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Allgemein/Politik/Geschichte

Warum das Moralgerede der gegenwärtigen Politikelite Vertrauen zerstört und widerwärtig ist

Moral Woman/Moral Man

Keine Auslandsreise oder kein Inlandsauftritt unserer Außenministerin oder unseres Wirtschaftsministers bleibt ohne Betonung der hohen moralischen Selbsteinordnung ihres Handelns oder der Aufforderung zu moralischem Handeln : „Ich bin hier und tue dies und das, weil ich die europäische Wertegemeinschaft, die Gerechtigkeit, den Weltfrieden usw. verteidigen, fördern, vertiefen……und so weiter will…Sie können sicher sein, dass ich, wir, unser Land …. Sie bei diesem Kampf, diesem Vorgehen, dieser Haltung in Bezug auf die Menschenrechte usw. …voll umfänglich unterstützt.“

Derartige Rede ist zerstörerisch und sie erniedrigt. Sie ist arrogant, weil sie vom hohen Ross gesprochen und heuchlerisch, weil sie durch und durch verlogen ist. Denn die Politik unseres Landes ist an keiner Stelle – an Moralwerten gemessen – wertebestimmt. Denn sie ist nicht universell. Werte sind aber universell oder gar nicht. Jedes Land behandeln wir unterschiedlich, je nach Interesse und politischem Kalkül . Äthiopien anders als die USA, Ouagadougou anders als Paris. 

Arm anders als Reich: Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an, und der Arme sagte bleich: „Wär ich nicht arm wärst du nicht reich“(Bert Brecht 1934). Von einer gleichen Augenhöhe des Autowäschers und der Vorstandsvorsitzenden will ich gar nicht reden. Nicht Moral, sondern Machtverhältnisse beherrschen die Politik.  Das weiß jeder.

Warum tun sie es dann?  Moral wird zu einer reinen Sache der Imagepflege für die Fans zuhause auch vom Ausland her. Sonst nichts. Sie wissen, Moral hat in der Öffentlichkeit nach wie vor den höchsten Werbewert. Es ist eine seit alters funktionierende Werbebotschaft:  „Ich bin das Licht und erlöse dich von dem Übel“. Diese Botschaft beeindruckt inländische Fans und im Ausland gleicherweise. 

Das Moralgerede verdeckt Widersprüche und die eigenen Interessen. Es gibt Aufmerksamkeit und vermittelt vermeintlich Nähe. Werte steuern den Alltag, das Blabla verfängt deshalb und gelingt ohne viel zu wissen (das Wissen wäre aber gerade dafür erforderlich). Es ist ein Reden „über“ und kein Reden „mit“. Es ist nichts, als eine verlogene Botschaft. „Mit der Moral auf ihrer Seite erklären sie noch iede Patrone und jeden Panzer, demnächst wohl auch die Lieferung des deutschen Kampfpanzers Leopard 2 zur notwendigen Unterstützung“ schreibt Barbara Junge in der taz (12.1.2023 S.1). 

Widerlich.

P.S. Man mag über Waffenlieferungen streiten, mit Moral hat das jedenfalls nichts zu tun

Michael Bouteiller, 15.01.2023

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Allgemein/Politik/Geschichte

Der andere Blick auf den Krieg: Ein Schnäppchen namens Ukraine

Lübeck 1942 / heute

Würde ich in einer der Planungsgruppen für geostrategische Planung sitzen, die die überschaubaren nächsten 10 Jahre konstruieren, wäre die Zukunftsaufgabe für die Ukraine aus der nüchternen Sicht des westlichen Kapitals einfach zu beschreiben. Es geht dabei nicht um Werte und Moral.

Der Wiederaufbau des zerstörten Landes wird ein gewaltiges und profitables Billionen-Kapitalgewinnspiel des Westens. Es geht also um wirtschaftliche Interessen. Sonst nichts. Geostrategisch sicherte nur ein erfolgreicher Krieg die Vormachtstellung des westlichen Kapitals in den nächsten 25-30 Jahren. Die Zeitspanne 2025-2050. Es gibt im Westen nur Gewinner. Die Verzögerung der Lieferung schwerer Waffen ist aus dieser Perspektive ein schwerer und teurer Fehler. Sie widerspricht offensichtlich dem geostrategischen Interesse des Westens.

Als Beispiel für den Wiederaufbau mögen entweder die BRD 1945 oder der Wiederaufbau der DDR herhalten.

1. Ausgangslage: In zwei bis fünf Jahren wird die Infrastruktur und ein großer Teil der Städte in der Ukraine überwiegend zerstört sein. Die sofortige militärische Ausrüstung durch den Westens mit schweren Waffen und Flugabwehrsystemen verhindert die völlige Zerstörung durch die Russische Föderation.

2. Der überwiegende Teil der Bevölkerung von ursprünglich rd. 42 Millionen wird das Kriegsende überleben. Ca 100.000 – 200.000 Menschen sind voraussichtlich Kriegsopfer. Die Ausbildungsqualität der ukrainischen Bevölkerung bleibt auf hohem westlichem Niveau. Die Geflüchteten (5-6 Millionen) kehren zurück. 

3. Ein Vergleich mit dem Nachkriegszustand in der BRD ergibt Folgendes: Entscheidend für den Wiederaufbau waren 1945

a) der gute Ausbildungsstand der Bevölkerung, 

b) die vorhandenen intakten Organisationsketten der Verbände, Vereine, Parteien, Firmen.

Der rasche Wiederaufbau der BRD („Wirtschaftswunder“ 1948-1973) gelang wegen der während der Nazizeit und den zwei Weltkriegen hochkonzentrierten und nach Kriegsende noch intakten staatlichen und gesellschaftlichen Struktur. Der Zerstörungsgrad der räumlichen Infrastruktur spielte angesichts des Aufbauprojektes und der damit verbundenen Erwartung einer Modernisierung des gesamten Landes und des damit zu erreichenden internationalen Wettbewerbsvorteils eine untergeordnete Rolle. Die Verwertungsbedingungen des Kapitals wurden langfristig verbessert. Es geht in der Ukraine nicht allein um Zement und Stahl, sondern um das Katapultieren des Landes in das Industriezeitalter 4.0.

4. Die Finanzierung: Die Finanzierung ist angesichts der Billionen freien Kapitals, das nach rentablen (langfristig gesicherten) Verwertungszwecken sucht, bei entsprechendem Angebot kein Problem. Die Hebelwirkung des zu beteiligenden privaten Kapitals bei der Bildung eines internationalen „Ukraine-Reconstruction-Fond“ ist ein erprobtes Finanzierungsinstrument. Es besteht große Nachfrage nach einer langfristigen sicheren Anlagenverzinsung von rd. 3% -4%.

5. Die Organisation des Aufbaus wird sichergestellt von bereitstehenden leistungsfähigen internationalen Bauträgern in einer International anerkannten Rechtsform (GmbH, AG o.ä.) Förderlich wäre die Zusammenarbeit mit örtlichen Kräften.

6.  Die Interessen der Kapitalgeber: Erschließung eines Landes mit enormem Zukunftspotential: 604.000 km², bedeutende Bodenschätze, Landwirtschaftliche Nutzflächen (Kornkammer), dem Zugang zum Schwarzen Meer und ein gut ausgebildetes Humankapital. Oben drauf der politische Gewinn für die Pax Americana:

„[…] weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Rußlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Rußland kein eurasisches Reich mehr. […] Wenn Moskau allerdings die Herrschaft über die Ukraine mit ihren 52 Millionen Menschen, bedeutenden Bodenschätzen und dem Zugang zum Schwarzen Meer wiedergewinnen sollte, erlangte Rußland automatisch die Mittel, ein mächtiges Europa und Asien umspannendes Reich zu werden. Verlöre die Ukraine ihre Unabhängigkeit, so hätte das unmittelbare Folgen für Mitteleuropa und würde Polen zu einem geopolitischen Angelpunkt an der Ostgrenze eines vereinten Europas werden lassen.“ Zbigniew Brzezinski: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft.“ Zitiert nach  https://de.m.wikipedia.org/wiki/Ukraine, abgerufen 12.1.2023)

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Allgemein/Politik/Geschichte EU

Stoppt Selenskyjs Förderung des ukrainischen Faschismus

https://youtu.be/O9F4I0ZbqAg
Nikolai Platoschkin

Stepan Bandera (*01.01.1909 in Staryj Uhrynim, Galizien – †15.10.1959 in München) war ein ukrainisch-nationalistischer Politiker und Anführer der OUN (Organisation Ukrainischer Nationalisten). Bandera ist eine sehr umstrittene historische Figur, die bis heute polarisiert. In Polen, Russland und Israel gilt er als Nazi-Kollaborateur und Kriegsverbrecher. In der Ukraine hingegen, vor allem in der Westukraine, wird er als Unabhängigkeits- und Freiheitskämpfer gefeiert und zum Nationalhelden erhoben.

Das Denkmal wurde 2007 fertig gestellt und befindet sich auf dem Kropyvnyts’koho Platz. Die Statue ist insgesamt sieben Meter hoch und zeigt Stepan Bandera in voller Größe. Die Figur ist vier Meter groß und steht auf einem drei Meter hohen Sockel. Hinter der Statue rangt der sogenannte Triumphbogen 30 Meter in die Höhe. Dieser steht auf vier Säulen. Jede Säule symbolisiert eine Epoche der ukrainischen Geschichte. Die erste Säule steht für die Fürstenzeit, die Zweite für die Zeit der Kosaken, die dritte für die Periode der ukrainischen Volksrepublik und der westukrainischen Volksrepublik, und schließlich die vierte für die Moderne und die unabhängige Ukraine.

Ab dem Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine und bis in das Jahr 2014 wurden 46 Denkmäler und 14 Gedenktafeln zu Ehren von Stepan Bandera errichtet. Es entstanden nach und nach immer mehr Denkmäler, wobei gewisse Hochphasen erkennbar sind. Die erste Hochphase war kurz nach der Unabhängigkeitserklärung, Anfang der 1990er Jahre, die zweite im Zeitraum von 2005-2010, als von staatlicher Seite die OUN/UPA als Unabhängigkeitskämpfer anerkannt worden waren und schließlich 2011 und 2012, was eventuell als Protest gegen das prorussische Janukowitsch-Regime betrachtet werden kann.  

https://www.uni-augsburg.de/de/fakultaet/philhist/professuren/kunst-und-kulturgeschichte/europaische-ethnologie-volkskunde/exkursionen/ukraine-lemberg-czernowitz/stepan-bandera-denkmal/

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Allgemein/Politik/Geschichte

Sind Kriege künftig unausweichlich? 

Syrien

 Russlands Angriff auf die Ukraine zeigt: Wenn wir Frieden als selbstverständlich ansehen, werden wir ihn verlieren.

Von Yuval Noah Harari

Spiegel, Nr.2 7.1.2 023, S.74

Vor einigen Jahren schrieb ich in mei­nem Buch »21 Lektionen für das 21. Jahrhundert« auch über die Kriege der Zukunft. Ich vertrat die Ansicht, dass die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts die friedlichste Ära in der Geschichte der Menschheit gewesen seien und dass das Führen von Kriegen wirtschaftlich und geopolitisch sinnlos geworden sei. Diese Tatsachen böten jedoch keine Garantie für ewigen Frieden, schließlich sei die menschliche Dummheit eine der wichtigs­ ten Kräfte in der Geschichte. Ich schrieb: »Selbst rationale Führer begehen am Ende oft sehr große Dummheiten.«

Gleichwohl war ich schockiert, als Wla­dimir Putin im Februar 2022 den Versuch startete, die Ukraine zu erobern. Die zu erwartenden Folgen, für Russland selbst wie für die gesamte Menschheit, waren so zerstörerisch, dass es selbst für einen kaltherzigen Größenwahnsinnigen ein unwahrscheinlicher Schritt zu sein schien. Dennoch entschied sich der Autokrat, die friedlichste Ära der Geschichte zu beenden und die Menschheit in eine neue Ära des Krieges zu stürzen, die schlimmer sein könnte als alles, was wir bisher erlebt ha­ ben. Sie könnte sogar das Ende unserer Spezies bedeuten.

Dies ist eine Tragödie, zumal die vergan­genen Jahrzehnte gezeigt haben, dass Krieg keine unvermeidliche Naturgewalt ist. Er basiert auf menschlichen Entscheidungen. Seit 1945 gab es keinen direkten Krieg zwi­schen Großmächten mehr und auch keinen Fall, in dem ein international anerkannter Staat durch eine ausländische Eroberung ausgelöscht wurde. Relativ häufig kam es zu begrenzten regionalen und lokalen Konflik­ te; ich lebe in Israel, daher kann ich das gut beurteilen. Doch ungeachtet der israelischen Besetzung des Westjordanlands haben Län­der selten versucht, ihre Grenzen einseitig mit Gewalt zu verschieben.

Das ist der Grund, warum die israelische Besatzung so viel Aufmerksamkeit und Kritik auf sich zieht. Was in Tausenden Jahren imperialer Geschichte normal war, sorgt heutzutage für Empörung. Selbst wenn man Bürgerkriege, Aufstände und Terrorismus berücksichtigt, sind in den letzten Jahrzehnten durch Kriege weitaus weniger Menschen ums Leben gekommen als durch Selbstmord, Verkehrsunfälle oder fettleibigkeitsbedingte Krankheiten.

Doch der Frieden ist nicht nur eine Frage der Zahlen. Die vielleicht wichtigste Ver­änderung der vergangenen Jahrzehnte war psychologischer Natur. Jahrtausendelang bedeutete Frieden »die vorübergehende Abwesenheit von Krieg«. Beispielsweise lagen zwischen den drei Punischen Kriegen, die Rom und Karthago führten, Jahrzehnte des Friedens. Aber alle Römer und Kartha­ger wussten, dass dieser Punische Friede jeden Moment zerbrechen konnte. Politik, Wirtschaft, Kultur waren in ständiger Er­wartung eines Krieges.

Im späten 20. und im frühen 21. Jahr­hundert änderte sich die Bedeutung des Wortes Frieden. Aus dem alten Frieden als »die vorübergehende Abwesenheit von Krieg« wurde der neue Frieden als »die Unwahrscheinlichkeit von Krieg«. In vielen, wenn auch nicht allen Regionen der Welt hatten Staaten keine Angst mehr davor, ihr Nachbar könnte einmarschieren und sie auslöschen.

Woran können wir erkennen, dass sich die Länder über diese Dinge keine Gedan­ken gemacht haben? Indem wir uns ihre Staatshaushalte ansehen. Bis vor Kurzem war das Militär der erwartbar größte Posten im Haushalt eines jeden Empire, Sultanats, Königreichs und einer jeden Republik. Die Regierungen gaben nur wenig für das Ge­sundheits­- und Bildungswesen aus, da die meisten Mittel in die Bezahlung von Solda­ten, den Bau von Mauern und Kriegsschif­fen flossen. 

Das Römische Reich gab etwa 50 bis 75 Prozent seines Haushalts für das Militär aus, im Reich der Song­-Dynastie (960 bis 1279) waren es etwa 80 Prozent und im Osmanischen Reich des späten 17. Jahrhunderts rund 60 Prozent. Von 1685 bis 1813 fiel der Anteil des Militärs an den britischen Staatsausgaben nie unter 55 Pro­ zent und lag im Durchschnitt bei 75 Prozent.

Während der großen Konflikte des 20. Jahrhunderts verschuldeten sich Demo­kratien und totalitäre Regime gleichermaßen, um ihr Militär zu finanzieren. Wenn man befürchten muss, dass die Nachbarn jeden Moment einmarschieren, Städte plündern, Leute versklaven und das Land annektieren könnten, ist es auch das Vernünftigste, was man tun kann.

Russische Soldaten plünderten die ukrai­nische Stadt Cherson und schickten Last­wagen voller Diebesgut, das sie aus ukraini­ schen Häusern gestohlen hatten, nach Russ­land. Das wird Russland nicht reich machen. Und es wird die Russen nicht für die enor­men Kosten des Krieges entschädigen. Aber wie Putins Einmarsch in die Ukraine zeigt, reichten technologische und wirtschaftliche Veränderungen allein doch nicht aus, um den neuen Frieden zu schaffen. Manche Staatsoberhäupter sind so machthungrig und unverantwortlich, dass sie einen Krieg beginnen, selbst wenn er für ihr Land wirt­ schaftlich ruinös ist und die Menschheit in ein nukleares Armageddon treiben könnte.

Die dritte wesentliche Säule des neuen Friedens ist daher kultureller und institutio­neller Natur.Menschliche Gesellschaften wurden lange Zeit von militaristischen Kulturen beherrscht, die den Krieg als unvermeidlich und sogar als wünschens­wert ansahen. Aristokraten sowohl in Rom als auch in Karthago glaubten, dass militä­rischer Ruhm die Krönung des Lebens und der ideale Weg zu Macht und Reichtum sei. Künstler wie Vergil und Horaz stimmten dem zu und widmeten ihre Talente dem Lobgesang auf Waffen und Krieger, der Verherrlichung blutiger Schlachten und der Verewigung brutaler Eroberer.

In der Ära des neuen Friedens nutzten die Künstler ihre Talente, um die Schrecken des Krieges zu zeigen, während die Politiker sich mit Reformen im Gesundheitswesen zu verewigen suchten, anstatt fremde Städte zu plündern. Führende Politiker aus der ganzen Welt schlossen sich zusammen, um eine Weltordnung zu schaffen, die es den Ländern ermöglichte, sich friedlich zu entwickeln und zugleich die gelegentlichen Kriegstreiber zu zügeln. 

Diese Weltordnung basierte auf den liberalen Idealen, nach denen alle Menschen die gleichen Grundrechte haben, keine menschliche Gruppe von Natur aus anderen überlegen ist und alle Menschen gemein­same Erfahrungen, Werte und Interessen teilen. Diese Ideale ermutigten die Staats- ­ und Regierungschefs, Kriege zu vermeiden.

Die liberale Weltordnung verband den Glauben an universelle Werte mit dem friedlichen Funktionieren der globalen Institutionen. Obwohl diese globale Ordnung alles andere als perfekt ist, hat sie das Leben der Menschen nicht nur in den alten imperialen Zentren wie Großbritannien und den Vereinigten Staaten verbessert, sondern auch in vielen anderen Teilen der Welt. Überall haben Staaten von der Zunahme des globalen Handels und der Investitionen profitiert, fast alle Länder kamen in den Genuss einer Friedensdividende. 

Nicht nur Dänemark und Kanada konnten Ressourcen von Panzern auf Lehrer umschichten. Auch Nigeria und Indonesien waren dazu in der Lage. Jeder, der über die Mängel der liberalen Weltordnung schimpft, sollte zunächst eine einfache Frage beant- worten: Können Sie ein Jahrzehnt nennen, in dem es der Menschheit besser ging als in den 2010er-Jah-ren? Welches Jahrzehnt wäre stattdessen Ihr goldenes Zeitalter?

Etwa die 1910er-Jahre mit dem Ersten Weltkrieg, der bolschewistischen Revolution, Rassismus und europäischen Imperien, die große Teile Afrikas und Asiens brutal ausbeuteten? Sind es vielleicht die 1810er-Jahre, als die Napoleonischen Kriege ihren blutigen Höhepunkt erreichten, russische und chinesische Bauern von ihren aristokratischen Herren unterdrückt wurden, die East India Company sich die Kontrolle über Indien sicherte und die Sklaverei in den Vereinigten Staaten, Brasilien und den meisten anderen Teilen der Welt immer noch legal war? Oder träumen Sie vielleicht von den 1710er-Jahren mit dem Spanischen Erbfolgekrieg, dem Großen Nordischen Krieg im Ostseeraum, den Mogulnachfolge- kriegen und den zahlreichen Kindern, die an Unterernährung und Krankheiten starben, bevor sie das Erwachsenenalter erreichten?

Der neue Frieden ist nicht das Ergebnis eines göttlichen Wunders.Er wurde erreicht, weil Menschen eine funktionierende globale Ordnung aufbauten. Leider haben zu viele diese Errungenschaft für selbstverständlich gehalten. Vielleicht gingen sie davon aus, dass der neue Frieden hauptsächlich durch technologische und wirtschaftliche Kräfte garantiert würde und auch ohne seine dritte Säule – die liberale Weltordnung – überleben könnte. 

Folglich wurde diese Ordnung zunächst vernachlässigt und dann mit zunehmender Heftigkeit angegriffen. allein waren nicht stark genug, um den neuen Frieden zu beenden. Was die globale Ord- nung wirklich untergrub, war, dass sowohl die Länder, die am meisten von ihr profitierten (darunter China, Indien, Brasilien, Polen), als auch die Länder, die sie überhaupt erst aufgebaut hatten (vor allem Großbritannien und die USA), ihr den Rücken kehrten. 

Das Brexitvotum und die Wahl Donald Trumps im Jahr 2016 symbolisierten die Wende. Diejenigen, die die globale liberale Ordnung infrage stellten, wollten meist keinen Krieg. Sie wollten durchsetzen, was sie als Interessen ihres Landes verstanden, und sie argumentierten, dass jeder Nationalstaat seine eigene heilige Identität und Traditionen verteidigen und entwickeln solle. Was sie nie erklärten, war, wie all diese Nationen ohne universelle Werte und globale Institutionen miteinander umgehen würden. Die Gegner der globalen Ordnung boten keine Alternative an. 

Sie glaubten, dass die verschiedenen Nationen sich irgendwie arrangieren könnten und die Welt zu einer Ansammlung ummauerter, aber einander freundlich gesinnter Festungen werden würde. Festungen sind jedoch selten freundlich. Jede nationale Burg will in der Regel etwas mehr Land, Sicherheit und Wohlstand für sich selbst – auf Kosten der Nachbarn. 

Ohne universelle Werte und globale Institutionen können sich rivalisierende Festungen kaum auf gemeinsame Regeln einigen. Das Modell der Festungen war ein Rezept für eine Katastrophe. Und die Katastrophe ließ nicht lange auf sich warten. Die Coronapandemie zeigte, dass sich die Menschheit ohne eine wirksame globale Zusammenarbeit nicht gegen gemeinsame Bedrohungen wie Viren schützen kann. Vielleicht hat Putin beobachtet, wie Covid die globale Solidarität weiter aushöhlte, möglicher­ weise kam er so zu dem Schluss, dass er der liberalen Ordnung den Todesstoß geben könnte, indem er das größte Tabu der Ära des neuen Friedens bricht. Putin mag sich gedacht haben, dass einige Länder zwar aufschreien und ihn kritisieren würden, wenn er die Ukraine erobern und sie Russ­ land einverleiben würde, er aber nicht mit wirksamer Gegenwehr rechnen müsse.

Die Behauptung, Putin sei gezwungener­maßen in die Ukraine eingedrungen, um einem westlichen Angriff zuvorzukommen, ist unsinnige Propaganda. Eine vage west­liche Bedrohung ist kein legitimer Vorwand, um ein anderes Land zu zerstören, dessen Städte zu plündern, dessen Bürger zu ver­ gewaltigen und zu foltern und zig Millionen Männern, Frauen und Kindern unsägliches Leid zuzufügen. Jeder, der glaubt, dass Putin keine andere Wahl hatte, möge bitte das Land nennen, das eine Invasion in Russland im Jahr 2022 vorbereitet haben soll.

Die deutsche Armee etwa? Und vergessen Sie nicht, dass Putin bereits 2014 in die Ukraine einmarschiert ist – nicht erst 2022. Putin hat seine Invasion lange Zeit vor­-bereitet. Er hat den Zerfall der Sowjetunion nie akzeptiert, und er hat die Ukraine, Georgien oder eine der anderen postsowje­ tischen Staaten nie als legitime unabhän­ gige Nationen angesehen. Während, wie erwähnt, die durchschnittlichen Militäraus­ gaben weltweit etwa 2,2 Prozent und in den Vereinigten Staaten 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen, sind sie in Russland weitaus höher. Wie hoch genau, ist ein Staatsgeheimnis. In interna­ tionalen Statistiken liegen sie bei 4,1 Pro­ zent. Schätzungen gehen davon aus, dass der Anteil aber auch bei einem Vielfachen liegen könnte.

Sollte Putin den Krieg gewinnen, wäre es der Zusammenbruch der globalen Ordnung und des neuen Friedens. Autokraten in aller Welt kämen zu der Überzeugung, dass Eroberungskriege wie­der möglich sind. Die Demokratien wären gezwungen, sich zu ihrem Schutz zu mili­tarisieren. Schon jetzt erleben wir, wie die russische Aggression Deutschland dazu veranlasst, seinen Verteidigungshaushalt drastisch zu erhöhen, und etwa Schweden die Wehrpflicht wieder einführt.

Geld, das für Lehrer, Krankenschwestern und Sozialarbeiter ausgegeben werden könnte, wird nun in Panzerarmeen, Rake­ ten und Cyberwaffen investiert. Junge Menschen sollen ihren Militärdienst ableis­ ten. Die ganze Welt könnte irgendwann wie heute Russland aussehen – mit einer überdimensionierten Armee und unter­ besetzten Krankenhäusern. Eine neue Ära von Krieg, Armut und Krankheit wird die Folge sein.

Wird Putin jedoch gestoppt und bestraft, wäre die Weltordnung gestärkt. Es wäre eine Ermahnung an alle, die sie nötig haben, dass man nicht tun kann, was Putin getan hat. Welches der beiden Szenarien wird eintreten? Zum Glück war Putin trotz seiner Aufrüstung auf eine entscheidende Sache nicht vorbereitet: den Mut des ukrainischen Volkes. Die Ukrainer haben die Russen in einer Reihe von Siegen bei Kiew, Charkiw und Cherson zurückge­ drängt. 

Doch Putin hat sich bisher geweigert, seinen Fehler einzugestehen; er reagiert auf die Niederlage mit zunehmender Brutalität. Da seine Armee die ukrainischen Soldaten an der Front nicht besiegen kann, setzt Pu­ tin nun darauf, dass die ukrainische Zivilbe­ völkerung in ihren Häusern erfriert. Wie der Krieg enden wird, ist ebenso wenig vorher­ sehbar wie das Schicksal des neuen Friedens.

Geschichte ist niemals deterministisch. Nach dem Ende des Kalten Krieges dachten viele, der Frieden sei unvermeidlich und werde bestehen, auch wenn wir die globale Ordnung vernachlässigten. Seit Russland in die Ukraine einmarschiert ist, vertreten einige plötzlich die gegenteilige Ansicht. Sie behaupten, dass Frieden eine Illusion gewesen, der Krieg hingegen eine unzähm­bare Naturgewalt sei. Und dass Menschen nur die Wahl hätten, ob sie Beute oder Raubtier sein wollen.

Beide Positionen sind falsch. Krieg zu führen oder Frieden zu schließen basiert auf Entscheidungen und ist nichts Unvermeid­bares. Kriege folgen keinem Naturgesetz. Aber Frieden zu schließen ist keine einmalige Ent­scheidung. Es ist eine langfristige Anstrengung, um universelle Normen und Werte zu schüt­zen und kooperative Institutionen aufzubauen.

Der Wiederaufbau der globalen Ord­ nung bedeutet nicht, dass wir zu dem System zurückkehren, das in den 2010er­ Jahren zusammengebrochen ist. Eine neue und bessere Weltordnung sollte den nicht westlichen Staaten, die sich beteiligen wol­len, eine wichtigere Rolle zuweisen. Sie sollte auch die Bedeutung der nationalen Loyalitäten anerkennen.

Die globale Ordnung ist vor allem wegen des Angriffs populistischer Kräfte zerfallen, die argumentierten, patriotische Loyalitäten widersprächen einer globalen Zusammen­arbeit. Populistische Politiker predigten, man müsse als Patriot gegen globale Institutionen und weltweite Zusammenarbeit sein.

Es gibt jedoch keinen inneren Wider­spruch zwischen Patriotismus und Globa­lismus, denn beim Patriotismus geht es nicht darum, Fremde zu hassen. Sondern darum, seine Landsleute zu lieben. Und wenn man im 21. Jahrhundert seine Lands­leute vor Kriegen, Pandemien und ökolo­gischem Kollaps schützen will, gelingt das am besten, indem man mit den anderen zusammenarbeitet.

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Wagenknecht/Masala zum Ukrainekrieg

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Warum der fransigste Rand der G.O.P. jetzt so viel Macht über die Partei hat

NYT

Jan. 5, 2023

Von Richard H. Pildes

Richard H. Pildes ist ein Rechtswissenschaftler, der die Überschneidung von Politik und Recht und deren Auswirkungen auf unsere Demokratie analysiert.

Zum ersten Mal seit fast einem Jahrhundert sind wir Zeuge des atemberaubenden Spektakels einer Republikanischen Partei geworden, die so zerrissen ist, dass sie in mehreren Wahlgängen um die Wahl eines Sprechers des Repräsentantenhauses ringt. Dieses Drama in Washington spiegelt größere strukturelle Kräfte wider, die die amerikanische Demokratie verändern.

Die Revolutionen im Bereich der Kommunikation und der Technologie haben unsere Demokratie in einer Weise verändert, die weit über die bekannten Probleme wie Fehlinformationen, Hassreden und dergleichen hinausgeht. Sie haben es einzelnen Mitgliedern des Kongresses ermöglicht, als freie Akteure zu agieren, ja sogar zu gedeihen. Sie haben die institutionelle Autorität, einschließlich derjenigen der politischen Parteien und ihrer Führer, abgeflacht. Sie haben es Einzelpersonen und Gruppen ermöglicht, leichter Opposition gegen Regierungsmaßnahmen zu mobilisieren und aufrechtzuerhalten, und sie haben dazu beigetragen, heftige Fraktionskonflikte innerhalb der Parteien anzuheizen, die von den Führungen schwerer zu kontrollieren sind als in der Vergangenheit.

Durch Kabelfernsehen und soziale Medien können sogar Politiker in ihren ersten Amtsjahren ein nationales Publikum kultivieren. Als die Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez (https://de.m.wikipedia.org/wiki/Alexandria_Ocasio-Cortez, abgerufen 6.1.2023 12, 8 Mio follower Twitter) in den Kongress einzog, hatte sie bereits neun Millionen Follower auf den wichtigsten Social-Media-Plattformen, mehr als viermal so viele wie die Sprecherin Nancy Pelosi und eine Größenordnung mehr als jeder andere Demokrat im Repräsentantenhaus. Der Abgeordnete Matt Gaetz, Republikaner aus Florida und Provokateur in der Opposition gegen die Kandidatur von Kevin McCarthy, hat die Macht der sozialen Medien erkannt und erklärt, er wolle das A.O.C. der Rechten werden.

Das Internet hat auch zu einer explosionsartigen Zunahme von Kleinspenden geführt, die es Politikern ermöglichen, große Geldbeträge aufzubringen, ohne auf Parteikassen oder Großspender angewiesen zu sein.

Die Abgeordnete Marjorie Taylor Greene, Republikanerin aus Georgia, sammelte im ersten Quartal 2021 mehr als 3 Millionen Dollar an Kleinspenden ein – ein erstaunliches Ergebnis für ein neues Mitglied des Kongresses, obwohl ihr die Ausschussmandate entzogen wurden. Die nationale Aufmerksamkeit im Kabelfernsehen und in den sozialen Medien belohnt das Provokative, das Empörende und die ideologischen Extreme. Die New Yorker Abgeordnete Elise Stefanik wandelte sich von einer gemäßigten Politikerin zu einer „Kämpferin“ für Donald Trump, was zu einer Flut von Kleinspenden führte.

Die Kontrolle über die Ausschusszuweisungen war einst ein mächtiges Instrument der Parteiführer, um Mitglieder zu ermutigen, der Parteilinie zu folgen, und diejenigen zu bestrafen, die dies nicht taten. Heute werden wichtige Gesetze oft in einem zentralisierten Prozess von einer kleinen Gruppe von Parteiführern ausgearbeitet und nicht mehr in den Ausschüssen, was die Ausschusszuweisungen weniger wertvoll gemacht hat.

Außerdem müssen die Mitglieder nicht mehr in wichtigen Ausschüssen mitarbeiten, um sich auf nationaler Ebene zu profilieren oder Wahlkampfgelder zu erhalten, und dank der modernen Kommunikationsmittel, die den einzelnen Mitgliedern leicht zur Verfügung stehen, können sie immer noch mühelos Widerstand gegen Vorschläge mobilisieren. Diejenigen, die Herrn McCarthy als Sprecher herausfordern, wissen, dass sie Gefahr laufen, bei der Besetzung ihrer Ausschüsse bestraft zu werden, sollte er sich schließlich durchsetzen. Aber diese Drohung hat in einer Ära der freien Politiker nicht mehr das Gewicht, das sie einst hatte.

Viele Abgeordnete profitieren auch davon, dass sie zunehmend sichere Sitze innehaben, so dass sie sich keine Sorgen um die Parlamentswahlen machen müssen und die ideologisch engagierteren Vorwahlwähler ansprechen können. Die Möglichkeit, ein nationales Publikum zu erreichen und durch kleine Spenden mehr als genug Geld aufzubringen, hat auch den Aufstieg von Politikern begünstigt, die mehr wegen der Aufmerksamkeit und der Möglichkeiten, die sie bietet, als wegen des Regierens dabei sind. Das Risiko, dass sich die Moderatoren des Kabelfernsehens gegen sie wenden, ist eine viel größere Sorge als die Tatsache, dass sie nicht in bestimmte Ausschüsse berufen werden.

Die Tatsache, dass der einfache erste Akt eines neuen Repräsentantenhauses – die Wahl des Sprechers durch die Mehrheitspartei – so heikel ist, verdeutlicht die Schwierigkeiten, mit denen die politischen Parteien heute konfrontiert sind, wenn es darum geht, sich selbst zu verwalten, geschweige denn zu regieren. Selbst die Zugeständnisse, die McCarthy seinen Gegnern in seiner Partei machte, änderten daran wenig. Entweder aus persönlicher Abneigung und Misstrauen oder weil sie ihre Macht demonstrieren wollten, um einen potenziellen Redner zu Fall zu bringen, hielten sie an ihrer Trotzhaltung fest.

Diese besondere Schlacht ist ein Zeichen für die neue Welt der politischen Fragmentierung, mit der fast alle Demokratien konfrontiert sind. Politische Zersplitterung bedeutet, dass die politische Macht in so viele verschiedene Hände und Machtzentren zersplittert, dass ein effektives Regieren sehr viel schwieriger wird.

Wirtschaftliche und kulturelle Konflikte treiben diese Zersplitterung voran, die jedoch durch die Kommunikationsrevolution begünstigt wurde. In den westeuropäischen Systemen mit Verhältniswahlrecht haben sich die traditionell dominierenden großen politischen Parteien in ein Kaleidoskop kleinerer Parteien aufgespalten. In den Vereinigten Staaten sind die beiden großen Parteien intern gespalten, und die Führungen haben weniger Möglichkeiten, diese Spaltungen zu überwinden.

Die Demokratische Partei zeigt einen Weg auf, wie Parteien diese zersplitternden Kräfte, die sie auseinander zu reißen drohen, überwinden können: das Gespenst einer großen Wahlniederlage. In der gegenwärtigen Phase der Einigkeit vergisst man leicht die erbitterten Konflikte zwischen den gemäßigten und den progressiven Flügeln, die die Partei erst im letzten Jahr überwinden konnte.

Während dieser Monate des parteiinternen Gezänks, der Drohungen und Beschimpfungen sanken die öffentlichen Zustimmungswerte für Präsident Biden und den Kongress rapide. Es bedurfte der Beinahe-Todeserfahrung der Gouverneurswahlen in Virginia und New Jersey im Jahr 2021, damit die Progressiven ihre Forderungen aufgaben und die Verabschiedung des Infrastrukturgesetzes zuließen, dem schließlich ein Gesetz zur Verringerung der Inflation folgte, dessen Umfang erheblich reduziert worden war. Ein Vorteil der Demokraten war die Kontrolle über das Weiße Haus, was zur Disziplinierung der Partei beiträgt, da die Mitglieder ihr Wahlschicksal an den Erfolg des Präsidenten gebunden sehen. Auch scheinen weniger Mitglieder der Demokraten mehr an einer performativen Politik als an der Gesetzgebung interessiert zu sein.

Wie die Kandidatur von McCarthy für das Amt des Parlamentspräsidenten zeigt, haben sich die Anreize für eine Opposition und die Möglichkeiten, diese zu mobilisieren – sowohl für die Politik als auch für die Kontrolle der Partei – verbessert. Die Mobilisierung kollektiver Macht war schon immer schwieriger, aber sie ist nach wie vor die wesentliche Komponente für eine effektive Regierung. Die aufkommenden Kräfte der Zersplitterung werden den Führern beider politischer Parteien weiterhin zu schaffen machen, so wie sie es heute in allen Demokratien tun.

Richard H. Pildes, Professor an der School of Law der New York University, ist der Autor des Fallbuchs „The Law of Democracy: Legal Structure of the Political Process“. 

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Weimar: Lübeck rot oder schwarz?

Von 1919 bis 6. März 1933 hatte Lübeck zu keinem Zeitpunkt eine „rote“ Regierung. Unter Bürgermeister Fehling (1917-1920) herrschte in Lübeck die national-konservative, unter seinem Nachfolger Dr.Johann Neumann (1921-1926) die national-völkische und unter dem ersten SPD-Bürgermeister, Paul Löwigt (1926-1933), ab November 1926 der „neue Konsens“ mit dem national-völkischen Hanseatischen Volksbund. Die vermittelnde Haltung Löwigts kommt in dessen Würdigung Bürgermeister Neumanns bei der Einführung der Senatoren Eckholt und Dr. Geister am am 18.Juni 1926 zum Ausdruck (Max Knie, 15 Jahre Lübecker Zeitgeschichte,Lübeck 1933, S.54 https://michaelbouteiller.de/wp-content/uploads/2022/01/Knie-52-72.pdf).

In den sechs Bürgerschaftswahlen von 1919 bis 1932 wurde die SPD mit Ausnahme von 1926 bis 1929 zwar jeweils stärkste Fraktion in der Bürgerschaft. Allerdings obsiegte in der Bürgerschaftswahl am 10.2.1924 bis November 1926 nach der vorangegangenen und verlorenen Volksabstimmung über die Auflösung des Senats das bürgerliche Lager gegenüber KPD und SPD mit 42 von 80 Sitzen.

 Julius Leber bringt die Machtverhältnisse in der Weimarer Epoche Lübecks 1923 auf den Punkt: 

„Die bürgerliche Senatsmehrheit regierte und die sozialdemokratische Bürgerschaftsmehrheit bewilligte die Steuern.“ (Lübecker Volksbote vom 7.11.1923 (http://library.fes.de/luebeck/pdf/1923/1923-255.pdf)

Kabinette 1921-1933

Das heißt, die sozialistische Mehrheit in der Bürgerschaft (SPD und KPD), mit Ausnahme der Wahl vom 10.2.1924,  spiegelte sich nicht in einer etwaigen sozialistischen Mehrheit des Senats. Da der Senat nach der Revolution vom 9.11.1918 als einzige Regierung eines der 18 Bundesstaaten unter Bürgermeister Fehling fortbestand (mit 1919 14, nach 1920 12 Mitgliedern) und nur fünf SPD-Senatoren 1919 nachgewählt werden konnten, ein sechster erst 1921, blieb seine  Zusammensetzung bis 1926 mehrheitlich bürgerlich.

Denn nach Art. 4 der  Landesverfassung (LV) vom 29.März 1919 wurden die gegenwärtigen Senatsmitglieder in ihrer Stellung bestätigt, und zwar ab dem 1.4.1919 für die nächsten 12 Jahre (die 7 gelehrten Mitglieder) bzw. für 6 Jahre die sieben übrigen. Mit Art. 5 der Neufassung der LV 1920 wurde die Zahl von 14 auf 12 reduziert und die Wahlzeit sämtlicher Senatoren auf „unbestimmte Zeit“ verändert.

Die SPD hatte jedenfalls zu keinem Zeitpunkt im Senat eine Mehrheit. Das auf Antrag der SPD 1923 eingebrachte Misstrauensvotum gegen den Senat, mit der Absicht, den Senat entsprechend der Mehrheitsverhältnisse in der Bürgerschaft umzubilden, war zwar erfolgreich. Die vom Senat unter Bürgermeister Neumann daraufhin beschlossene Volksabstimmung brachte am 6. Januar 1924 indes eine schwere Niederlage für die Antragsteller. Die bürgerliche Senatsmehrheit blieb erhalten.

Der erbitterte Kampf Lebers gegen den völkischen Bürgermeister führte allerdings am 2. Juni 1926 zum Sturz Neumanns. Dieser trat am 3. Juni 1926 zurück und der Sozialdemokrat Paul Löwigt wurde im Senat zum Regierenden Bürgermeister gewählt. Auch dieser Wechsel im Bürgermeisteramt änderte jedoch nichts an der politischen gegenläufigen Ausrichtung von Bürgerschaft und Senat.

Denn in den Bürgerschaftswahlen vom 14.November 1926 überflügelte zwar der auf Veranlassung Neumanns gegründete nationalistische Hanseatische Volksbund mit 44,4% die SPD mit 42,4%. Zusammen mit der KPD (6,4%) überwog allerdings immer noch eine knappe Mehrheit des sozialistischen Lagers im Landesparlament. Neumann verstarb 1928, die Mitglieder seiner Partei, der Hanseatische Volksbund, gingen in der Folge im Wesentlichen zur NSDAP über. Die Regierung Lübecks (der Senat) verfügte trotz des SPD-Bürgermeisters Löwigt bis 1933 über keine Mehrheit der SPD, d.h. des sozialistischen Lagers.

Lübeck hatte demnach zu keinem Zeitpunkt von 1919 bis 1933 eine rote Regierung

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Allgemein/Politik/Geschichte Lübeck

Alfred Hugenberg, der eigentliche, unsichtbare Herrscher der Freien und Hansestadt Lübeck

Hugenberg-Konzern

 Ohne dass Senat und Bürgerschaft zuhause in Lübeck etwas Näheres von den Berliner Aktivitäten ihres Mitgliedes  mitbekommen hatten, war es dem Regierenden Bürgermeister Lübecks, Dr.Johann Neumann, gelungen, in der Reichshauptstadt eine entscheidende Position auch im Medienimperium seines alldeutschen Verbandsgefährten Hugenberg einzunehmen, den Vorsitz im Verwaltungsrat des Scherl-Verlages. 

Der Scherl-Verlag war das Herzstück des von Alfred Hugenberg aufgebauten Medien- und Zeitungsimperiums. Der Verwaltungsausschuss entspricht dabei dem Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft. Der Scherl-Verlag also, die Spinne im medialen reichsweiten Netzwerk des Propagandisten eines völkischen Nationalstaates (Stern, 26.11.2003, Hugenberg, Hitlers „Steigbügelhalter“, https://www.stern.de/politik/geschichte/alfred-hugenberg-hitlers–steigbuegelhalter–3342658.html, Hugenberg), wurde vom Lübecker Bürgermeister gesteuert.

Hugenberg war nicht nur neben Emil Possehl und dem Kolonialpolitiker Peters, auch „Hänge-Peters“ genannt, der Mitgründer und Organisator des Alldeutschen Verbands. Er hatte noch während seiner Zeit als Vorsitzender im Direktorium der Friedrich Krupp AG (1908-1918) ab 1912 nach und nach den seinerzeit größten Medienkonzern Deutschlands aufgebaut und steuerte ihn im Sinne der Zielsetzungen der Alldeutschen  konsequent in den Nationalsozialismus (vgl. auch  Alfred Hugenberg,/ https://de.wikipedia.org/wiki/Alfred_Hugenberg, abgefragt 16.10.2019).

 Das dargestellte Organisationsschema veranschaulicht die Reichweite der propagandistischen medialen Durchdringungsbreite und -tiefe der Hugenbergschen Firmen. Hervorzuheben ist dabei das mit der Allgemeinen Anzeigen GmbH, später Aktiengesellschaft (ALA), angestrebte Anzeigenmonopol auf dem deutschen Medienmarkt. Darüber steuerte Hugenberg auch Lokalblätter, die nicht in seinem Besitz waren. In Lübeck war das die Ala-Anzeigen-Aktiengesellschaft Zweigniederlassung Lübeck.

Der Lübecker Bürgermeister war als Verwaltungsratsvorsitzender des Scherl-Verlages kein unabhängiger Entscheider. Im Konzerngefüge spielte er vielmehr die Rolle des abhängigen treuhänderischen Auftragnehmers von Hugenberg. Gleichwohl konnte er mit seiner, auch ideologischen, Steuerungsfunktion über den Scherl-Verlag und damit auch der Stärkung seiner Einflussnahme im hugenbergschen Medienkonzern seine Lübecker Position ausbauen. Der Lübecker Generalanzeiger war über die ALA (Lübecker Volksbote, 25.3.1933: ALA Zweigniederlassung in Lübeck) in den Händen Hugenberg – Neumanns. Das hat Julius Leber richtig erkannt, wenn er im Lübecker Volksboten 1926 schrieb:

„… Und doch war e r (Hugenberg, MB) der eigentliche unsichtbare Herrscher dieser Stadt, die er selbst vielleicht nie gesehen. Den S t a a t hatte er in der Hand durch sein Oberhaupt, die Presse durch die größte Inseratenplantage. Sein Wille war maßgebend, beschränkt nur durch den leidenschaftlichen Widerstand der darob täglich beschimpften und begeisterten S o z i a l d e m o k r a t i e (Sperrungen im Original, MB).“( Lübecker Volksbote, 8.6.1926).

Leber beschreibt folgerichtig die tatsächlichen damaligen Verhältnisse im Freistaat. Er bestätigt auch den tiefen Hass der Elite des Bürgertums, die innerhalb und über das völkische Netzwerk des AV immer wieder versuchte, die Macht für die konservative Revolution in den Ländern und im Reich an sich zu reißen.  Dies geschah heimlich und in den seit Ende des 19. Jahrhunderts dafür geschaffenen Netzwerken des AV. Die Akteure traten selten nach außen offen auf. 

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Allgemein/Politik/Geschichte

Das lange Schweigen der Quellen in Lübeck

Jahrhundertwende, Weimar, Kriegs- und Nachkriegszeit

2022 schlägt Lars Frühsorge ein neues Kapitel der Lübecker Kolonialgeschichte auf. Was haben die Sammlungsstücke der Völkerkundesammlung mit der Lübecker Gesellschafts- und Staatsgeschichte zu tun? Welche Lübecker Personen, Familien und Betriebe haben daran verdient?

2013 ermöglicht uns der Lüneburger Historiker Dirk Stegmann mit seinem Skript „Radikalisierung des Lübecker Bürgertums nach rechts – Alldeutscher Verband
und Deutsche Vaterlands-Partei 1912-1918“, Schleswig 2013, (https://www.beirat-fuer-geschichte.de/fileadmin/pdf/band_24/Demokratische_Geschichte_Band_24_Essay_2_Stegmann.pdf) die Sicht auf eine andere Betrachtung der Stadtelite und ihrer Netzwerke.

2011 erschien die große soziologisch- historische Studie „Entjudete“ Kirche: Die Lübecker Landeskirche zwischen christlichem Antijudaismus und völkischem Antisemitismus (1918-1950), Paderborn 2011 von Hansjörg Buss. Darin entdeckte der Autor die langen Zyklen des eliminatorischen Judenhasses in der Stadtrepublik. Wichtiger: er ließ uns erahnen, dass die Ernennung des Lübecker Bischofs Erwin Balzer (1934) mit dessen radikalem Antisemitismus nur die Spitze des Eisbergs des faschistoiden Kirchenregiments der Landeskirche war (https://www.forumgeschichte-nordkirche.de/luebeck, abgerufen 29.12.2022).

Das von Balzer mitgegründete Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben (auch: Eisenacher Institut oder Entjudungsinstitut) war eine antisemitische Einrichtung von elf deutschen evangelischen Landeskirchen in der Zeit des Nationalsozialismus. Es wurde auf Betreiben der Kirchenpartei Deutsche Christen (DC) am 6. Mai 1939 in Eisenach gegründet und bestand bis 1945.

Die Lübecker Stadtgeschichte vom 12.-18. Jahrhundert ist gut erschlossen. Das gilt nicht für die späteren Jahrhunderte. Bisher schweigen die Quellen. Eine Ausnahme bilden die genannten drei Autoren.

Wer sich indes etwas näher auf eine Zentralgestalt des 19. und beginnenden 20.Jahrhunderts einlässt, den Lübecker Regierenden Bürgermeister Dr.Johann Neumann (1865 – 1928), einem frühen deutschen Faschisten des 19. und 20.Jahrhunderts, dem öffnet sich das Kapitel zur Stadtgeschichte der Neuen Zeit.

 

 

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Allgemein/Politik/Geschichte Lübeck

Bürgermeister Dr. Johann Neumann – ein früher Lübecker Faschist

Wikipedia

Acht Jahre lang (1921 bis 1928) waren Julius Leber und Johann Neumann die Gegenpole in der Lübecker Politik und der öffentlichen Meinung.  Am 1. Januar 1921 wurde Johann Neumann Regierender Bürgermeister in Lübeck. Er hatte nicht nur in der Stadt, sondern reichsweit eine hervorgehobene Position. Er war der erste völkische Regierungschef eines Bundesstaates und gehörte mit folgenden 17 Merkmalen zum Führungskader des Alldeutschen Verbandes (AV) und der Völkischen in der Weimarer Republik (vgl. dazu auch https://michaelbouteiller.de/wp-content/uploads/2022/10/Zweimal-Luebeck-221011.pdf).

1. Mitglied der Hauptleitung und des Gesamtvorstandes des AV.

 2. Vorsitzender des Ortsverbandes Lübeck des AV.

3. 1912 Schriftführer des von Possehl in Berlin gegründeten Wehrvereins in Lübeck.

4.  Er unterstützte den „Wirtschaftlichen Generalstab“ (1914) im Sinne Possehls,  eine weitsichtige Vorwegnahme des „Militärisch-Industriellen-Komplexes“ im Sinne Dwight D. Eisenhowers Abschiedsrede von 1961.

5. 1914 beschloss Neumann als Vorstandsmitglied die annexionistischen und rassistischen Kriegszielsvorlage des AV-Vorsitzenden Justizrat Claß.

 6. 1914 ff. organisierte er mit Justizrat Claß die reichsweite Zusammenführung der Wirt-schaftsverbände im Deutschen Kaiserreich zur Unterstützung der Kriegszielpolitik des AV, im Sinne des „Wirtschaftlichen Generalstabes“ des AV-Gründungsmitgliedes Emil Possehl.

7. Er war Vorsitzender des Verwaltungsrates  des Scherl-Verlages, ideologischer Kern im völkischen Medienimperium von Hugenberg, samt Gründung einer Niederlassung der Allgemeinen Anzeigen GmbH Hugenbergs in Lübeck.

8. 1916 spendete er 50.000 Mark für den Erwerb der rassistischen „Deutschen Zeitung“, dem Propagandaorgan des ADV, zusammen mit Senator Possehl, der ebenfalls 50.000 Mark einbrachte.

Er ist Mitgründer der »„Neudeutschen Verlags- und Treuhand-Gesellschaft m.b.H“ mit einem (vorläufigen) Kapital von 2 Millionen DM. Vorstand ist der kaiserliche Geheime Regierungsrat Georg Fritz in Berlin. Gründer sind unter anderem Rechtsanwalt, Heinrich Claus (Mainz), der erste Vorsitzende des altdeutschen Verbandes, Landgerichts, Direktor, Karl Lohmann (Blankenese), Doktor Otto, Helmut Hopfen (Starnberg), Senator Johann Neumann (Lübeck), Oberlandesgerichtssenatspräsident Theodor Thomsen (Charlottenburg). Wie es heißt sollen bereits die großen Berliner neueste Nachrichten und deutsche Zeitung von der Gesellschaft erworben worden seien, oder die Gesellschaft soll sich durch finanzielle Unterstützung einen Einfluss auf diese Blätter gesichert haben« (in Badische Landesbibliothek, Bauländer Bote und Boxberger Anzeiger vom 17.2.1917, https://digital.blb-karlsruhe.de/blbz/periodical/pageview/6539890)

9. Er war Organisator des völkischen „Deutschen Abends“ in Lübeck, einer Querschnittsorganisation der Völkischen Vereine unf Verbände in den AV-Gauen, mit starkem Einfluss auf die Politik der ev.-lutherischen Kirche.

10. 1917 benannte ihn der AV-Vorsitzende Claß bei einem Besuch im Hauptquartier gegenüber General Ludendorff für ein „Kabinett in Feldgrau“, eine Vorbereitungshandlung zum Putsch. 

11. Von 1917-1918 war er „Zivilgouverneur“ in Riga,  einer gegen den Frieden von Brest-Litowsk gerichteten Annexionsregierung im vom Deutschen Reich besetzten Lettland zur Vorbereitung einer dauerhaften deutsch-völkischen Siedlungspolitik.

12. Am 1.Januar 1921 wurde er der erste völkische Regierende Bürgermeister eines Bundesstaates der Weimarer Republik.

13. 1924 ehrte er durch seine Anwesenheit bei einer Gedenkfeier im Lübecker Dom Albert Leo Schlageter (Max Knie, S.40, https://michaelbouteiller.de/max-knie-15-jahre-luebecker-zeitgeschichte/) Schlageter war das Symbol der Republikfeinde für den völkischen Widerstand gegen die Republik. Schlageter war Soldat im Ersten Weltkrieg und Angehöriger verschiedener Freikorps. Schlageter war Mitglied der NSDAP-Tarnorganisation Großdeutsche Arbeiterpartei. Er wurde wegen Spionage und mehrerer Sprengstoffanschläge im besetzten Ruhrgebiet von einem französischen Militärgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet. 

Das öffentliche Auftreten Neumanns für Schlageter war ein deutlicher Kotau des Bürgermeisters   vor den Feinden der Republik und ein Affront des Senatspräsidenten gegen seine  SPD-Kollegen im Senat und den Mehrheitsfraktionen in der Bürgerschaft. Sein Stellvertreter und AV-Mitglied, Senator Dr.Vermehren, war ebenfalls zugegen. Die Bürgerschaft hatte zuvor die Errichtung eines Denkmals abgelehnt. Ein Findling wurde stattdessen von den Völkischen im Garten des Hindenburghauses (Abgerissen für Bau des Landgerichtes) als Denkmal zelebriert. 

 14. Im Mai 1926, beim Putschversuch der Alldeutschen, wurde er als Diktator benannt.

15.  Ebenfalls 1926 verfälschte er das historische Lübeck-Bild. Er drehte es im Sinne seiner alldeutschen Ideologie um. Aus Anlass der 700-Jahrfeier der Reichsfreiheit erfindet er Lübeck neu. Die Freiheitsurkunde sei, so behauptet er, mir nichts, dir nichts von Friedrich II. wegen des heldenhaften Befreiungskampfes der Deutschen gegen die dänische Besetzung Lübecks verliehen worden.

Die reichsfreie Stadt sieht der Alldeutsche als das völkische Symbol für eine zukünftig erfolgreiche Weltmacht-Politik des Deutschen Reiches, auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Der geeinte germanische Widerstand der Stadt Heinrichs des Löwen habe damals die Reichsfeinde besiegt. In diesem Sinne organisierte er auch 1925/26 die Ausrichtung der Reichsfreiheitsfeier. Das alles war Bullshit.

Denn weder war Heinrich der Löwe der erste Gründer Lübecks, noch war Anlass der Verleihung des Freiheitsbriefes durch den Kaiser der Sieg über die Dänen. Der erste Gründer der Stadt hieß Adolf von Schauenburg, der auch im Rathaus, in der Ausschmückung mit den  Wandgemälden des Berliner Malers Max Koch von 1892-94 unterschlagen wird.

Die siegreiche Schlacht von Bornhöved gegen die Dänen schließlich fand 1227 statt, also ein Jahr nach der Verleihung der Urkunde durch den Kaiser im Jahre 1226. Für Neumann war Lübeck fälschlicherweise  „civitas imperii“,  der Brückenkopf zur Ostkolonisation. Diese Ostkolonisation sei im Interesse, aber ohne Zutun des Reiches, seinerzeit von den „weit blickenden Kaufmannsgeschlechtern“ der Hansestadt betrieben worden.

„So spiegelt sich in Lübeck deutscher Unternehmergeist, deutsches Wissen, deutsches Können und deutscher Lebenswille während des ganzen Mittelalters wider!“

16. Im Herbst 1926, also unmittelbar nach seinem Sturz, veranlasste er die Parteigründung des völkischen Hanseatischen Volksbundes. Er blieb aber parteilos.

17. 1933 benannte die NSDAP zu seinen Ehren die ihnen verhasste Rathenaustraße am Stadtpark in Bürgermeister-Neumann-Straße um, nach ihrem 1928 verstorbenen Beschützer. Die Umbenennung wurde 1947 revidiert.