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Einigkeit – St.Petri Visionen

An Abend des 9.11.1989 war keinem von uns bewusst, dass das Ende der DDR bevorstand. Ein Ratsdiener unterbrach die SPD-Fraktionssitzung um mich herauszurufen. Der Journalist, der mich erwartete, sagte, die Grenze sei offen. Ob ich das wisse. Die ersten Trabbis würden in Schlutup erwartet.

Nein, ich wusste davon nichts. Wir hatten bei einem Empfang im Rathaus den 50ten Geburtstag mit Björn Engholm gefeiert und waren deshalb nur ganz ungern zur Fraktionssitzung in den Roten Saal herauf gekommen.

Ich fuhr mit anderen zusammen sofort an die Grenze nach Schlutup. Voll Erwartung. Dort war nichts. Absolut nichts. Es war geradezu unheimlich ruhig. Die Grenzschützer sagten, sie hätten etwas gehört, aber keine Verbindung zur anderen Seite.

Dann plötzlich kam ein Trabbi mit jungen Leuten aus Wismar oder Rostock. Sie lachten und waren ganz ausgelassen. Sie wollten nach Lübeck zum Markt. Einfach so, auf ein Bier, und dann wieder zurück.

Dann kamen die nächsten. Ich erinnere mich an eine Familie im Trabant. Der war bis oben bepackt. Sie wollten weiter. In den Westen übersiedeln. Sie hatten im Radio Günter Schabowski gehört, in Eile alles zusammen gepackt und waren aufgebrochen, aus Angst, die Grenzen könnten sich schnell wieder schließen. Die kleine Tochter weinte und fragte, was den morgen werde. Ihre Freundin komme doch immer, um sie zur Schule abzuholen. DieTränen standen uns in den Augen.

Ab dem nächsten Tag kamen Tausende. Die Trabbis stauten sich in der Travemünder Allee. Die ganze Stadt roch nach dem Zweitaktergemisch. Die Älteren unter Ihnen hier in Petri werden sich erinnern: Die Stadt war wie ausgewechselt. Wie im Ausnahmezustand.

Das Rathaus blieb über Nacht geöffnet. Wer nicht zurück konnte oder wollte, fand dort Wärme, Brötchen, Tee, Kaffee und Decken. Auf dem Markt in der Novemberkälte verabredeten sich wildfremde Menschen. In den Lübecker Stuben hörten sich Lübecker mecklenburgische Geschichten an und umgekehrt. Die Stadt summte, brummte und freute sich.

Die Erfüllung des Auftrages des Grundgesetzes rückte in greifbare Nähe. („Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.“) Nach wenigen außerordentlich intensiven Monaten zerstob indes die hohe Stimmung. Die Parteien machten wieder ihren Job as usual. Die Presse spiegelte wie immer das Resultat.

Das Kapital nahm Witterung auf nach Osten. Ich erinnere mich an den Hauptgeschäftsführer unserer IHK, der mir bei einem Essen der Wirtschafsjunioren 1990 frohgemut und leicht hämisch zurief: Na, Herr Bürgermeister, Marx ist tot! Was sagen Sie dazu?

Die Grenze ist weg. Die Infrastrukturen sind erneuert. Die Einheit im Rechtssinne ist hergestellt. Was ist mit der Einigkeit? Einigkeit ist für uns Deutsche ja ein schwieriger Begriff.

Am Deutschen Eck in Koblenz steht: „Nimmer wird das Reich zerstöret/ wenn ihr einig seid und treu.“ Einigkeitsappelle dieser Art „an das Volk“ ge-richtet, verbinde ich in Deutschland nach wie vor als verdeckte Botschaften nach draußen mit den Inhalten: Gegnerschaft, Feindschaft, Krieg – 1871, 1914,1939.

Dieses historisch berechtigte Bild eines barbarischen Deutschland, in dessen Namen, immer wieder Furcht und Schrecken aus der Mitte Europas heraus verbreitet worden sind, hat sich vor 20 Jahren sang – und klanglos erledigt.

Ganz ohne Gewalt haben die Ostdeutschen ihre Aggressoren vertrieben. Einigkeit war hier für einen kurzen Moment der deutschen Geschichte nur nach innen gerichtet. Nicht von oben gefordert, sondern von unten hergestellt. In einem revolutionären friedlichen Akt ist das Honecker-Regime beseitigt worden. Einigkeit brachte die Einheit.

Wir haben die Dimension dieses ungeheuren zivilisatorischen Aktes, diese enorme kulturelle Leistung, bis heute ganz offenbar nicht begriffen. Es handelt sich ja auch um etwas radikal Neues in der Deutschen Geschichte.

Die Einigkeit, ihre Voraussetzung, ihr Bestand und ihre besondere Pflege stehen wider Erwarten nicht im Zentrum deutscher Politik. Die Einigkeit kam vielmehr – zusammen mit der Einheit- in die Hände der Parteien. Einigkeit ging dabei in der Einheit unter. Die kulturelle Dimension, das radikal Neue, blieb auf der Strecke.

Deshalb suchen wir heute vergebens das „Projekt Einigkeit“, das alle in einer gesamtdeutschen Kraftanstrengung mitgerissen hätte. Das wirkt sich wiederum auf den Europäischen Einigkeitsprozess aus. Deutschland könnte und müsste (auch von Verfassungs wegen) der Motor der Europäischen Einigkeit sein, nachdem wir endlich von der „Deutschen Frage“ befreit sind und unsere Nachbarn nunmehr erkannt haben, dass die sprichwörtliche Angst vor den Deutschen der Geschichte angehört. Dennoch tun wir uns alle schwer mit der Europäischen Einigkeit. Das liegt daran, dass die deutsche Einigkeit immer noch Vision ist. Sie ist keine Wirklichkeit. Wir sind immer noch mit uns selbst beschäftigt. Das bindet völlig unnötig politische Energien.

So misslingt auch das Projekt Europa. Europa verkommt zu einer schieren Freihandelszone. Es ist keine Rede mehr von der Rückgewinnung politischer Gestaltungskraft gegenüber der Ökonomie im weltweiten Zusammenhang. Es ist keine Rede mehr von der dringend gebotenen Konvergenz der Steuersysteme, um Mittel zurückzugewinnen für soziale und kulturelle Projekte.

Die Kraft hierfür fehlt, weil sie in de kulturellen Einigkeit wurzelt. Diese fehlt aber hier bei uns in Deutschland. Europa droht das gleiche Schicksal. Es reicht wie in Deutschland auch dort bestenfalls für die Einheit. Nicht aber für die Kraft spendende Einigkeit.

Auf wen ist also zu hoffen? Auf die Politik nicht. Auf die Medien als Ort, an dem die kulturelle Öffentlichkeit fokussiert wird und der Diskurs stattfinden könnte, ebenfalls nicht. In den Medien geht es heute nicht mehr um den Erhalt der demokratischen Öffentlichkeit, d.h. aber um den Austausch von Gründen, sondern nur noch um die Bündelung von Blicken auf Personen (Habermas).

Besteht also keine Hoffnung auf Einigkeit? Doch. Denn wir wollen nicht diejenigen vergessen, die sich in der Mitte unserer Gesellschaft, zum Teil in Kleinstprojekten, darum bemühen. Vielleicht ist Einigkeit auch nur herzustellen von Mensch zu Mensch. Lassen Sie uns damit beginnen. So wie es in Leipzig 1989 begann.

https://www.st-petri-luebeck.de/images/stories/bindungen/redebouteiller1einigkeit.pdf

Von Michael Bouteiller

1943,
Richter am Verwaltungsgericht Minden,
Gründung IBZ Friedenshaus (Internationales Begegnungszentrum) Bielefeld,
Aufbau und Leitung Wasserschutzamt Bielefeld,
Bürgermeister a.D. Lübeck,
Rechtsanwalt bis April 2024, Autor