Man hat die Gefährlichkeit der ,Reichsbürger‘ unterschätzt“

Der Zeithistoriker Wolfgang Kraushaar über die Bedrohung aus der gutbürgerlichen Mitte, die Wehrhaftigkeit der Demokratie und unsinnige RAF-Vergleiche

In diesen Tagen werden vor dem Reichstag die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt. Imago Images

Herr Kraushaar, in Ihrem aktuellen Buch „Keine falsche Toleranz“ widmen Sie sich ausführlich dem aus einer Corona-Demonstration hervorgegangen Angriff auf den Deutschen Bundestag im August 2020. In welchem Zusammenhang steht dieses Ereignis mit der sogenannten Reichsbürgerszene?

An jenem Sommertag vor zwei Jahren ist – wenn man einmal von der Bewaffnung absieht – fast alles vorhanden gewesen, was uns und dem Staat momentan um die Ohren zu fliegen scheint: Hass und Verachtung gegenüber dem Herzstück der Demokratie, dem Parlament; der versuchte Schulterschluss mit einem Demokratieverächter wie Donald Trump, den man bereits in Berlin gelandet wähnte; der Auftakt vor der russischen Botschaft unter den Linden mit einem Anbiederungsversuch gegenüber dem Krim-Annexionisten und heutigen Kriegsverbrecher Wladimir Putin; die Massenbewegung der Querdenker als Katalysator diverser verfassungsfeindlicher Kräfte.

Ein halbes Jahr später wirkte die versuchte Reichstagserstürmung dann auch noch als Vorwegnahme jenes gespenstischen Sturmes auf das Capitol in Washington als das Szenario einer Eroberung der Staatsmacht. Kurzum, die versuchte Erstürmung des Reichstagsgebäudes vom 29. August 2020 war das Ei, aus der die in der vergangenen Woche sichtbar gewordene „Reichsbürger“-Verschwörung gekrochen ist. 

Sie stellen die Bewegung in den Kontext einer langen antidemokratischen Tradition. Wie konnten die „Reichsbürger“ so lange als „Spinner“ belächelt werden?

Obwohl deren Wurzeln auf den Holocaust-Leugner und Rechtsterroristen Manfred Roeder zurückzuführen sind, der 1975 nach einem Kontakt mit Karl Dönitz, dem letzten Reichskanzler, in Flensburg einen „Reichstag“ einberief und sich dort zum „Reichsverweser“ wählen ließ, hat man die Gefährlichkeit dieser Truppe unterschätzt. Erst als 2016 einer von ihnen einen SEK-Mann bei einer versuchten Hausdurchsuchung erschoss, war man vorgewarnt. Die „Reichsbürger“ nicht ernst zu nehmen, dürfte vor allem mit ihrem Sektencharakter und ihrer völlig realitätsfernen Ideologie zu tun gehabt haben, dass die Bundesrepublik in Wirklichkeit kein Staat, sondern eine Art GmbH sei. Doch manchmal wird aus einem Wahngebilde eine reale Bedrohung.

Können Sie die Dimensionen dieser radikalen Strömungen skizzieren?

Die „Reichsbürger“-Szene ist alles andere als homogen, sie besteht aus Dutzenden unterschiedlichen, häufig miteinander konkurrierenden Ansätzen. Sie stellt weder eine Bewegung noch eine Organisation im eigentlichen Sinne dar, eher ist sie eine Ansammlung verschiedener Netzwerkstrukturen. Vereint fühlen sich jedoch alle „Reichsbürger“ gleichermaßen in ihrer fundamentalen Leugnung der Nachkriegsrepublik – im Hinblick auf die parlamentarische Demokratie, deren Gewaltenteilung, ihre Verfassungsrechtlichkeit und auf die Rechtsstaatlichkeit. Die Corona-Pandemie scheint der ideale Nährboden dafür gewesen zu sein. In meinen Augen ist die Verfassungsfeindlichkeit der „Reichsbürger“ schon längst keine Frage mehr, sondern genau umgekehrt die in ihrer Gestalt geronnene Antwort. 

Zuletzt war immer wieder von der „wehrhaften Demokratie“ die Rede. Was hat es mit dem Begriff auf sich?

Es handelt sich um nichts anderes als den Schlüsselbegriff zur Verteidigung unserer parlamentarischen Demokratie. Ursprünglich stammt er aus dem Ideenschatz deutscher Emigranten wie etwa Hans Kelsen, Karl Löwenstein oder Otto Kirchheimer, die das Scheitern der Weimarer Republik noch am eigenen Leib zu spüren bekommen hatten. Aufgegriffen wurden derartige Überlegungen dann gleich zu Beginn des Parlamentarischen Rates von dem Sozialdemokraten Carlo Schmid, einem habilitierten Staatsrechtler, der seinerzeit als Vorsitzender des dortigen Hauptausschusses fungierte. Kein anderer Politiker hat größeren Anteil am Grundgesetz als er.

Ohne ihn hätte es mit der in Artikel 1 niedergelegten Unantastbarkeit der Menschenwürde wohl kaum einen geeigneteren normativen Verfassungsrahmen geben können. Auch das Recht auf Asyl, das Verbot der Todesstrafe, die Einführung der Kriegsdienstverweigerung und das konstruktive Misstrauensvotum gehen auf ihn maßgeblich zurück. Als er am 8. September 1948 seine programmatische Rede hielt, forderte er dazu auf, den Verfassungsfeinden nicht ungewollt in die Hände zu spielen. Er appellierte eindringlich, dass man gegenüber jenen Kräften, die die Demokratie wie einst die Nazis nur dazu gebrauchen wollten, um sie umzubringen, unbedingt „den Mut zur Intoleranz“ aufbringen müsse. Zum Konzept der wehrhaften Demokratie gehören etwa die Verfassungstreue, an die Professoren und andere Lehrende bei der Wahrnehmung ihrer Lehrfreiheit gebunden sind, das Verbot von verfassungsfeindlichen Vereinigungen, die Möglichkeit, bestimmte Grundrechte im Fall ihres Missbrauchs für verwirkt zu erklären, verfassungswidrige Parteien zu verbieten und nicht zuletzt in einem eigenen Artikel, der sogenannten Ewigkeitsklausel, die in den Artikeln 1 und 20 verankerten Grundrechte so zu schützen, dass sie auch durch parlamentarische Mehrheiten nicht mehr abgeschafft werden können.

Was müssten heute die Merkmale einer solchen Wehrhaftigkeit sein?

Die eben genannten Grundelemente stellen ja bereits wichtige Konkretionen dar. Der von dem Schweizer Journalisten Fritz René Allemann bereits 1955 konstatierte Satz, dass Bonn nicht Weimar sei, gilt auch für die Berliner Republik, also das wiedervereinigte Deutschland. Meiner Wahrnehmung nach befinden wir uns aber seit einiger Zeit in einer veränderten Bedrohungslage.

Das hat nicht nur, aber auch mit der Durchsetzung des Internets und der Etablierung rechtsferner Räume in sozialen Medien wie etwa dem russischen Messengerdienst Telegram zu tun, der eine Radikalisierungsmaschine enormen Ausmaßes darstellt. Hinzu gekommen ist allerdings auch, dass verfassungsfeindliche Kräfte für die Sicherheitsdienste in vielen Fällen kaum noch zu lokalisieren sind.

Der Verfassungsschutz ist angesichts dieses Dilemmas deshalb dazu übergegangen, eine eigene Kategorie namens „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ einzuführen. Dieses Wortungetüm verrät, dass die strukturellen Vorgaben der Extremismuskonzeption mit ihrer Unterscheidung zwischen Links, Rechts und Islamistisch immer weniger funktionieren. Diese ohnehin untaugliche Ränderdefinition ist so weit aufgeweicht, dass man sich nur noch mit einer Entgrenzung zu helfen weiß. Das kommt einer terminologischen Kapitulation gleich. Angesichts der Ausweitung der als extremistisch angesehenen Kampfzone auf die gesellschaftliche Mitte wie sie sich bei den „Querdenker“-Demonstrationen niedergeschlagen hat, herrscht eine stärker angewachsene Unberechenbarkeit der demokratiefeindlichen Potentiale.

Heute wird es vor allem darauf ankommen zu verhindern, dass eine unverhohlen demokratiefeindlich auftretende Kraft wie die AfD in die Lage kommt, an die Hebel staatlicher Macht zu gelangen – zunächst auf kommunaler, dann auf Landes- und schließlich auf Bundesebene. Was der NPD immer versagt geblieben ist, in den Bundestag zu gelangen, steht nun mit der rechtspopulistischen AfD seit dem Oktober 2017 im parlamentarischen, potentiell exekutiven Raum.

Damit ist man dem, was Politikwissenschaftler und Historiker in Bezug auf die Machtergreifung der Nazis als „demokratisches Paradox“ bezeichnen – mit dem legalen Mittel einer demokratisch gewählten Mehrheit die Verfassungsordnung auszuhebeln und eine Diktatur zu installieren – einen bedeutenden Schritt nähergekommen. 

Woran machen Sie die neuen aus der Mitte der Gesellschaft kommenden Gefahren fest?

Schauen Sie sich an, wer am letzten Mittwoch zu den Festgenommenen zählte: ein Unternehmer, eine Ärztin, ein Pilot, ein Tenorsänger, ein Spitzenkoch, ein Elitesoldat, ein Polizeibeamter sowie eine Richterin und ein Rechtsanwalt, beide promoviert. Und das alles angeführt von einem als Immobilienmakler im Frankfurter Westend tätigen, von seinem eigenen Familienclan freilich ausgestoßenen Adligen, jenem Prinzen Reuß, der einen mit seinem Tweed-Sakko sofort an den AfD-Granden Alexander Gauland erinnert. Allein die hier wie in einem Mikrokosmos abgebildeten Berufsgruppen stehen für das, was man gemeinhin als „gutbürgerliche Mitte“ bezeichnet. Doch diese Statusbezeichnung allein hat in der jüngeren deutschen Geschichte keineswegs automatisch für Demokratiebejahung gestanden.

Die Weimarer Republik ist nicht wegen eines zwischen der NSDAP und der KPD ausgebrochenen Bürgerkrieges untergegangen, sondern wegen der Tatsache, dass die Mittelschichtenparteien zusammengebrochen und ihre Mitglieder wie Anhänger zu den Nazis übergelaufen sind. 

Sie plädieren für mehr sprachliche Genauigkeit, indem Sie vorschlagen, den Begriff des Extremismus durch Radikalismus zu ersetzen. Was versprechen Sie sich davon?

Vor allem, die bislang nur unzureichend organisierte Wehrhaftigkeit unserer Demokratie zu effektivieren. In den Politikwissenschaften hat das Extremismuskonzept keinen besonders guten Namen. Das liegt zunächst einmal daran, dass es sich auf die vermeintlichen Ränder der Gesellschaft fixiert und damit die sogenannte Mitte zugleich indirekt für sakrosankt erklärt. Sowohl für die extreme Linke als auch für die extreme Rechte wird „Extremismus“ als Etikett verwendet. Dieses ist jedoch vor allem topographischer Natur, wird höchst statisch betrachtet und als eine quasi-anthropologische Größe behandelt. Der Begriff des Radikalismus verfügt demgegenüber im Hinblick auf die Diagnose verfassungsfeindlicher Positionen über eine ganze Reihe von Vorteilen. Der größte von allen besteht darin, dass er sehr viel besser dazu in der Lage ist, die Dynamik von politischen Phänomenen, insbesondere den Übergang zu demokratiefeindlichen Weltanschauungsmustern gründlicher zu begreifen. Bezeichnenderweise spricht kein Mensch von einer „Extremisierung“, jeder aber von Radikalisierung. 

Sie haben mehrere Standardwerke über die Geschichte des deutschen Linksradikalismus, insbesondere der RAF, geschrieben. Wie würden Sie die gegenwärtige rechtsradikale Szene im Verhältnis zur RAF der 70er und 80er Jahre beschreiben? Gibt es Gemeinsamkeiten? Worin bestehen deren Unterschiede?

Auch wenn ich selbst immer mal wieder beklagt habe, dass die RAF zu einer Art Referenzrahmen für den Terrorismus schlechthin geworden ist, so lassen sich einem Vergleich zwischen dem Linksterrorismus der siebziger Jahre und dem Rechtsterrorismus der Gegenwart doch eine ganze Reihe von Einsichten abgewinnen, die auch für eine präzisere Bestimmung der Reichsbürger-Verschwörung von Bedeutung sein könnten. Die vielleicht wichtigste Differenz besteht darin, dass die gesellschaftlichen Echoeffekte der RAF äußerst begrenzt waren. Sie fand keinen Anklang bei der Bevölkerung im Allgemeinen und schon gar keinen bei der Arbeiterschaft, dem eigentlichen Adressaten ihrer gewaltsamen Unternehmungen. Hinzu kommt, dass sich die Anhängerschaft der RAF hauptsächlich aus einem linken akademischen Milieu rekrutierte. Das Echo von Rechtsterroristen in der Bevölkerung ist dagegen weitaus größer. Ihre Akteure entstammen der gesamten Palette der bürgerlichen Gesellschaft. Aber auch solch abgeschotteten Einrichtungen wie der Bundeswehr und der Polizei, in die die RAF nie einen Fuß hineinbekommen hat.

In den letzten Wochen wurde kontrovers darüber diskutiert, inwieweit die Aktionen der sogenannten „Letzten Generation“ als terroristische angesehen werden können. Was halten Sie von dieser Diskussion?

Nicht viel. Die Rede von der Klima-RAF ist ja bezeichnenderweise von einem CSU-Politiker wie dem ehemaligen Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt aufgebracht worden. Ein Mann, der in seiner Amtszeit ebenso wie sein Vorgänger Peter Ramsauer und sein Nachfolger Andreas Scheuer nichts zu einer besseren Klimabilanz zustande gebracht hat, hätte angesichts der unbestreitbaren Tendenz zu einer Verfehlung der von der Weltgemeinschaft 2015 in Paris deklarierten Ziele zu einer angemessenen Dekarbonisierung einmal seinen Mund halten sollen. Allerdings sehe ich umgekehrt kaum Gründe, die Aktionsformen der Letzten Generation als sonderlich zielführend zu betrachten.

Interview: Harry Nutt 

Zur Person

Wolfgang Kraushaar, Jahrgang 1948, hat mehrere Standardwerke über die Geschichte der linksradikalen Terrorbewegung Rote Armee Fraktion (RAF) geschrieben, darunter „Die RAF und der linke Terrorismus“ (Hamburger Edition, zwei Bände). 

Der Historiker war über viele Jahre Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Derzeit arbeitet er für die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur.

„Keine falsche Toleranz“ heißt sein neues Buch, in dem er die Wurzeln antidemokratischer Traditionen in der verfassungsfeindlichen Rechten freilegt. Erschienen ist der Band in der Europäischen Verlagsanstalt, 606 Seiten, 34 Euro. Foto:

„Die Pandemie scheint der ideale Nährboden gewesen zu sein. In meinen Augen ist die Verfassungsfeindlichkeit der ,Reichsbürger‘ schon längst keine Frage mehr“ 

Quellenangabe: FR Deutschland vom 17.12.2022, Seite 24