Die mörderische Subjektivierung der Begriffe
Das Gedicht »Im Walde« von Hölderlin bringt die positive/negative Macht der Sprache, von der im Folgenden die Rede ist, auf den Punkt:
»Aber in Hütten wohnet der Mensch, und hüllet
sich ein ins verschämte Gewand, denn inniger
ist achtsamer auch und daß er bewahre den Geist,
wie die Priesterin die himmlische Flamme,
dies ist sein Verstand.
Und darum ist die Willkür ihm und höhere Macht
zu fehlen und zu vollbringen dem Götterähnlichen,
der Güter gefährlichstes, die Sprache dem Menschen
gegeben, damit er schaffend, zerstörend, und
untergehend, und wiederkehrend zur ewiglebenden,
zur Meisterin und Mutter, damit er zeuge, was
er sei geerbet zu haben, gelernt von ihr, ihr
Göttlichstes, die allerhaltende Liebe.«
Friedrich Hegel stellt dann die Lebenswelt des normalen Menschen endgültig auf den Kopf. Anlässlich der Französischen Revolution 1789 schreibt er : „Solange die Sonne am Firmament steht und die Planeten um sie herum kreisen, war das nicht gesehen worden, dass der Mensch sich auf den Kopf, das ist auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem baut. Anaxagoras hatte zuerst gesagt, daß der „nous“ die Welt regiert; nun aber ist der Mensch dazu übergegangen, zu erkennen, daß der Gedanke die geistige Wirklichkeit regieren soll. Es war dies somit ein herrlicher Sonnenaufgang. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sei es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt erst gekommen.“ Und auch noch als preußischer Staatsphilosoph feierte Hegel alljährlich das Ereignis der Revolution.“ ( Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, Hamburg 1995, S.245).
Diese Ideologie oder auch Religion, die das Menschliche kurzerhand begrifflich in den Himmel der Abstraktion befördert, entwickeln diese beiden 1770 geborenen Freunde Hölderlin und Hegel fünf Jahre lang während ihrer Tübinger Jahre. Zum Teil gemeinsam in einem Zimmer (Idealismusschmiede in der Philosophen-WG | Hölderlinturm Tübingen; (https://hoelderlinturm.de/ausstellungen/sonderausstellungen/hegel-hoelderlin/).
Erst Marx/Engels stellen diese Geisteswelt wieder dorthin, wo sie hingehört, auf die Füße. Im „Kommunistischen Manifest” schreiben sie: „…Der deutsche oder der „wahre“ Sozialismus. Die sozialistische und kommunistische Literatur Frankreichs, die unter dem Druck einer herrschenden Bourgeoisie entstand und der literarische Ausdruck des Kampfes gegen diese Herrschaft ist, wurde nach Deutschland eingeführt zu einer Zeit, wo die Bourgeoisie soeben ihren Kampf gegen den feudalen Absolutismus begann. Deutsche Philosophen, Halbphilosophen und Schöngeister bemächtigten sich gierig dieser Literatur und vergaßen nur, daß bei der Einwanderung jener Schriften aus Frankreich die französischen Lebensverhältnisse nicht gleichzeitig nach Deutschland eingewandert waren. Den deutschen Verhältnissen gegenüber verlor die französische Literatur alle unmittelbar praktische Bedeutung und nahm ein rein literarisches Aussehen an. Als müßige Spekulation über die Verwirklichung des menschlichen Wesens mußte sie erscheinen. So hatten für die deutschen Philosophen des 18. Jahrhunderts die Forderungen der ersten französischen Revolution nur den Sinn, Forderungen der „praktischen Vernunft“ im allgemeinen zu sein, und die Willensäußerungen der revolutionären französischen Bourgeoisie bedeuteten in ihren Augen die Gesetze des reinen Willens, des Willens, wie er sein muß, des wahrhaft menschlichen Willens. Die ausschließliche Arbeit der deutschen Literaten bestand darin, die neuen französischen Ideen mit ihrem alten philosophischen Gewissen in Einklang zu setzen oder vielmehr von ihrem philosophischen Standpunkte aus die französischen Ideen sich anzueignen. Diese Aneignung geschah in derselben Weise, wodurch man sich überhaupt eine fremde Sprache aneignet, durch die Übersetzung.
Es ist bekannt, wie die Mönche Manuskripte, worauf die klassischen Werke der alten Heidenzeit verzeichnet waren, mit abgeschmackten katholischen Heihgengeschichten überschrieben. Die deutschen Literaten gingen umgekehrt mit der profanen französischen Literatur um. Sie schrieben ihren philosophischen Unsinn hinter das französische Original. Z. B. hinter die französische Kritik der Geldverhältnisse schrieben sie „Entäußerung des menschlichen Wesens“, hinter die französische Kritik des Bourgeoisstaates schrieben sie „Aufhebung der Herrschaft des abstrakt Allgemeinen“ usw. Die französische sozialistisch-kommunistische Literatur wurde so förmlich entmannt. Und da sie in der Hand des Deutschen aufhörte, den Kampf einer Klasse gegen die andre auszudrücken, so war der Deutsche sich bewußt, die „französische Einseitigkeit“ überwunden, statt wahrer Bedürfnisse das Bedürfnis der Wahrheit und statt der Interessen des Proletariers die Interessen des menschlichen Wesens, des Menschen überhaupt vertreten zu haben, des Menschen, der keiner Klasse, der überhaupt nicht der Wirklichkeit, der nur dem Dunsthimmel der philosophischen Phantasie angehört….” (Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, Geschrieben im Dezember 1847/Januar 1848. Gedruckt und als Einzelbroschüre im Februar/März 1848 in London erschienen. Der vorliegenden Ausgabe liegt der Text der letzten von Friedrich Engels besorgten deutschen Ausgabe von 1890 zugrunde., S. 486).
Der politisch einflussreiche Göttinger Theologe und Orientalist Paul de Lagarde (1827-1891), den Thomas Mann seinen „Praeceptor Germaniae“ (Lehrmeister Deutschlands,MB) nennt, (Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, in der Textfassung der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe (GKFA) Thomas Mann, E-Books, S.691) benutzt diese Methode der Begriffskonstruktion zu einem Kampfmittel gegen die aufkommende werktätige Bevölkerung. Sein Geltungsbedürfnis brachte ihn an der Göttinger universitären Kaderschmiede zu zwei Anwendungen seiner Sprachforschungen auf politischem Gebiet: Er hielt 1853 die beiden Reden „Konservativ?“ und „Über die gegenwärtigen Aufgaben der deutschen Politik“. Darin propagierte er die Einheit des Volkes als Grundlage der deutschen Nation“, die Expansion des Reiches als Grundlage der Unbesiegbarkeit und die Vertreibung oder Vernichtung der Juden, dem Ungeziefer, das Zwietracht säht, als Voraussetzung für die Einheit des Volkes. Dieser Einstieg in die Politik hatte durchschlagenden Erfolg und verschaffte ihm die in der universitären Zunft die bisher unterbliebene Beachtung (Vgl. https://www.deutsche-biographie.de/sfz47419.html).
Paul De Lagarde ging in seinem Judenhass über Richard Wagners Vorstellung von der Wiedergeburt eines entjudeten „Deutschen Reiches“ im „Deutschen Geist“ hinaus. Den Juden, die aus seiner Sicht neben der Arbeiterbewegung und dem um sich greifenden Liberalismus in Politik und Kultur Grund für Deutschlands Zwietracht und Niedergang seien, sollten ihre Existenzmittel, die Banken, genommen werden. Juden haben nach seiner Auffassung als Artfremde keinen Platz im geeinten Deutschen Volk. Mit diesem „wuchernden Ungeziefer“ könne es „keinen Kompromiss geben“. Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt. Trichinen und Bazillen werden auch nicht erzogen. Sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet“. Fritz Stern schreibt dazu: „Nur wenige Menschen haben Hitlers Vernichtungswerk so genau vorhergesagt – und so entschieden im voraus gebilligt.“ (Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr(1963), 2.Auflage, Stuttgart 2018, S.102).
Theodore von Laue kritisierte diesen Sprachgebrauch später zurecht: „Das deutsche Vokabular ist voll von Abstraktionen, die zu grammatischen Subjekten aktiver Verben werden. Anders gesagt: die Tätigkeit wird von Abstraktionen abgeleitet und nicht von Individuen allein.“ (Theodore H. von Laue, Leopold Ranke. The formative Years, Princeton University Press, Princeton 1950, Seite 92, zitiert nach Fritz Stern, S.105).
Dieser begriffliche Konstruktivismus, der sich von der Person als Handlungsträger löst, und Begriffe wie Staat, Volk, Nation usw. subjektiviert, d.h. an ihrer Stelle handeln lässt, verwandelt die Lebenswelt in ein entmoralisiertes Schlachtfeld. Weil angeblich die »Nation« usw. es erfordere, heißt es jetzt. Die Massenmörder Putin und Co. und ihre mordenden Vorgänger und Vorgängerinnen verschwinden hinter handlungsfähig konstruierten Staaten, Völkern, Nationen, Kulturen, Verbänden, Firmen usw. Diese sind in dem Himmel der Begriffe jetzt Befehlsgeber. Einer der barbarischen Nutznießer und Vollender dieses mörderischen Konstruktivismus ist dann der Nationalsozialist Carl Schmitt. Dessen »Lehre« greifen die Staatsmystiker Böckenförde und Co. nach dem Ende des Zweiten 30-jährigen Krieges unbelehrbar und begeistert auf (https://michaelbouteiller.de/der-aufhaltsame-weg-in-den-faschismus/; vgl. Raphael Gross, Carl Schmitt und die Juden. Eine deutsche Rechtslehre, Frankfurt a.M. 2000).
„Es hat in Deutschland nie eine Entnazifizierung gegeben. Polizei und Justiz und weite Teile der Union waren Sammelbecken für Nazis und Kriegsverbrecher. Noch heute grenzt sich die CDU /CSU nicht entschieden gegen Rechts ab, wie man am neu rechten Populisten Hans-Georg Maaßen sieht, der von der CDU zur Wahl aufgestellt wird. Josef Schuster würde dann eine Kontinuität bei den Konservativen seit den dreißiger Jahren sehen und sich viele Juden und Migranten und migrantisierte Menschen heute fragen: wie kann ich für meine eigene Sicherheit sorgen, wenn die Polizei eventuell eher mein Feind ist. Das Land verlassen? … Es geht ja nicht nur um von Storch. „Nein, sondern auch um Hedwig von Beverförde und Gabriele Kuby. Diese Frauen gehören zu den Leuten, die eine politische Zusammenarbeit zwischen der AfD Union vorantreiben.Alle drei sind christliche Fundamentalistinnen und arbeiten zusammen in der Aktionsgruppe „Demo für alle“, die von Putins Anti-LGBT Gesetzen beeinflusst ist und ihr Vorbild in den homophoben und antifeministischen Regierungen Russlands und Polens sieht“ (Falk Richter, FR. 4.12.2021, S.33).
Über die personelle Kontinuität des faschistischen Deutschlands hinaus ist es die andauernde geistige faschistische Kontinuität, die in der Bundesrepublik fortwirkt. Eine Kontinuität, die es an den rechtswissenschaftlichen Fakultäten verhindert hat, Hans Kelsen (1881-1973), den Antipoden Carl Schmitts, zu seinen Lebzeiten erneut zu berufen (Gross Raphael, Hans Kelsen: Rückkehr unerwünscht, in: Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können. Jüdische Intellektuelle in Deutschland nach 1945, herausgegeben von Monika Boll und Raphael Gross, Frankfurt am Main 2013, S.269).
Lübeck, 23.12.2023