Über Demokratie und Kultur in Lübeck

 

 

 

 

Über Demokratie und Kultur in Lübeck

 

Was haben die präfaschistischen Umtriebe im Lübeck der 1920er Jahre mit den heute in der Stadt diskutierten kulturpolitischen Leitlinien zu tun? Auf den ersten Blick nichts. Keiner der Akteure von heute steht in der Tradition antidemokratischer Verschwörung von damals.

Alle – so darf unterstellt werden – sind guten Willens bemüht, die Kulturstadt Lübeck voranzubringen. Und natürlich steht die Possehl-Stiftung mit all ihrer segensreichen Arbeit für die Stadt nicht in dem Verdacht, den deutschnationalen Traum ihres Namensgebers realisieren zu wollen.

Auf den zweiten Blick aber doch etwas Entscheidendes: Die Frage nämlich, wie wir heute mit den geschichtlichen Lehren aus der Zerstörung der Weimarer Republik umgehen, die die Mütter und Väter des Grundgesetzes zu ziehen versucht haben.

Der deutsche demokratische Wiederbeginn nach 1945 war auch ein »Nie Wieder«. Nie wieder Krieg. Nie wieder Meinungsmonopole à la Hugenberg. Nie wieder Macht ohne demokratische Kontrolle.

Demokratie und öffentliche Kontrolle als Prinzip für alle essentiellen Bereiche der Gesellschaft. Auch für die Kultur, „systemrelevant“, die Seele der Gesellschaft, kein Sahnehäubchen, sondern Grundnahrungsmittel. Die Kunst und der Kulturbetrieb sind für die Entwicklung unserer Ethik unverzichtbar. Ohne Fiktionen und ihre gesamtgesellschaftlichen Verbreitung ist moralische Erziehung unmöglich. Es ist kein Zufall, dass totalitäre Systeme die Kunstfreiheit einschränken – sie wollen die Einbildungskraft ihrer Untertanen begrenzen (Markus Gabriel, Moralische Fortschritt in dunklen Zeiten, universale Werte für das 21. Jahrhundert, Berlin 2020)

Viele sollen und müssen dazu beitragen. Und keineswegs nur die öffentliche Hand. Aber der Staat (die Stadt) muss die Rahmenbedingungen gestalten, Mindestfinanzierungen sichern usw. Die öffentliche Mitverantwortung für die Seele der Nation, genannt Kulturpolitik, kann und darf die Stadt nicht aus den Händen geben. Dies besser zu verstehen – dafür lohnt der Blick in die Vergangenheit.

Die Geschichte eines heute möglichen Tabubruchs in den Beziehungen zwischen Possehl-Stiftung und Stadt begann vor 100 Jahren.  Am 1.Januar 1921 trat Dr. Johannes Neumann das Amt des regierenden Bürgermeisters des Freistaates Lübeck an. Damit begannen 12 Jahre des Präfaschismus in Lübeck (vgl.dazu https://michaelbouteiller.de/?page_id=808).

Neumann war zeitweise leitendes Mitglied des Alldeutschen Verbandes (ADV), der es im Deutschen Reich auf ca.150.000 Mitglieder brachte. Der ADV war der führende völkische Ideengeber auf lokaler-, landes- und Reichsebene. Er war ein Think Tank, u.a. von Großindustriellen finanziert und straff organisiert. Er führte ins Dritte Reich.

Der Industrielle und Medienmogul Hugenberg war ebenso ein führendes Mitglied des ADV wie der Förderer und Freund Neumanns in Lübeck, Emil Possehl. Possehl war – auch dank des Erbes seines Vaters Ludwig – der reichste und politisch sowie kulturell einflussreichste damalige Bürger der Stadt (vgl.Bernd Kreutzfeld, Der Lübecker Industrie-Verein,Lübeck 1969, S. 46 f. https://michaelbouteiller.de/wp-content/uploads/2021/03/Industrieverein.pdf) Er war leider 1919 verstorben und konnte deshalb den Werdegang seines Freundes nicht weiter verfolgen. 

Hugenberg wiederum machte seinen verlässlichen Freund Neumann zum Aufsichtsratsvorsitzenden des Scherl-Verlages in Berlin und hatte ihn auf diese Weise in seiner Nähe und Hand. Der Scherl-Verlag wiederum war die ideologische Herzkammer des völkischen Medien-Imperiums Hugenbergs, der über eine geniale Konzernstruktur (https://bit.ly/3sfevBG) seinen Arm tief auch im Lübecker Freistaat hatte.

Der Lübecker Generalanzeiger war nämlich Mitglied des Hugenbergschen Anzeigenverbundes (Allgemeine Anzeigen GmbH ALA) und bildete zusammen mit den ebenso unter völkischer Leitung befindlichen Lübecker Blättern die Speerspitze der damaligen geistigen Konservativen Revolution vor Ort.

Davon war der normalen Lübecker Bevölkerung nichts bekannt. Auch Senat und Bürgerschaft wollten von dieser Berliner Nebentätigkeit und den Umtrieben ihres Bürgermeisters im völkischen Milieu nichts gewusst haben. 

Seine kulturell tragende Rolle im Freistaat hatte Neumann Schritt für Schritt ausgebaut. Als Direktor der Gemeinnützigen, als im Kirchenrecht und kirchlichen Leben Hervortretender, als dem örtlichen ADV Vorsitzender und politisch-völkischer Aktivist. 

Neumanns Tochter, Hildegard Heise, eine bis heute wenig beachtete großartige Fotografin, heiratete den für Lübeck bedeutsamen Direktor des St.Annen-Museums, Carl Georg Heise. 

Die Krönung der kulturellen Lübecker Laufbahn Neumanns sollte dann die Leitung der Vorbereitungen eines Jahrhundert-Ereignisses und dessen Durchführung werden, die 700 Jahrfeier der Reichsfreiheit im Jahre 1926.  Bekannte Persönlichkeiten reisten an. 

Nur Hindenburg sagte leider ab. Dafür hielt der spätere Nobelpreisträger Thomas Mann im possehlschen Stadttheater die hochtönende, sich selbst preisende Lobrede „Lübeck als geistige Lebensform“. Die 1000 Mark Honorar waren ihm dafür ein willkommener Antrieb, schrieb er damals.

Alles in allem platzte die Strategie des Hugenberg-Zöglings Neumann. Julius Leber enthüllte das Komplott: Die Reichsregierung unter Wilhelm Marx sollte gestürzt und durch eine Diktatur abgelöst werden. Bürgermeister Neumann als Reichskanzler an der Spitze. Neumann trat am Morgen des Beginns der Jahrhundertfeierlichkeiten, am 3.Juni 1926,  zurück. Der erste sozialdemokratische Bürgermeister Lübecks, Paul Löwigt, wurde gewählt. Er leitete die Feierlichkeiten.

Thomas Mann hielt am 6.Juni 1926 indes ungerührt von den umstürzenden Ereignissen in seiner Heimatstadt seinen viel beachteten Vortrag.  Die Schulklassen zogen fröhlich durch die Stadt. Mahlaus Umzugsbilder erfreuten die Bevölkerung. Und niemand bemerkte – oder wollte es bemerken – die durch Julius Leber verhinderte – völkische Revolution in Lübeck. 

Der kulturellen Stadtelite gelang indes ein erstaunliches mediales Kunststück als Beweis ihrer kulturellen Hegemonie über die Stadt. Es war m.E. der größte Erfolg der Konservativen Revolution des geistigen Lübeck der damaligen Zeit: Schweigen allerorten. Nichts als Schweigen. Übrigens bis heute.

Fake News (statt des Aufbegehrens über den Präfaschismus, spielte man das Hohe Lied vom Guten und Schönen im Lübecker Stadttheater) und der fehlende offene Diskurs zwischen den Lagern, waren in dem gespaltenen Lübeck der 1920er Jahre eine der Ursachen für den späteren Umschlag vom Präfaschismus in den Faschismus.

Heute steht die Stadt wieder vor einer wichtigen politischen Entscheidung. Heute wieder fehlt die gebotene öffentliche Auseinandersetzung über eine Richtungsentscheidung – diesmal allerdings nur – in der Lübecker Kulturpolitik. Es geht um die bisher unbestrittene Eigenständigkeit kulturpolitischer Entscheidungen von Stadt und Possehl-Stiftung. Wer bestimmt die Kulturpolitik der Stadtgemeinde? Die Gremien der Stiftung oder die Bürgerschaft?

Natürlich haben sich die Umstände seither geändert. Natürlich hat sich die kulturelle Spaltung unserer Gesellschaft seit dem Zusammengehen von SPD und CDU in der ersten Großen Koalition 1966 langsam verringert. Das ist gut so. Denn vorwärts gerichtete Kompromisse zwischen den ökonomischen Lagern und ihren Frontorganisationen waren und sind der Motor gesellschaftlicher Entwicklung.

Gleichwohl herrscht wieder Schweigen in der politischen Landschaft. Dabei geht es diesmal nicht um Diktatur oder Demokratie. Es geht nicht um Mord und Totschlag. Aber seit Jan 6 wissen wir genauer: Worte sind geplante Taten. Und – was immer schon bekannt war -, Kunst ist vorweggenommene Zukunft. Und: Kulturpolitik ist ein Stück geistige Steuerung gesellschaftlicher Einheiten. Die Produktion der Träume vom Morgen.

Wir kennen auch das Gegenmittel: Was vor Präfaschismus schützt, ist die Verteidigung städtischer, demokratisch legitimierter Kultur. Dank unserer Weimarer Geschichte wissen wir nämlich: Es ist ein Leichtes, unter dem Deckmantel demokratischer Wahlen eine politische Einheit zu übernehmen. Gegen all das hilft nur rechtzeitige Aufklärung.

Das Verbot der Indoktrination, das Gebot der Kontroversität und das Gebot der Schülerorientierung. Diese drei Maximen sind starke Waffen gegen den Präfaschismus. Sie werden ganz offenbar in der Lübecker Kulturpolitik  nicht beachtet (  https://michaelbouteiller.de/?page_id=1793 ). 

Dabei knüpft die anstehende Entscheidung über die künftige Organisation der Kulturverwaltung an einen Namen an, dessen unheilvolles Wirken in der Lübecker politischen Geschichte der Nachkriegszeit eigentlich keine Auswirkungen mehr gehabt haben sollte. Possehls Name verbindet sich heute im Wesentlichen mit der Stiftung gleichen Namens. Deren großartiges Wirken ist hier indes nicht gemeint. 

Die andere Bedeutung des Namens Possehl, Emil Possehl als Treiber des völkischen (antisemitischen) Präfaschismus im Kaiserreich und der Weimarer Republik, steht im Fokus. Sein Versuch, über kulturelle Dominanz den Freistaat zu prägen. 

Denn kulturelle Prägung würde die Stiftung des Herrenmenschen Possehl heutzutage zweifellos über die städtische Kulturpolitik gewinnen, wenn die zur Zeit zur Abstimmung in der Lübecker Bürgerschaft anstehende Vorlage vom 8.10.2020 – dazu noch ohne breiten öffentlichen Diskurs – angenommen würde: „Leitlinien zur Kulturentwicklung.“ 

Damit wäre nach 100 Jahren vollzogen, was Emil Possehl in seinem Todesjahr 1919 persönlich und mit seiner Stiftung damals eigentlich beabsichtigte und selbst nicht mehr erreichen konnte: die anhaltende kulturelle Prägung „seiner Stadt“. Das dülfersche Gebäude in der Beckergrube durch Spenden maßgeblich zu ermöglichen, war ja das eine. Die Herrschaft über die geistigen Inhalte „des alltäglichen städtischen Theaters“ auszuüben war dem klugen Despoten indes immer schon wichtiger.

Es geht denn auch nach hundert Jahren nicht mehr um den Einfluss eines durch und durch völkischen Machtmenschen. Es geht vielmehr heute um den ganz unschuldig daherkommenden Versuch, stikkum die kulturelle Dominanz der Meinungsträger:innen in der Stiftung seines Namens über die kommunalen Organe der Stadtgemeinde Lübeck herbeizuführen. Ich bin übrigens davon überzeugt, dass auch in den Gremien der Stiftung die Brisanz „der Kooperation“, die in der Vorlage vorgeschlagen wird, nicht hinreichend bekannt ist.

Diese Attacke sollte man jedenfalls als Lübecker Bürger:in  abwehren. Possehl hin oder her. Possehl war – wie wir wissen – damals – nicht die Stadt. Seinerzeit gab es die Sozialdemokratie und den gegen das possehlsche geistige Erbe kämpfenden Julius Leber. Und Possehl ist auch heute (noch) nicht die Stadt.

Stattdessen sollte das öffentliche Ringen um eine demokratische Stadtkultur endlich beginnen ( https://bit.ly/3uemkcu). Auszüge der Verwaltungsvorlage vom 8.10.2020 und eine Einschätzung dazu findet man hier : https://bit.ly/3aH1hI4

Mein persönliches Fazit: Weder in der Firma Possehl, noch in den Gremien der Stiftung weht heute der Geist des Gründers. Gleichwohl sollte jede Vermischung oder der Anschein vermieden werden. Die Stiftung unterstützt mit ihren privatwirtschaftlichen Gewinnen die Kultur der Stadt. Die Hansestadt Lübeck ist demgegenüber die Hüterin der öffentlichen Gelder von Stadt, Land, Bund und der Europäischer Union. Einklagbar sind Inhalte kultureller Vielfalt – deshalb auch nur bei der öffentlichen Hand. Denn nur sie muss sich rechtfertigen vor den Bürger:innen.

MB, 23.2.2021