Sind Kriege künftig unausweichlich? 

Syrien

 Russlands Angriff auf die Ukraine zeigt: Wenn wir Frieden als selbstverständlich ansehen, werden wir ihn verlieren.

Von Yuval Noah Harari

Spiegel, Nr.2 7.1.2 023, S.74

Vor einigen Jahren schrieb ich in mei­nem Buch »21 Lektionen für das 21. Jahrhundert« auch über die Kriege der Zukunft. Ich vertrat die Ansicht, dass die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts die friedlichste Ära in der Geschichte der Menschheit gewesen seien und dass das Führen von Kriegen wirtschaftlich und geopolitisch sinnlos geworden sei. Diese Tatsachen böten jedoch keine Garantie für ewigen Frieden, schließlich sei die menschliche Dummheit eine der wichtigs­ ten Kräfte in der Geschichte. Ich schrieb: »Selbst rationale Führer begehen am Ende oft sehr große Dummheiten.«

Gleichwohl war ich schockiert, als Wla­dimir Putin im Februar 2022 den Versuch startete, die Ukraine zu erobern. Die zu erwartenden Folgen, für Russland selbst wie für die gesamte Menschheit, waren so zerstörerisch, dass es selbst für einen kaltherzigen Größenwahnsinnigen ein unwahrscheinlicher Schritt zu sein schien. Dennoch entschied sich der Autokrat, die friedlichste Ära der Geschichte zu beenden und die Menschheit in eine neue Ära des Krieges zu stürzen, die schlimmer sein könnte als alles, was wir bisher erlebt ha­ ben. Sie könnte sogar das Ende unserer Spezies bedeuten.

Dies ist eine Tragödie, zumal die vergan­genen Jahrzehnte gezeigt haben, dass Krieg keine unvermeidliche Naturgewalt ist. Er basiert auf menschlichen Entscheidungen. Seit 1945 gab es keinen direkten Krieg zwi­schen Großmächten mehr und auch keinen Fall, in dem ein international anerkannter Staat durch eine ausländische Eroberung ausgelöscht wurde. Relativ häufig kam es zu begrenzten regionalen und lokalen Konflik­ te; ich lebe in Israel, daher kann ich das gut beurteilen. Doch ungeachtet der israelischen Besetzung des Westjordanlands haben Län­der selten versucht, ihre Grenzen einseitig mit Gewalt zu verschieben.

Das ist der Grund, warum die israelische Besatzung so viel Aufmerksamkeit und Kritik auf sich zieht. Was in Tausenden Jahren imperialer Geschichte normal war, sorgt heutzutage für Empörung. Selbst wenn man Bürgerkriege, Aufstände und Terrorismus berücksichtigt, sind in den letzten Jahrzehnten durch Kriege weitaus weniger Menschen ums Leben gekommen als durch Selbstmord, Verkehrsunfälle oder fettleibigkeitsbedingte Krankheiten.

Doch der Frieden ist nicht nur eine Frage der Zahlen. Die vielleicht wichtigste Ver­änderung der vergangenen Jahrzehnte war psychologischer Natur. Jahrtausendelang bedeutete Frieden »die vorübergehende Abwesenheit von Krieg«. Beispielsweise lagen zwischen den drei Punischen Kriegen, die Rom und Karthago führten, Jahrzehnte des Friedens. Aber alle Römer und Kartha­ger wussten, dass dieser Punische Friede jeden Moment zerbrechen konnte. Politik, Wirtschaft, Kultur waren in ständiger Er­wartung eines Krieges.

Im späten 20. und im frühen 21. Jahr­hundert änderte sich die Bedeutung des Wortes Frieden. Aus dem alten Frieden als »die vorübergehende Abwesenheit von Krieg« wurde der neue Frieden als »die Unwahrscheinlichkeit von Krieg«. In vielen, wenn auch nicht allen Regionen der Welt hatten Staaten keine Angst mehr davor, ihr Nachbar könnte einmarschieren und sie auslöschen.

Woran können wir erkennen, dass sich die Länder über diese Dinge keine Gedan­ken gemacht haben? Indem wir uns ihre Staatshaushalte ansehen. Bis vor Kurzem war das Militär der erwartbar größte Posten im Haushalt eines jeden Empire, Sultanats, Königreichs und einer jeden Republik. Die Regierungen gaben nur wenig für das Ge­sundheits­- und Bildungswesen aus, da die meisten Mittel in die Bezahlung von Solda­ten, den Bau von Mauern und Kriegsschif­fen flossen. 

Das Römische Reich gab etwa 50 bis 75 Prozent seines Haushalts für das Militär aus, im Reich der Song­-Dynastie (960 bis 1279) waren es etwa 80 Prozent und im Osmanischen Reich des späten 17. Jahrhunderts rund 60 Prozent. Von 1685 bis 1813 fiel der Anteil des Militärs an den britischen Staatsausgaben nie unter 55 Pro­ zent und lag im Durchschnitt bei 75 Prozent.

Während der großen Konflikte des 20. Jahrhunderts verschuldeten sich Demo­kratien und totalitäre Regime gleichermaßen, um ihr Militär zu finanzieren. Wenn man befürchten muss, dass die Nachbarn jeden Moment einmarschieren, Städte plündern, Leute versklaven und das Land annektieren könnten, ist es auch das Vernünftigste, was man tun kann.

Russische Soldaten plünderten die ukrai­nische Stadt Cherson und schickten Last­wagen voller Diebesgut, das sie aus ukraini­ schen Häusern gestohlen hatten, nach Russ­land. Das wird Russland nicht reich machen. Und es wird die Russen nicht für die enor­men Kosten des Krieges entschädigen. Aber wie Putins Einmarsch in die Ukraine zeigt, reichten technologische und wirtschaftliche Veränderungen allein doch nicht aus, um den neuen Frieden zu schaffen. Manche Staatsoberhäupter sind so machthungrig und unverantwortlich, dass sie einen Krieg beginnen, selbst wenn er für ihr Land wirt­ schaftlich ruinös ist und die Menschheit in ein nukleares Armageddon treiben könnte.

Die dritte wesentliche Säule des neuen Friedens ist daher kultureller und institutio­neller Natur.Menschliche Gesellschaften wurden lange Zeit von militaristischen Kulturen beherrscht, die den Krieg als unvermeidlich und sogar als wünschens­wert ansahen. Aristokraten sowohl in Rom als auch in Karthago glaubten, dass militä­rischer Ruhm die Krönung des Lebens und der ideale Weg zu Macht und Reichtum sei. Künstler wie Vergil und Horaz stimmten dem zu und widmeten ihre Talente dem Lobgesang auf Waffen und Krieger, der Verherrlichung blutiger Schlachten und der Verewigung brutaler Eroberer.

In der Ära des neuen Friedens nutzten die Künstler ihre Talente, um die Schrecken des Krieges zu zeigen, während die Politiker sich mit Reformen im Gesundheitswesen zu verewigen suchten, anstatt fremde Städte zu plündern. Führende Politiker aus der ganzen Welt schlossen sich zusammen, um eine Weltordnung zu schaffen, die es den Ländern ermöglichte, sich friedlich zu entwickeln und zugleich die gelegentlichen Kriegstreiber zu zügeln. 

Diese Weltordnung basierte auf den liberalen Idealen, nach denen alle Menschen die gleichen Grundrechte haben, keine menschliche Gruppe von Natur aus anderen überlegen ist und alle Menschen gemein­same Erfahrungen, Werte und Interessen teilen. Diese Ideale ermutigten die Staats- ­ und Regierungschefs, Kriege zu vermeiden.

Die liberale Weltordnung verband den Glauben an universelle Werte mit dem friedlichen Funktionieren der globalen Institutionen. Obwohl diese globale Ordnung alles andere als perfekt ist, hat sie das Leben der Menschen nicht nur in den alten imperialen Zentren wie Großbritannien und den Vereinigten Staaten verbessert, sondern auch in vielen anderen Teilen der Welt. Überall haben Staaten von der Zunahme des globalen Handels und der Investitionen profitiert, fast alle Länder kamen in den Genuss einer Friedensdividende. 

Nicht nur Dänemark und Kanada konnten Ressourcen von Panzern auf Lehrer umschichten. Auch Nigeria und Indonesien waren dazu in der Lage. Jeder, der über die Mängel der liberalen Weltordnung schimpft, sollte zunächst eine einfache Frage beant- worten: Können Sie ein Jahrzehnt nennen, in dem es der Menschheit besser ging als in den 2010er-Jah-ren? Welches Jahrzehnt wäre stattdessen Ihr goldenes Zeitalter?

Etwa die 1910er-Jahre mit dem Ersten Weltkrieg, der bolschewistischen Revolution, Rassismus und europäischen Imperien, die große Teile Afrikas und Asiens brutal ausbeuteten? Sind es vielleicht die 1810er-Jahre, als die Napoleonischen Kriege ihren blutigen Höhepunkt erreichten, russische und chinesische Bauern von ihren aristokratischen Herren unterdrückt wurden, die East India Company sich die Kontrolle über Indien sicherte und die Sklaverei in den Vereinigten Staaten, Brasilien und den meisten anderen Teilen der Welt immer noch legal war? Oder träumen Sie vielleicht von den 1710er-Jahren mit dem Spanischen Erbfolgekrieg, dem Großen Nordischen Krieg im Ostseeraum, den Mogulnachfolge- kriegen und den zahlreichen Kindern, die an Unterernährung und Krankheiten starben, bevor sie das Erwachsenenalter erreichten?

Der neue Frieden ist nicht das Ergebnis eines göttlichen Wunders.Er wurde erreicht, weil Menschen eine funktionierende globale Ordnung aufbauten. Leider haben zu viele diese Errungenschaft für selbstverständlich gehalten. Vielleicht gingen sie davon aus, dass der neue Frieden hauptsächlich durch technologische und wirtschaftliche Kräfte garantiert würde und auch ohne seine dritte Säule – die liberale Weltordnung – überleben könnte. 

Folglich wurde diese Ordnung zunächst vernachlässigt und dann mit zunehmender Heftigkeit angegriffen. allein waren nicht stark genug, um den neuen Frieden zu beenden. Was die globale Ord- nung wirklich untergrub, war, dass sowohl die Länder, die am meisten von ihr profitierten (darunter China, Indien, Brasilien, Polen), als auch die Länder, die sie überhaupt erst aufgebaut hatten (vor allem Großbritannien und die USA), ihr den Rücken kehrten. 

Das Brexitvotum und die Wahl Donald Trumps im Jahr 2016 symbolisierten die Wende. Diejenigen, die die globale liberale Ordnung infrage stellten, wollten meist keinen Krieg. Sie wollten durchsetzen, was sie als Interessen ihres Landes verstanden, und sie argumentierten, dass jeder Nationalstaat seine eigene heilige Identität und Traditionen verteidigen und entwickeln solle. Was sie nie erklärten, war, wie all diese Nationen ohne universelle Werte und globale Institutionen miteinander umgehen würden. Die Gegner der globalen Ordnung boten keine Alternative an. 

Sie glaubten, dass die verschiedenen Nationen sich irgendwie arrangieren könnten und die Welt zu einer Ansammlung ummauerter, aber einander freundlich gesinnter Festungen werden würde. Festungen sind jedoch selten freundlich. Jede nationale Burg will in der Regel etwas mehr Land, Sicherheit und Wohlstand für sich selbst – auf Kosten der Nachbarn. 

Ohne universelle Werte und globale Institutionen können sich rivalisierende Festungen kaum auf gemeinsame Regeln einigen. Das Modell der Festungen war ein Rezept für eine Katastrophe. Und die Katastrophe ließ nicht lange auf sich warten. Die Coronapandemie zeigte, dass sich die Menschheit ohne eine wirksame globale Zusammenarbeit nicht gegen gemeinsame Bedrohungen wie Viren schützen kann. Vielleicht hat Putin beobachtet, wie Covid die globale Solidarität weiter aushöhlte, möglicher­ weise kam er so zu dem Schluss, dass er der liberalen Ordnung den Todesstoß geben könnte, indem er das größte Tabu der Ära des neuen Friedens bricht. Putin mag sich gedacht haben, dass einige Länder zwar aufschreien und ihn kritisieren würden, wenn er die Ukraine erobern und sie Russ­ land einverleiben würde, er aber nicht mit wirksamer Gegenwehr rechnen müsse.

Die Behauptung, Putin sei gezwungener­maßen in die Ukraine eingedrungen, um einem westlichen Angriff zuvorzukommen, ist unsinnige Propaganda. Eine vage west­liche Bedrohung ist kein legitimer Vorwand, um ein anderes Land zu zerstören, dessen Städte zu plündern, dessen Bürger zu ver­ gewaltigen und zu foltern und zig Millionen Männern, Frauen und Kindern unsägliches Leid zuzufügen. Jeder, der glaubt, dass Putin keine andere Wahl hatte, möge bitte das Land nennen, das eine Invasion in Russland im Jahr 2022 vorbereitet haben soll.

Die deutsche Armee etwa? Und vergessen Sie nicht, dass Putin bereits 2014 in die Ukraine einmarschiert ist – nicht erst 2022. Putin hat seine Invasion lange Zeit vor­-bereitet. Er hat den Zerfall der Sowjetunion nie akzeptiert, und er hat die Ukraine, Georgien oder eine der anderen postsowje­ tischen Staaten nie als legitime unabhän­ gige Nationen angesehen. Während, wie erwähnt, die durchschnittlichen Militäraus­ gaben weltweit etwa 2,2 Prozent und in den Vereinigten Staaten 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen, sind sie in Russland weitaus höher. Wie hoch genau, ist ein Staatsgeheimnis. In interna­ tionalen Statistiken liegen sie bei 4,1 Pro­ zent. Schätzungen gehen davon aus, dass der Anteil aber auch bei einem Vielfachen liegen könnte.

Sollte Putin den Krieg gewinnen, wäre es der Zusammenbruch der globalen Ordnung und des neuen Friedens. Autokraten in aller Welt kämen zu der Überzeugung, dass Eroberungskriege wie­der möglich sind. Die Demokratien wären gezwungen, sich zu ihrem Schutz zu mili­tarisieren. Schon jetzt erleben wir, wie die russische Aggression Deutschland dazu veranlasst, seinen Verteidigungshaushalt drastisch zu erhöhen, und etwa Schweden die Wehrpflicht wieder einführt.

Geld, das für Lehrer, Krankenschwestern und Sozialarbeiter ausgegeben werden könnte, wird nun in Panzerarmeen, Rake­ ten und Cyberwaffen investiert. Junge Menschen sollen ihren Militärdienst ableis­ ten. Die ganze Welt könnte irgendwann wie heute Russland aussehen – mit einer überdimensionierten Armee und unter­ besetzten Krankenhäusern. Eine neue Ära von Krieg, Armut und Krankheit wird die Folge sein.

Wird Putin jedoch gestoppt und bestraft, wäre die Weltordnung gestärkt. Es wäre eine Ermahnung an alle, die sie nötig haben, dass man nicht tun kann, was Putin getan hat. Welches der beiden Szenarien wird eintreten? Zum Glück war Putin trotz seiner Aufrüstung auf eine entscheidende Sache nicht vorbereitet: den Mut des ukrainischen Volkes. Die Ukrainer haben die Russen in einer Reihe von Siegen bei Kiew, Charkiw und Cherson zurückge­ drängt. 

Doch Putin hat sich bisher geweigert, seinen Fehler einzugestehen; er reagiert auf die Niederlage mit zunehmender Brutalität. Da seine Armee die ukrainischen Soldaten an der Front nicht besiegen kann, setzt Pu­ tin nun darauf, dass die ukrainische Zivilbe­ völkerung in ihren Häusern erfriert. Wie der Krieg enden wird, ist ebenso wenig vorher­ sehbar wie das Schicksal des neuen Friedens.

Geschichte ist niemals deterministisch. Nach dem Ende des Kalten Krieges dachten viele, der Frieden sei unvermeidlich und werde bestehen, auch wenn wir die globale Ordnung vernachlässigten. Seit Russland in die Ukraine einmarschiert ist, vertreten einige plötzlich die gegenteilige Ansicht. Sie behaupten, dass Frieden eine Illusion gewesen, der Krieg hingegen eine unzähm­bare Naturgewalt sei. Und dass Menschen nur die Wahl hätten, ob sie Beute oder Raubtier sein wollen.

Beide Positionen sind falsch. Krieg zu führen oder Frieden zu schließen basiert auf Entscheidungen und ist nichts Unvermeid­bares. Kriege folgen keinem Naturgesetz. Aber Frieden zu schließen ist keine einmalige Ent­scheidung. Es ist eine langfristige Anstrengung, um universelle Normen und Werte zu schüt­zen und kooperative Institutionen aufzubauen.

Der Wiederaufbau der globalen Ord­ nung bedeutet nicht, dass wir zu dem System zurückkehren, das in den 2010er­ Jahren zusammengebrochen ist. Eine neue und bessere Weltordnung sollte den nicht westlichen Staaten, die sich beteiligen wol­len, eine wichtigere Rolle zuweisen. Sie sollte auch die Bedeutung der nationalen Loyalitäten anerkennen.

Die globale Ordnung ist vor allem wegen des Angriffs populistischer Kräfte zerfallen, die argumentierten, patriotische Loyalitäten widersprächen einer globalen Zusammen­arbeit. Populistische Politiker predigten, man müsse als Patriot gegen globale Institutionen und weltweite Zusammenarbeit sein.

Es gibt jedoch keinen inneren Wider­spruch zwischen Patriotismus und Globa­lismus, denn beim Patriotismus geht es nicht darum, Fremde zu hassen. Sondern darum, seine Landsleute zu lieben. Und wenn man im 21. Jahrhundert seine Lands­leute vor Kriegen, Pandemien und ökolo­gischem Kollaps schützen will, gelingt das am besten, indem man mit den anderen zusammenarbeitet.