn er die Macht übernimmt. So funktionieren die Dinge nicht. In entstehenden Diktaturen ist die Opposition immer schwach und gespal- ten. Das eben ermöglicht ja die Diktaturen. Unter Verfolgungsdruck werden Oppositionsbewegungen selten stärker und geeinter. Heute gibt es keine demokratische Führungsfigur, hinter der sich alle vereinen können. Es ist schwer vorstellbar, dass eine solche Figur auftaucht, wenn Trump wieder an der Macht ist.

Aber selbst wenn die Opposition stark und geeint wäre, ist nicht klar, was sie tun würde, um die Verfolgten zu schützen. Es wird sich ja schon in diesem Wahlzyklus gezeigt haben, dass sie nur unzureichend von ihren legitimen, friedlichen und legalen Möglichkeiten Gebrauch macht, nachdem Demo- kraten und Anti-Trump-Republikaner alle legitimen Waffen gegen Trump eingesetzt haben und trotzdem gescheitert sind. Werden sie stattdessen zu illegitimen, außergesetzlichen Mitteln greifen? Wie würde das aussehen?

Es kann sein, dass Amerikaner auf die Straße gehen. Tatsächlich ist es wahrscheinlich, dass viele Menschen gegen das neue Regime protestieren werden, womöglich schon, bevor es sich ihren Protest verdient hat. Aber was dann? Schon während seiner ersten Amtszeit haben Trump und seine Bera- ter mehr als einmal darüber diskutiert, den Insurrection Act zur Aufstands- bekämpfung in Kraft zu setzen. Kein geringerer Verteidiger der amerikani- schen Demokratie als George H.W. Bush hat dieses Gesetz benutzt, um die Unruhen in Los Angeles im Jahr 1992 in den Griff zu bekommen. Es ist kaum vorstellbar, dass Trump das Gesetz nicht nutzen würde, sollten „die Kom- munisten, Marxisten, Faschisten und linksradikale Schläger“ auf die Straße gehen. Man darf vermuten, dass er sich über diese Gelegenheit freuen wird.

Soldaten und Gouverneure werden uns nicht retten

Und wer sollte ihn daran hindern? Seine eigenen handverlesenen Militärbe- rater? Das ist unwahrscheinlich. Er könnte Michael Flynn, Generalleutnant a.D., zum Vorsitzenden der Oberkommandeure der amerikanischen Streit- kräfte (Joint Chiefs of Staff) ernennen, wenn er das wollte, und es ist unwahr- scheinlich, dass ein republikanischer Senat ihm die Bestätigung verweigern würde. Denkt irgendjemand, dass militärische Führungskräfte Befehlen ihres ordentlich gewählten, verfassungsmäßig autorisierten Oberbefehlsha- bers nicht Folge leisten werden? Wollen wir überhaupt, dass das Militär sol- che Entscheidungen treffen muss?

Wir haben allen Grund, anzunehmen, dass aktive Militärs und Reservis- ten überwiegend eher einem neu gewählten Präsidenten Trump wohlgeson- nen sein werden als den „linksradikalen Schlägern“, die angeblich Chaos in den Straßen ihrer eigenen Städte verursachen. Wer glaubt, dass er von einem dem Schutz der Verfassung dienenden US-Militär gerettet wird, lebt in einer Fantasiewelt.

Widerstand könnte von den Gouverneuren überwiegend demokratisch regierter Staaten wie Kalifornien und New York kommen, indem sie Gesetze für ungültig erklären oder nicht anwenden. Staaten mit demokratischen Gouverneuren und Parlamenten könnten sich weigern, die Autorität einer tyrannischen Bundesregierung anzuerkennen. In unserem föderalen System ist das immer eine Option. (Sollte Biden gewinnen, könnten einige republi- kanische Staaten diese Strategie verfolgen). Aber nicht einmal die demo- kratischsten Staaten sind monolithisch, und demokratische Gouverneure werden wahrscheinlich auch zuhause erheblich unter Druck geraten, soll- ten sie versuchen, ihre Staaten zu Bastionen des Widerstands gegen Trumps Tyrannei zu machen. Überall im Land werden Republikaner und Konserva- tive durch den Triumph ihres Helden einen Energieschub bekommen. Der Machtwechsel im Bund und bedrohliche, rachedurstige Töne aus dem Wei- ßen Haus werden vermutlich auch in traditionell demokratischen Staaten alle Arten von Widerstand stärken, einschließlich gewalttätiger Proteste. Über welche Ressourcen verfügen Gouverneure, um gegen solche Angriffe vorzugehen und die Ordnung zu bewahren? Die einzelstaatliche und lokale Polizei? Werden diese Einheiten dazu bereit sein, Gewalt gegen Protestie- rende einzusetzen, die wahrscheinlich die öffentliche Unterstützung des Präsidenten genießen? Es kann sein, dass die demokratischen Gouverneure dies lieber nicht herausfinden wollen.

Sollte Trump erfolgreich einen Verfolgungsfeldzug beginnen und sollte die Opposition ihn nicht zu stoppen vermögen, dann wird das Land einen unumkehrbaren Abstieg in die Diktatur begonnen haben. Mit jedem verge- henden Tag wird es härter und gefährlicher werden, ihn zu stoppen, ob mit legalen oder illegalen Mitteln. Versuchen Sie sich vorzustellen, wie es sein wird, in einem solchen Umfeld als Oppositionskandidat anzutreten. Theore- tisch könnten die Zwischenwahlen im Jahr 2026 Hoffnung auf ein Comeback der Demokraten machen, aber wird Trump nicht seine beträchtliche Macht dazu benutzen, dies zu verhindern, legal wie illegal? Trump behauptet und glaubt zweifellos, dass die amtierende Regierung das Justizsystem auf kor- rupte Weise benutzt, um seine Wiederwahl zu verhindern. Wird er sich nicht für berechtigt halten, das Gleiche zu tun, sobald er die ganze Macht hat? Genau das hat er selbstverständlich bereits versprochen: die Macht seines Amts zu nutzen, um jeden zu verfolgen, der es wagt, ihn herauszufordern.

Das ist der Kurs, auf dem wir uns nun befinden. Ist der Absturz in die Dik- tatur unausweichlich? Nein. In der Geschichte ist nichts unausweichlich. Unvorhergesehene Ereignisse können den Verlauf ändern. Die Leser dieses Essays werden zweifellos alle Aspekte aufzählen, die wohl zu pessimistisch sind und diese oder jene alternative Möglichkeit nicht ausreichend berück- sichtigen. Vielleicht wird Trump trotz allem nicht gewinnen. Vielleicht fallen die Würfel richtig und wir werden gerettet. Und selbst wenn Trump gewinnt, wird er all die Dinge, die er angekündigt hat, vielleicht doch nicht tun. Wenn Sie mögen, kann Sie das trösten.

Sicher ist allerdings, dass die Wahrscheinlichkeit für einen Absturz der USA in eine Diktatur erheblich gestiegen ist, weil so viele der Hindernisse dafür abgeräumt worden sind und nur noch wenige übrigbleiben. So schien es vor acht Jahren buchstäblich unvorstellbar, dass ein Mann wie Trump gewählt werden könnte, doch diese Hürde ist 2016 gefallen. Wenn es dann noch unvorstellbar war, dass ein US-Präsident nach einer Niederlage versuchen würde, im Amt zu bleiben – diese Hürde fiel 2020. Und wenn niemand es für möglich gehalten haben sollte, dass Trump – nachdem er mit dem Ver- such, die Wahl für ungültig zu erklären und die Auszählung der Stimmen im Electoral College zu stoppen, gescheitert war –, trotzdem wieder der unange- fochtene Führer der Republikanischen Partei und Kandidat für 2024 werden könnte, nun ja, dieses Hindernis werden wir auch bald fallen sehen. Noch vor wenigen Jahren waren wir unserer Demokratie relativ sicher, aber nun ste- hen wir wenige Schritte und wenige Monate vor einer möglichen Diktatur.

Viele verpasste Gelegenheiten

Werden wir irgendetwas dagegen tun? Um die Metapher zu wechseln: Wenn wir dächten, es gäbe eine fünfzigprozentige Wahrscheinlichkeit, dass inner- halb eines Jahres ein Asteroid auf Nordamerika stürzen könnte, würden wir uns mit der Hoffnung zufriedengeben, dass es nicht geschieht? Oder würden wir jede denkbare Maßnahme ergreifen, um ihn zu stoppen, einschließlich vieler Dinge, die vielleicht nicht funktionieren, die man angesichts des Aus- maßes der Krise aber dennoch probieren muss? Ich weiß ja, dass die meisten Menschen nicht denken, dass ein Asteroid auf uns zurast, und das ist Teil des Problems. Aber es ist ein ebenso großes Problem, dass viele, die das Risiko sehen, es aus verschiedenen Gründen nicht für notwendig ansehen, Opfer zu bringen, um es abzuwenden. An jedem Punkt dieser Entwicklung haben unsere politischen Führer und wir selbst als Wähler Möglichkeiten ausge- lassen, Trump zu stoppen, in der Annahme, dass er am Ende auf ein unüber- windliches Hindernis stoßen würde. Die Republikaner hätten verhindern können, dass er im Jahr 2016 zum Präsidentschaftskandidaten nominiert wird, aber sie haben es nicht getan. Die Wähler hätten Hillary Clinton wäh- len können, aber sie haben es nicht getan. Republikanische Senatoren hät- ten ihn in beiden Impeachmentverfahren des Amtes entheben können, was seine jetzige Kandidatur sehr erschwert hätte, aber sie haben es nicht getan.

In all diesen Jahren waren nachvollziehbare, wenn auch fatale psycho- logische Mechanismen am Werk. Bei jeder Etappe hätte es außergewöhn- licher Maßnahmen bestimmter Menschen bedurft, um Trump zu stoppen, ob von Politikern, Wählern oder Spendern. Maßnahmen allerdings, die nicht zu deren unmittelbaren Interessen oder auch nur Präferenzen gepasst haben. Es wäre außergewöhnlich gewesen, wenn all die Republikaner, die 2016 gegen Trump angetreten sind, ihre Hoffnungen auf die Präsidentschaft aufgegeben und sich um einen der anderen versammelt hätten. Stattdessen verhielten sie sich normal und verwendeten ihr Geld und ihre Zeit für Attacken gegeneinander in der Annahme, dass Trump nicht ihr größter Konkurrent sei oder dass jemand anderes ihn zu Fall bringen würde. Damit eröffneten sie Trump einen klaren Weg zur Nominierung. Und mit nur wenigen Ausnahmen haben sie in diesem Wahlzyklus das Gleiche gemacht. Es wäre außergewöhnlich gewe- sen, hätten Mitch McConnell und viele andere republikanische Senatoren der Amtsenthebung eines Präsidenten der eigenen Partei zugestimmt. Statt- dessen nahmen sie an, dass Trump nach dem 6. Januar 2021 am Ende war, und dass es deshalb unschädlich war, ihn nicht zu verurteilen, womit sie ver- meiden konnten, für die gewaltige Schar der Trump-Anhänger zu Aussätzi- gen zu werden. In jedem Fall glaubten die Betroffenen, dass sie ihre persönli- chen Interessen weiterverfolgen könnten, überzeugt davon, dass irgendwann später schon jemand oder etwas anderes, oder einfach das Schicksal, Trump aufhalten würde. Warum sollten sie diejenigen sein, die ihre Karriere opfern? Vor die Wahl gestellt zwischen einer Hochrisikowette und dem Hoffen auf das Beste, entscheiden sich Menschen gewöhnlich dafür, auf das Beste zu hoffen. Vor die Wahl gestellt, die schmutzige Arbeit selbst zu verrichten oder es andere machen zu lassen, bevorzugen Menschen meist das Letztere.

Die Konsequenzen unserer kollektiven Feigheit

Zugleich war auch ein lähmender psychologischer Beschwichtigungsmecha- nismus am Werk. Bei jeder Etappe wurde der Preis dafür, Trump zu stoppen, immer höher. 2016 hätte es die Aufgabe der Hoffnung gekostet, selbst ins Weiße Haus einzuziehen. Als Trump dann gewählt war, war der Preis dafür, sich gegen ihn zu stellen oder auch nur dafür, es an unterwürfiger Loyalität fehlen zu lassen, das Ende der eigenen politischen Karriere, wie Jeff Flake, Bob Corker, Paul D. Ryan und viele andere herausfanden. 2020 war der Preis weiter gestiegen. Laut Mitt Romneys Erinnerung in der kürzlich erschiene- nen Biographie von McKay Coppins, fürchteten republikanische Kongress- mitglieder, die darüber nachdachten, Trumps Impeachment zuzustimmen, um ihre physische Sicherheit und die ihrer Familien. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass diese Angst heute kleiner sein sollte. Aber warten Sie nur, bis Trump zurück an der Macht ist, dann wird der Preis dafür, sich gegen ihn zu stellen, Verfolgung sowie Verlust des Vermögens und möglicherweise der Freiheit sein. Werden jene, die sich gescheut haben, Widerstand gegen Trump zu leisten, als das Risiko nur darin bestand, politisch in Vergessen- heit zu geraten, nun plötzlich ihren Mut entdecken, wenn der Preis dafür die eigene Zerstörung und die Zerstörung ihrer Familien sein könnte?

Wir sind näher an diesem Punkt als jemals zuvor, und doch treiben wir weiter Richtung Diktatur, immer noch auf eine Hilfe von außen hoffend, die uns gestattet, den Konsequenzen unserer kollektiven Feigheit, unserer selbstzufriedenen, absichtsvollen Ignoranz und vor allem unseres Mangels an einem tiefen Bekenntnis zur liberalen Demokratie zu entkommen. Wie es bei T.S. Eliot heißt, es geht mit uns zu Ende, aber „nicht mit einem Knall: mit Gewimmer“.