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Das Dilemma der Grünen und die blockierte Republik

Blätter, AUSGABE JULI 2023

Das Dilemma der Grünen und die blockierte Republik

von Stefan Grönebaum Die Grünen als die – verhinderte – Reformpartei

„…Auch die Grünen teilten die Auffassung vieler, dass Deutschland „im Ganzen“ eigentlich gut aufgestellt und nur in der Energie- und Klimapolitik noch viel zu tun sei. Die weiter aufklaffende soziale Schere, die Vernachlässigung der Infrastruktur, der Bildung, der Mangel an Zukunftstechnologien – so sie nicht rein grün waren – all das beschwerte die meist jüngeren sozialen Aufsteiger:innen in ihrer städtisch-grünen Blase wenig. Parallel zu deren Aufstieg vollzog sich jener der Realos an der Grünenspitze: 

Ob Robert Habeck oder Annalena Baerbock oder in der Landesliga Tarek Al Wazir und Winfried Kretschmann – sie alle waren eher pragmatisch als links, glaubten an das langsame Hineinwachsen in die Regierungen und teilten die energiepolitische Überzeugung, dass man in dieser fossilen Gesellschaft Gas und Hybride als Übergangstechnologien brauche. Ausgearbeitete Reformkonzepte für alle Sektoren unserer Gesellschaft waren dagegen auch bei den Grünen Mangelware. 

Die scheinbar ewige GroKo ersparte es ihnen ja auch, auf Bundesebene durchgerechnete Alternativen vorzulegen, die die Problemgruppen differenziert berücksichtigten. Bereits nach dem Dürresommer 2018 ließ der Hype um die Europawahl 2019 viele Grüne glauben, sie würden mit ihren populären Spitzenkandidaten – angesichts der schwächelnden GroKo – quasi von selbst an die Spitze kommen. Faktisch waren sie jedoch überhaupt nicht vorbereitet auf die Ereignisse, geschweige denn auf eine „Machtübernahme“.

Das zeigte schon der Wahlkampf 2021: Erst stritten sich die Grünen um die Poleposition. Als diese dann im Frühjahr durch Baerbock für Baerbock entschieden war, erwies diese sich als praktisch und konzeptionell derart unvorbereitet, dass die Kanzlerkandidatur schon kurz danach „gelaufen“ war. Als im Juli die Ahrtalflut kam, setzten die Grünen nicht nach, präsentierten keine Klimasofortprogramme – die es nicht gab –, sondern hielten still, weil sie wohl zu Recht dachten, dass die wenig reformbereiten Wählerinnen und Wähler gerade nach dieser Katastrophe nicht überfordert werden dürften. 

Die Lücke zwischen gelähmten Grünen und einem denkbar schwachen Unionskandidaten nutzte Olaf Scholz nach dem Motto „Wenn zwei schwach sind, siegt am Ende der am wenigsten Schwache“. Und die erschöpften Grünen, die erst ganz am Ende des Wahlkampfs voller Angst plötzlich wieder die Klimakarte zogen, behielten nur knapp die Nase vorn vor einer FDP, die alte Besitzstandswahrer sowie junge Gegner von Regulierungen wie Tempolimit hinter sich versammelte.

Schon damals galt, was Springer-Chef Döpfner der „Bild“ ins Stammbuch schrieb: Wenn schon die Ampel drohte, sollte wenigstens die FDP gestärkt werden, um rot-grüne Inhalte zu verhindern, damit diese später mit „Jamaika“ endgültig erledigt werden könnten. Genau diese Agenda läuft jetzt en gros, mit freundlicher Assistenz der SPD, die ihre Klimakanzler-Plakate schnell wieder eingerollt hatte.

Von Beginn an zeigten sich die inhaltlich verkehrten Rollen der angeblichen Reformkoalition: Die vieles blockierende FDP galt als Gewinner des Koalitionsvertrags, die reformwilligen Grünen als Verlierer. Und die strukturkonservative SPD stellte sich alsbald auf die Seite der FDP. Für einen breit gefächerten Reformdiskurs eine denkbar ungünstige Voraussetzung. Zudem ergaben sich die Grünen willig dem progressiven Gesäusel der FDP – anstatt die Bürger oder wenigstens ihre Klientel der Umwelt- und Klimaschützer auf unvermeidliche Verteilungskonflikte einzustimmen, die bei ernsthafter Klimapolitik unweigerlich anstehen. 

Als sie öffentlich bei den „Verbrennern“ und deren fossiler Lobby auf Granit bissen, ließen sich die Grünen darauf ein, die Klimasektorziele aufzuweichen und die FDP damit aus ihrer Verantwortung für die CO2-Emissionen zu entlassen. Ohne Not opferten sie damit ihr Alleinstellungsmerkmal und erlaubten es so der Union, heuchlerisch als die Partei wahren Klimaschutzes aufzutreten. Hier zeigt sich: Letztlich fehlt es den Grünen an Konzepten, wie man auf eine derart brutale Verhinderungskampagne der fossilen Lobbys und reaktionären Kräfte antwortet. Sie suchten zu sehr die Nähe der Wirtschaft, um – was nötig gewesen wäre – zwischen Freunden und Gegnern eines Green Deal zu differenzieren. Denn spätestens seit den erhöhten Energiepreisen ist die Begeisterung vieler angeblich so progressiver Manager für grüne Klimapolitik verflogen.

Nun wäre es eigentlich aufzuzeigen gewesen, dass nur grüne Technologien der Wirtschaft ihre langfristige Wettbewerbsfähigkeit sichern können. Stattdessen musste der grüne Wirtschaftsminister mit Beginn des russischen Angriffskrieges die jahrzehntelangen Versäumnisse seiner Vorgänger ausbügeln, um die deutsche Energieversorgung zu sichern, dafür antichambrierte er im Wechsel zwischen Ölscheichs und Gaslieferanten.

Dabei hätte er die argumentative Kraft und Zeit auch dafür aufwenden müssen, die anstehende große Energiewende zu erklären. Stattdessen kamen noch handwerkliche Fehler dazu, die auch damit zu tun haben, dass die soziale Flankierung grüner Klimapolitik nie das Herzensprojekt der ökologischen Agenda-Strategen war. Auch deshalb haben die Grünen bis heute keine Antwort auf ihre Schwäche in ländlichen Räumen – da sie nicht den Mut aufbringen, dem Finanzminister die erforderlichen Milliarden für Programme abzufordern, die die Kluft zwischen Land und Stadt verringern könnten. 

Last but not least rächt es sich für die Grünen, dass die erneuerbaren Energien lange eine Nischentechnologie geblieben sind, die nur durch Subventionen gepusht wurden und um die sich ein kleines Expertennetzwerk gebildet hat, das lange unter Luftabschluss gedieh. Wer sich genau anschaut, wie ein Patrick Graichen als Referent von Rainer Baake – und der wiederum als Diener Jürgen Trittins – groß geworden ist, der erkennt, wie schmal auch bei den Grünen der Grat zwischen produktivem Netzwerken und familiär-freundschaftlichem Lobbyfilz inzwischen ist.

Es gilt, die unvermeidlichen Verteilungskämpfe auch auszutragen

Dies führt zum letzten und gravierendsten Problem. Dass die Grünen irgendwann mit ihren Plänen für den beschleunigten Ausbau der Erneuerbaren mit den Natur- und Umweltschützern aneinandergeraten mussten, war eigentlich klar. Doch die Grünen haben durch ihre real-pragmatische Brille nicht gesehen, dass sie neben bürgerlichen Wechselwählern auch ihre ureigene Klientel bedienen müssen. Heute, da die Wechselwähler massenhaft von der Fahne gehen, sind viele Umweltschützer – zu Recht – enttäuscht.

Das ist das Dilemma der Grünen: Sie sind inzwischen bis zur Handlungsunfähigkeit eingeklemmt – zwischen den „Partnern“ SPD und FDP, die mit echter Klimapolitik nie viel am Hut hatten, einer Opposition aus Union, AfD und „Bild“, die immer neue Wutwellen gegen die Grünen rollen lässt, und ihrer Kernklientel, die sich von den Grünen verraten und verkauft fühlt. Dabei haben sie selbst kein Konzept, wie dieser Zwickmühle zu entkommen wäre, und können im laufenden Geschäftsgang nur verlieren.

Deshalb sehen heute viele Experten die Grünen als politisch verbrannt an. Damit aber, so die fatale Folge, fallen auch die Aktien für eine echte Energiewende. Deutschland und sein politisches System scheinen in einer Politikfalle zu stecken: nicht, weil man wie in Frankreich zu sehr auf den Staat setzt, sondern weil man den Staat erst hat ausbluten lassen und ihm nun nicht mehr zutraut, Auswege aus der historischen Krise zu finden.

Die Grünen sind damit in ihrer derzeitigen desolaten Lage nur der Ausdruck einer Gesellschaft, die sich in ihren ökonomischen und politischen Strukturen heillos verhakt hat. Der Missmut bei den sogenannten kleinen Leuten, die nun für die Folgeschäden und -kosten der jahrzehntelangen Versäumnisse aufkommen sollen, ist vorprogrammiert – und damit wohl auch das Scheitern der politischen Eliten wie der weitere Aufstieg der Populisten.

Sollte die Ampelregierung daher doch noch einen zweiten Anlauf nehmen (wollen), braucht es dafür endlich glaubhafte Reformer, die radikale, aber realistische, das heißt umsetzbare, und wenigstens halbwegs gerechte und nachhaltige Reformkonzepte entschlossen vertreten.

Die Unionsposition, man könne mit Belastungen noch ein paar Jahre warten, ist hingegen schlichter Unfug – ökologisch wie ökonomisch. Die deutsche Wirtschaft hat schon einmal enorm an Wettbewerbsfähigkeit verloren, weil sie ihre Vorreiterposition bei der Energiewende – dank Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) – in den Merkel-Scholz-Jahren gegen billiges Gas aus Russland verschleuderte. Zehntausende modernster Jobs wanderten deshalb nach Asien und die USA ab. Seither hat sich die ökologische Situation um ein Vielfaches verschärft. Unsere Lage gebietet daher rasches Handeln. Ansonsten ist die – wohl leider realistischere – Alternative eine auf Jahre gesellschaftlich und politisch blockierte Republik.“