Gegenwartsbefreiung – ein zweifelhafter Beitrag zur Kulturentwicklung
In breit angelegten und gut lesbaren Artikelreihen in der Zeitschrift „Kunstforum International“ setzt sich der Leiter der Lübecker Overbeck-Gesellschaft (seit 2015), Dr. Oliver Zybok, einer Tochtergesellschaft der „Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeiten“ (Gemeinnützige), mit dem Zustand der Theorie und Praxis von Gegenwartskunst, Politik, Moral und Demokratie auseinander.
Er hat in der Zeitschrift Kunstforum International mehr als 70 Artikel über Kunst und Künstler:innen von nationaler und internationaler Geltung verfasst (https://www.kunstforum.de/person/zybok-oliver/). Der richtige Mann am richtigen Platz, denn es geht in Lübeck um die Arbeit an einem Kulturentwicklungskonzept. In Band 205 von Kunstforum International betitelt „Vom Ende der Demokratie“, beschreiben Raimer Stange und Oliver Zybok (https://www.kunstforum.de/band/2010-205-vom-ende-der-demokratie-manifesta-8/) etwa den Zustand der modernen Malerei angesichts des aus ihrer Sicht 2010 eingetretenen Endzustandes der Demokratie.
2020 reflektiert die Herausgeberin der Zeitschrift in Band 268 unter dem Titel “Gegenwartsbefreiung Malerei„, (https://www.kunstforum.de/artikel/zwischen-moral-und-ideologie/) klipp und klar, was die Leser:in in dem aktuellen Themenband dieser Zeitschrift 10 Jahre nach dem Ende der Demokratie in der modernen Malerei und Kunst zu erwarten hat:
…“Dieser Themenband blickt auf aktuelle Positionen und Diskussionen, greift sie auf und trägt sie weiter: in umfassenden Bildschauen und Essays, sowie Gesprächen mit z.B. Hans Ulrich Obrist und Katharina Grosse diskutieren die Herausgeberin und weitere Autor*innen neue Tendenzen der Malerei im 21. Jahrhundert. Es wird deutlich: Die gegenwartsbefreite Malerei löst sich von konzeptuellen Absicherungen, Materialdiskursen und distanzierenden Reduktionen. Sie muss keine ästhetisch-philosophische Zwiesprache im akademischen Beichtstuhl mehr halten, wie so oft in der Vergangenheit. Politisch, abstrakt, figurativ oder surreal – Heute wird gemalt, was gemalt werden soll.“.
Da kann man der Autorin zunächst nur zustimmen und freut sich auf ein neues, vielleicht epochales Kapitel der Kunst der Zukunft – ohne akademischen Beichtstuhl. Was soll man sich aber darunter vorstellen, eine Malerei „ohne akademischen Beichtstuhl“?
Wie bereits in dem von Oliver Zybok und Raimar Stange 2010 herausgegebenen Band Vom Ende der Demokratie werden im Band Gegenwartsbefreiung Kunst und Künstler vorgestellt, die – aus der Sicht der Herausgeber – zu diesem Thema passen, also offenbar gegenwartsbefreit sind. Die vorgestellten Werke werden zeitlich, stilistisch oder nach Kriterien eingeordnet, die von einem bunten Strauß sozialpsychologischer, soziologischer, politologischer und philosophischer Theorien und anerkannten Persönlichkeiten angeboten werden, deren Namen und Urteil unter Kenner:innen für Aufmerksamkeit sorgt.
Eine Auseinandersetzung mit den Kriterien dieser Einordnung, mit den Maßstäben der Beurteilung und ihrem Vorverständnis erfolgt indes nicht: „Heute wird gemalt, was gemalt werden soll“. Dieses Diktum genügt zur Begründung, wie es im zitierten Eingangsstatement steht. Und man könnte ironisch hinzufügen, da das Ende der Demokratie, und damit der Jüngste Tag in der Geschichte unserer Verfassung (Demokratie) eingeläutet ist, ist es wohl auch überflüssig, sich mit ästhetisch-philosophisch begründeter Kritik zu befassen. Lasst diese Kritik dort, wo sie hingehört, im Beichtstuhl!
Wo stehen sie denn in Lübeck, solche Beichtstühle? In Lübeck stehen solche Beichtstühle vielleicht irgendwo in der Universität, in der Musikhochschule bei Rico Gubler, bei Wolfgang Sandberger in der Eschenburg-Villa auf dem Jerusalemsberg (wie passend !), bei Cornelius Borck in der Königstraße oder hat Hans Wißkirchen gerade Beichtdienst in der Schildstraße? Der Stuhl des SH Festivals ist mit Christian Kuhnt bereits weitergezogen in die Kreativwirtschaft der Golan-Kulturwerft.
Wie dem auch sei, man tut jedenfalls gut daran, sich als Betrachter:in von Kunst von derartigem akademischem Firlefanz nicht ablenken zu lassen. Beim Genuss der von Zybok und Stange – aus kundiger Sicht – ausgewählten Meisterwerke und Projekte der Moderne sind sie störend. Die neue Botschaft heißt nämlich: “Gegenwartsbefreiung“. Und die dazu angesagte Wahrnehmungsvariante ist wohl: „Werft den Ballast ästhetisch-philosophischer Nachdenklichkeit ab. Lasst das akademische Abrakadabra. Haltet euch bereit für den Abflug in‘s Himmlische Jerusalem.“ Denn an das Himmlische Jerusalem denken alle, wenn es um Heilsversprechen geht.
Derartige Heilsversprechen sind von Alters her Ausdruck für den Traum der Träume. Das zukünftige Leben auf Erden im Einklang mit Gott. Von Lübecks Zukunft ist hier offensichtlich auch die Rede ( https://michaelbouteiller.de/wp-content/uploads/2021/03/Himmlisches-Jerusalem-.pdf
Jedenfalls nimmt das Gedicht „Die Silhouette von Lübeck“ von Reiner Kunze auf unser himmlisches Stadtbild Bezug:
„damit die erde hafte am himmel,
schlugen die menschen
kirchtürme in ihn
sieben kupferne nägel,
nicht aufzuwiegen
mit gold“ .
Ein derartiges Zukunftsversprechen fasziniert. Es entwickelt große motivierende Kraft. Es ist das verführerische Bild einer von den Lasten der Vergangenheit befreiten Zukunft, das uns in den Bann zieht. Religionsgründer benutzen es, aber auch Rattenfänger.
Der Lübecker Jonas Geist (1936-2009) hat dieses Bild vom Himmlischen Jerusalem schon 1976 umfassend kritisiert (Versuch, das Holstentor zu Lübeck im Geiste etwas anzuheben. Wagenbach, Berlin 1976). Und wir täten in seinem Sinne gut daran, mit ihm zu hinterfragen, was solche Überlegungen mit den Interessen und Bedürfnissen derjenigen zu tun haben, die uns in der Stadt versprechen, das Holstentor erneut im Geiste anzuheben. Vielleicht nicht bis ganz in den Himmel, aber doch bis hin zur ersehnten internationalen Geltung der Stadtkultur, hin zur „organischen Kulturstadt“, wie das die Vorlage „Kulturentwicklungsleitlinien der HL vom 8.10.2020 vorschlägt.
Oliver Zybok jedenfalls hat die in der Zeitschrift Kunstforum International genannten Zeichen der Zeit erkannt. Zusammen mit der Muttergesellschaft der Overbeck-Gesellschaft, der Gemeinnützigen, mit der Possehl-Stiftung und vielen anderen Spender:innen, mit St.Petri, den Lübecker Nachrichten als Medienpartner und der Hansestadt Lübeck hat er 2020 als Initiator und Kurator Jonathan Meese zu einem großen Stadtprojekt nach Lübeck geholt.
Meese ist ein Musterbeispiel für die Art von Künstler der Gegenwartsbefreiung, die Oliver Zybok in seinen Artikeln im Kunstform International beschreibt. Jonathan Meese als der Propagandist und Diktator der Kunst erfüllt alle Voraussetzungen der Gegenwartsbefreiung der Kunst. Mit seiner Botschaft von der Diktatur der Kunst ist er genau der richtige Verkünder am richtigen Ort: im Himmlischen Jerusalem Lübeck (vgl.dazu https://michaelbouteiller.de/?page_id=1575).
Hier findet er die ideale Kulisse für seinen Auftritt. 31.000 Besucher:innen an den Kultstätten der Gegenwartsbefreiung (LN vom 7.8.2019 https://www.ln-online.de/Nachrichten/Kultur/Kultur-im-Norden/Jonathan-Meeses-Abschiedsgeschenk-an-Luebeck-Kuenstler-schenkt-Kunsthalle-St.-Annen-zwei-Werke ) sind ein vielversprechender Anfang.
Der erste Schritt auf der Leiter ins Himmlische Lübeck ist also getan. Wir sind gespannt auf den zweiten Schritt: Das Lübecker Konzept einer Kulturentwicklung (KET)? Ein Beschluss in der Bürgerschaft steht in der nächsten Zeit an.