Vom Schaffen und Erschlagen von Monstern, Verfassungsblock vom 13.3.2021

 

 

 

 

 

Vom Schaffen und Erschlagen von Monstern

 

Verfassungsblock vom 13.3.2021

Kartellrecht gehört nicht zu den Rechtsgebieten, die uns regelmäßig beschäftigen hier auf dem Verfassungsblog. Mergers and Acquisitions, Konzerne im Wettbewerb, Preisabsprachen und Marktmanipulation – das ist kaum noch öffentliches  Recht, das ist Privatwirtschaft, davon verstehen wir weder viel noch interessieren wir uns dafür sehr.

Um so spannender finden wir aber, was gerade in den USA passiert. Dort stellt bekanntlich gerade Präsident Biden sein Regierungsteam zusammen, und zwei besonders einflussreiche Posten werden voraussichtlich an Kartellrechtsprofessor_innen gehen: Tim Wu und Lina Khan kommen beide von der Columbia-Universität, und beide sind berühmt für die Schärfe ihrer Kritik an Big Tech und am bisher etablierten Antitrust-Law-Paradigma. Jetzt werden sie die Chance bekommen, ihre wissenschaftlichen Theorien in die Regierungspraxis umzusetzen.

Lina Khan steht obendrein für einen Generationswechsel. In der Regierung des ältesten Präsidenten, der die USA regiert hat, soll die 32-Jährige offenbar, wenn sie im Senat bestätigt wird, in der Federal Trade Commission über den Wettbewerb in den USA wachen.

Welche Linie sie dabei wohl verfolgen wird, kann man einem Paper entnehmen, das sie noch als Studentin geschrieben und 2017 im Yale Law Journal veröffentlicht hat und zu einem der einflussreichsten wissenschaftlichen Artikel der Gegenwart geworden ist.

Der Generationswechsel steckt schon im Titel des Aufsatzes: ‚Amazon’s Antitrust Paradox‘, eine Anspielung auf das 40 Jahre zuvor erschienene Buch  ‚The Antitrust Paradox: A Policy at War with Itself‘ von Robert Bork, das seinerseits im amerikanischen Wettbewerbsrecht damals keinen Stein auf dem anderen ließ.

In den Nachkriegsjahrzehnten hatten die Behörden und Gerichte streng darüber gewacht, dass sich keine Marktstrukturen entwickeln, die für den Wettbewerb schädlich sind. Kein Player sollte so groß werden, dass er seine Macht dazu nützen kann, Wettbewerber aus dem Markt zu kicken.

Das, so Bork und die Anhänger der Chicago School, sei aber ganz verkehrt: Anstatt Zusammenschlüsse und Unternehmenskäufe zu blockieren und so schwächere Wettbewerber vor der Konkurrenz der Großen abzuschirmen, sollte sich das Wettbewerbsrecht auf die Verbraucher_innen konzentrieren: Die sollen keine überteuerten Preise zahlen müssen. Alles andere ist aus dieser Sicht irrelevant

Drei Jahre nach Erscheinen des Buchs wurde Ronald Reagan Präsident. Schon zuvor hatte der Supreme Court sich Borks wettbewerbsrechtlicher Sichtweise angeschlossen.

Die Ära der Corporate Raiders und der M&A-Großkanzleien begann, riesige multinationale Konzerne entstanden, und tatsächlich: auf die Verbraucherpreise wirkte sich das offenbar nicht weiter schädlich aus.

Im Gegenteil. Diese Konzerne waren so effizient, dass sie ihre Waren und Leistungen immer billiger anbieten konnten. Die Marktmacht bestimmter Unternehmen wuchs ins Unermessliche, die Alarmanzeigen des Wettbewerbsrechts blieben doch stets im grünen Bereich.

Dass diese Riesen Verluste in Kauf nehmen könnten, nur um die Wettbewerber in den Ruin zu treiben – das, so dachten Bork und Kollegen, sei ohnehin nicht zu befürchten. Das sei ja irrational. Das mache doch keiner, und wenn doch, dann nicht für lange.

Dass die Riesen ihre Lieferanten zusammenkaufen, um ihre Wettbewerber von ihren Lieferketten abzuschneiden, sei gleichfalls völlig unproblematisch: Wenn sie dadurch effizienter werden und billiger anbieten, dann um so besser; wenn nicht, dann würden sie die Folgen ihres Fehlers von allein zu spüren bekommen.

Dann kam das Internet und die Digitalisierung. Dotcom-Startups und Tech-Innovatoren sammelten Milliardensummen an Kapital ein, und was sie ihren Investoren versprachen, waren nicht Gewinne. Sondern Wachstum. Solange dieses Versprechen gilt und geglaubt wird, ist es überhaupt nicht irrational, Verluste auch dauerhaft in Kauf zu nehmen, um den Wettbewerb aus dem Markt zu drängen.

Entlang der Lieferkette zu expandieren, ist nicht länger nur ein harmloses Mittel, die eigene Effizienz zu steigern, sondern der Weg, auf dem man vom Betreiber einer Marktbude zum Eigentümer des ganzen Marktplatzes wird, zum Betreiber der Plattform, auf der alle kaufen und verkaufen, aber nur einer von allen alles weiß.

Das ist längst die Welt in der wir leben vierzig Jahre nach Borks Buch – eine Welt, beherrscht von Unternehmen, die alle Chicago-Annahmen durchstreichen, die ihre Dominanz überhaupt erst möglich gemacht haben. Und kein Unternehmen verkörpert dies so sehr wie Amazon.

Im Licht von Lina Khans Artikel und der realen Existenz von Amazon et al. erscheint die Lehre der Chicago-Schule als müde und hohle Ideologie, die niemanden mehr zu  überzeugen vermag, der nicht an ihrem Fortbestand ein handfestes materielles Interesse hat.

Meine Generation hat an diese Ideologie einmal geglaubt, so wie die Generation vor uns an den Kommunismus. Die Ideologie ist tot. Die Monster, die sie schuf, sind sehr lebendig. Möge es Lina Khan und ihren Mitstreiter_innen gelingen, sie zu (z)erschlagen.