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Allgemein/Politik/Geschichte Lübeck

Alfred Hugenberg, der eigentliche, unsichtbare Herrscher der Freien und Hansestadt Lübeck

Hugenberg-Konzern

 Ohne dass Senat und Bürgerschaft zuhause in Lübeck etwas Näheres von den Berliner Aktivitäten ihres Mitgliedes  mitbekommen hatten, war es dem Regierenden Bürgermeister Lübecks, Dr.Johann Neumann, gelungen, in der Reichshauptstadt eine entscheidende Position auch im Medienimperium seines alldeutschen Verbandsgefährten Hugenberg einzunehmen, den Vorsitz im Verwaltungsrat des Scherl-Verlages. 

Der Scherl-Verlag war das Herzstück des von Alfred Hugenberg aufgebauten Medien- und Zeitungsimperiums. Der Verwaltungsausschuss entspricht dabei dem Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft. Der Scherl-Verlag also, die Spinne im medialen reichsweiten Netzwerk des Propagandisten eines völkischen Nationalstaates (Stern, 26.11.2003, Hugenberg, Hitlers „Steigbügelhalter“, https://www.stern.de/politik/geschichte/alfred-hugenberg-hitlers–steigbuegelhalter–3342658.html, Hugenberg), wurde vom Lübecker Bürgermeister gesteuert.

Hugenberg war nicht nur neben Emil Possehl und dem Kolonialpolitiker Peters, auch „Hänge-Peters“ genannt, der Mitgründer und Organisator des Alldeutschen Verbands. Er hatte noch während seiner Zeit als Vorsitzender im Direktorium der Friedrich Krupp AG (1908-1918) ab 1912 nach und nach den seinerzeit größten Medienkonzern Deutschlands aufgebaut und steuerte ihn im Sinne der Zielsetzungen der Alldeutschen  konsequent in den Nationalsozialismus (vgl. auch  Alfred Hugenberg,/ https://de.wikipedia.org/wiki/Alfred_Hugenberg, abgefragt 16.10.2019).

 Das dargestellte Organisationsschema veranschaulicht die Reichweite der propagandistischen medialen Durchdringungsbreite und -tiefe der Hugenbergschen Firmen. Hervorzuheben ist dabei das mit der Allgemeinen Anzeigen GmbH, später Aktiengesellschaft (ALA), angestrebte Anzeigenmonopol auf dem deutschen Medienmarkt. Darüber steuerte Hugenberg auch Lokalblätter, die nicht in seinem Besitz waren. In Lübeck war das die Ala-Anzeigen-Aktiengesellschaft Zweigniederlassung Lübeck.

Der Lübecker Bürgermeister war als Verwaltungsratsvorsitzender des Scherl-Verlages kein unabhängiger Entscheider. Im Konzerngefüge spielte er vielmehr die Rolle des abhängigen treuhänderischen Auftragnehmers von Hugenberg. Gleichwohl konnte er mit seiner, auch ideologischen, Steuerungsfunktion über den Scherl-Verlag und damit auch der Stärkung seiner Einflussnahme im hugenbergschen Medienkonzern seine Lübecker Position ausbauen. Der Lübecker Generalanzeiger war über die ALA (Lübecker Volksbote, 25.3.1933: ALA Zweigniederlassung in Lübeck) in den Händen Hugenberg – Neumanns. Das hat Julius Leber richtig erkannt, wenn er im Lübecker Volksboten 1926 schrieb:

„… Und doch war e r (Hugenberg, MB) der eigentliche unsichtbare Herrscher dieser Stadt, die er selbst vielleicht nie gesehen. Den S t a a t hatte er in der Hand durch sein Oberhaupt, die Presse durch die größte Inseratenplantage. Sein Wille war maßgebend, beschränkt nur durch den leidenschaftlichen Widerstand der darob täglich beschimpften und begeisterten S o z i a l d e m o k r a t i e (Sperrungen im Original, MB).“( Lübecker Volksbote, 8.6.1926).

Leber beschreibt folgerichtig die tatsächlichen damaligen Verhältnisse im Freistaat. Er bestätigt auch den tiefen Hass der Elite des Bürgertums, die innerhalb und über das völkische Netzwerk des AV immer wieder versuchte, die Macht für die konservative Revolution in den Ländern und im Reich an sich zu reißen.  Dies geschah heimlich und in den seit Ende des 19. Jahrhunderts dafür geschaffenen Netzwerken des AV. Die Akteure traten selten nach außen offen auf. 

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Allgemein/Politik/Geschichte

Das lange Schweigen der Quellen in Lübeck

Jahrhundertwende, Weimar, Kriegs- und Nachkriegszeit

2022 schlägt Lars Frühsorge ein neues Kapitel der Lübecker Kolonialgeschichte auf. Was haben die Sammlungsstücke der Völkerkundesammlung mit der Lübecker Gesellschafts- und Staatsgeschichte zu tun? Welche Lübecker Personen, Familien und Betriebe haben daran verdient?

2013 ermöglicht uns der Lüneburger Historiker Dirk Stegmann mit seinem Skript „Radikalisierung des Lübecker Bürgertums nach rechts – Alldeutscher Verband
und Deutsche Vaterlands-Partei 1912-1918“, Schleswig 2013, (https://www.beirat-fuer-geschichte.de/fileadmin/pdf/band_24/Demokratische_Geschichte_Band_24_Essay_2_Stegmann.pdf) die Sicht auf eine andere Betrachtung der Stadtelite und ihrer Netzwerke.

2011 erschien die große soziologisch- historische Studie „Entjudete“ Kirche: Die Lübecker Landeskirche zwischen christlichem Antijudaismus und völkischem Antisemitismus (1918-1950), Paderborn 2011 von Hansjörg Buss. Darin entdeckte der Autor die langen Zyklen des eliminatorischen Judenhasses in der Stadtrepublik. Wichtiger: er ließ uns erahnen, dass die Ernennung des Lübecker Bischofs Erwin Balzer (1934) mit dessen radikalem Antisemitismus nur die Spitze des Eisbergs des faschistoiden Kirchenregiments der Landeskirche war (https://www.forumgeschichte-nordkirche.de/luebeck, abgerufen 29.12.2022).

Das von Balzer mitgegründete Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben (auch: Eisenacher Institut oder Entjudungsinstitut) war eine antisemitische Einrichtung von elf deutschen evangelischen Landeskirchen in der Zeit des Nationalsozialismus. Es wurde auf Betreiben der Kirchenpartei Deutsche Christen (DC) am 6. Mai 1939 in Eisenach gegründet und bestand bis 1945.

Die Lübecker Stadtgeschichte vom 12.-18. Jahrhundert ist gut erschlossen. Das gilt nicht für die späteren Jahrhunderte. Bisher schweigen die Quellen. Eine Ausnahme bilden die genannten drei Autoren.

Wer sich indes etwas näher auf eine Zentralgestalt des 19. und beginnenden 20.Jahrhunderts einlässt, den Lübecker Regierenden Bürgermeister Dr.Johann Neumann (1865 – 1928), einem frühen deutschen Faschisten des 19. und 20.Jahrhunderts, dem öffnet sich das Kapitel zur Stadtgeschichte der Neuen Zeit.

 

 

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Allgemein/Politik/Geschichte Lübeck

Bürgermeister Dr. Johann Neumann – ein früher Lübecker Faschist

Wikipedia

Acht Jahre lang (1921 bis 1928) waren Julius Leber und Johann Neumann die Gegenpole in der Lübecker Politik und der öffentlichen Meinung.  Am 1. Januar 1921 wurde Johann Neumann Regierender Bürgermeister in Lübeck. Er hatte nicht nur in der Stadt, sondern reichsweit eine hervorgehobene Position. Er war der erste völkische Regierungschef eines Bundesstaates und gehörte mit folgenden 17 Merkmalen zum Führungskader des Alldeutschen Verbandes (AV) und der Völkischen in der Weimarer Republik (vgl. dazu auch https://michaelbouteiller.de/wp-content/uploads/2022/10/Zweimal-Luebeck-221011.pdf).

1. Mitglied der Hauptleitung und des Gesamtvorstandes des AV.

 2. Vorsitzender des Ortsverbandes Lübeck des AV.

3. 1912 Schriftführer des von Possehl in Berlin gegründeten Wehrvereins in Lübeck.

4.  Er unterstützte den „Wirtschaftlichen Generalstab“ (1914) im Sinne Possehls,  eine weitsichtige Vorwegnahme des „Militärisch-Industriellen-Komplexes“ im Sinne Dwight D. Eisenhowers Abschiedsrede von 1961.

5. 1914 beschloss Neumann als Vorstandsmitglied die annexionistischen und rassistischen Kriegszielsvorlage des AV-Vorsitzenden Justizrat Claß.

 6. 1914 ff. organisierte er mit Justizrat Claß die reichsweite Zusammenführung der Wirt-schaftsverbände im Deutschen Kaiserreich zur Unterstützung der Kriegszielpolitik des AV, im Sinne des „Wirtschaftlichen Generalstabes“ des AV-Gründungsmitgliedes Emil Possehl.

7. Er war Vorsitzender des Verwaltungsrates  des Scherl-Verlages, ideologischer Kern im völkischen Medienimperium von Hugenberg, samt Gründung einer Niederlassung der Allgemeinen Anzeigen GmbH Hugenbergs in Lübeck.

8. 1916 spendete er 50.000 Mark für den Erwerb der rassistischen „Deutschen Zeitung“, dem Propagandaorgan des ADV, zusammen mit Senator Possehl, der ebenfalls 50.000 Mark einbrachte.

Er ist Mitgründer der »„Neudeutschen Verlags- und Treuhand-Gesellschaft m.b.H“ mit einem (vorläufigen) Kapital von 2 Millionen DM. Vorstand ist der kaiserliche Geheime Regierungsrat Georg Fritz in Berlin. Gründer sind unter anderem Rechtsanwalt, Heinrich Claus (Mainz), der erste Vorsitzende des altdeutschen Verbandes, Landgerichts, Direktor, Karl Lohmann (Blankenese), Doktor Otto, Helmut Hopfen (Starnberg), Senator Johann Neumann (Lübeck), Oberlandesgerichtssenatspräsident Theodor Thomsen (Charlottenburg). Wie es heißt sollen bereits die großen Berliner neueste Nachrichten und deutsche Zeitung von der Gesellschaft erworben worden seien, oder die Gesellschaft soll sich durch finanzielle Unterstützung einen Einfluss auf diese Blätter gesichert haben« (in Badische Landesbibliothek, Bauländer Bote und Boxberger Anzeiger vom 17.2.1917, https://digital.blb-karlsruhe.de/blbz/periodical/pageview/6539890)

9. Er war Organisator des völkischen „Deutschen Abends“ in Lübeck, einer Querschnittsorganisation der Völkischen Vereine unf Verbände in den AV-Gauen, mit starkem Einfluss auf die Politik der ev.-lutherischen Kirche.

10. 1917 benannte ihn der AV-Vorsitzende Claß bei einem Besuch im Hauptquartier gegenüber General Ludendorff für ein „Kabinett in Feldgrau“, eine Vorbereitungshandlung zum Putsch. 

11. Von 1917-1918 war er „Zivilgouverneur“ in Riga,  einer gegen den Frieden von Brest-Litowsk gerichteten Annexionsregierung im vom Deutschen Reich besetzten Lettland zur Vorbereitung einer dauerhaften deutsch-völkischen Siedlungspolitik.

12. Am 1.Januar 1921 wurde er der erste völkische Regierende Bürgermeister eines Bundesstaates der Weimarer Republik.

13. 1924 ehrte er durch seine Anwesenheit bei einer Gedenkfeier im Lübecker Dom Albert Leo Schlageter (Max Knie, S.40, https://michaelbouteiller.de/max-knie-15-jahre-luebecker-zeitgeschichte/) Schlageter war das Symbol der Republikfeinde für den völkischen Widerstand gegen die Republik. Schlageter war Soldat im Ersten Weltkrieg und Angehöriger verschiedener Freikorps. Schlageter war Mitglied der NSDAP-Tarnorganisation Großdeutsche Arbeiterpartei. Er wurde wegen Spionage und mehrerer Sprengstoffanschläge im besetzten Ruhrgebiet von einem französischen Militärgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet. 

Das öffentliche Auftreten Neumanns für Schlageter war ein deutlicher Kotau des Bürgermeisters   vor den Feinden der Republik und ein Affront des Senatspräsidenten gegen seine  SPD-Kollegen im Senat und den Mehrheitsfraktionen in der Bürgerschaft. Sein Stellvertreter und AV-Mitglied, Senator Dr.Vermehren, war ebenfalls zugegen. Die Bürgerschaft hatte zuvor die Errichtung eines Denkmals abgelehnt. Ein Findling wurde stattdessen von den Völkischen im Garten des Hindenburghauses (Abgerissen für Bau des Landgerichtes) als Denkmal zelebriert. 

 14. Im Mai 1926, beim Putschversuch der Alldeutschen, wurde er als Diktator benannt.

15.  Ebenfalls 1926 verfälschte er das historische Lübeck-Bild. Er drehte es im Sinne seiner alldeutschen Ideologie um. Aus Anlass der 700-Jahrfeier der Reichsfreiheit erfindet er Lübeck neu. Die Freiheitsurkunde sei, so behauptet er, mir nichts, dir nichts von Friedrich II. wegen des heldenhaften Befreiungskampfes der Deutschen gegen die dänische Besetzung Lübecks verliehen worden.

Die reichsfreie Stadt sieht der Alldeutsche als das völkische Symbol für eine zukünftig erfolgreiche Weltmacht-Politik des Deutschen Reiches, auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Der geeinte germanische Widerstand der Stadt Heinrichs des Löwen habe damals die Reichsfeinde besiegt. In diesem Sinne organisierte er auch 1925/26 die Ausrichtung der Reichsfreiheitsfeier. Das alles war Bullshit.

Denn weder war Heinrich der Löwe der erste Gründer Lübecks, noch war Anlass der Verleihung des Freiheitsbriefes durch den Kaiser der Sieg über die Dänen. Der erste Gründer der Stadt hieß Adolf von Schauenburg, der auch im Rathaus, in der Ausschmückung mit den  Wandgemälden des Berliner Malers Max Koch von 1892-94 unterschlagen wird.

Die siegreiche Schlacht von Bornhöved gegen die Dänen schließlich fand 1227 statt, also ein Jahr nach der Verleihung der Urkunde durch den Kaiser im Jahre 1226. Für Neumann war Lübeck fälschlicherweise  „civitas imperii“,  der Brückenkopf zur Ostkolonisation. Diese Ostkolonisation sei im Interesse, aber ohne Zutun des Reiches, seinerzeit von den „weit blickenden Kaufmannsgeschlechtern“ der Hansestadt betrieben worden.

„So spiegelt sich in Lübeck deutscher Unternehmergeist, deutsches Wissen, deutsches Können und deutscher Lebenswille während des ganzen Mittelalters wider!“

16. Im Herbst 1926, also unmittelbar nach seinem Sturz, veranlasste er die Parteigründung des völkischen Hanseatischen Volksbundes. Er blieb aber parteilos.

17. 1933 benannte die NSDAP zu seinen Ehren die ihnen verhasste Rathenaustraße am Stadtpark in Bürgermeister-Neumann-Straße um, nach ihrem 1928 verstorbenen Beschützer. Die Umbenennung wurde 1947 revidiert.

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Allgemein/Politik/Geschichte

1. Existenzrecht des Menschen – 2. Klimakrieg

1. Das Existenzrecht des Menschen

Vor 174 Jahren, am 27. Dezember 1848, verabschiedete die Frankfurter Nationalversammlung die Grundrechte. Zum ersten Mal erlangten damit Menschen- und Bürgerrechte Gesetzescharakter in Deutschland. Zeitgleich kritisierte der radikale Dichter Georg Herwegh im Pariser Exil die Lebensferne des sogenannten Professorenparlaments. 

Denn während die Abgeordneten in der Paulskirche theoretische Debatten führten, formierte sich der Widerstand der monarchisch-restaurativen Kräfte in den deutschen Einzelstaaten.

Am 20.11.2022 diskutierten im Ersten Programm des Fernsehens bei Anne Will Marco Buschmann (FDP, Justizminister), Katrin Göring-Eckardt (Die Grünen), Joachim Herrmann (CSU, Innenminister Bayern), Carla Hinrichs (Letzte Generation) und Petra Pinzler (Die Zeit) das Thema „Straßen blockieren, Kunst attackieren – helfen diese Aktionen beim Kampf“ums Klima? (https://www.ardmediathek.de/video/Y3JpZDovL25kci5kZS80MzJlM2NhYy02ZWQyLTQ1NDMtOTdmNC0xYmJmODM3YmE3Mzg).

Einen Tag später, am 21.11.2022, titelte die taz : “Mit Vollgas Richtung Klimahölle. Der größte Erfolg von Scharm El-Scheich war, dass es keine Rückschritte gab. Das illustriert, wie jämmerlich die Klimapolitik auf globaler Ebene ist“ (Bernhard Pötter).

Am 23.10.2018, also vor vier Jahren, sagte der langjährige Generalsekretär des Club of Rome, der schottische Ökonom Graeme Maxton, es verblieben noch 15 Jahre bis der Kipppunkt von 2 Grad Celsius erreicht und die Existenz der Menschheit in Frage stehe. Das Umdenken und poltische Handeln, das von dem Club of Rome seit 1972 gefordert wurde, fand offenbar nicht statt  (https://youtu.be/c9EK9X597KM).

50 Jahre sind seither vergangen – an der Untätigkeit der Regierung hat sich nichts Entscheidendes verändert. Weitere vier Jahre sind seit 2018 vergangen – die Regierung verbleibt untätig. Der Kipppunkt ist in 11 Jahren: 2034. Er trifft nicht nur unsere Kinder und Enkel. Die Katastrophe trifft uns alle. Was tun?  

Vor 370 Jahren beantwortete Thomas Hobbes im „Leviathan“, diese Frage, was man denn tun müsse, wenn der Gesellschaftsvertrag zwischen Volk und Souverain (Schutz der Bürger und Bürgerinnen) aufgekündigt wurde – was heute anscheinend der Fall ist:  „Als Widerstandsrecht gilt zumal die Befugnis von Einzelnen oder Gruppen, den Gehorsam zu verweigern oder sich aktiv aufzulehnen, wenn die Herrschenden ihre Macht missbrauchen und fundamentale Rechte der Beherrschten verletzen“,  (Rudolf Weber-Fas, Lexikon Politik und Recht: Geschichte und Gegenwart, Stuttgart, S.320).

In der gestrigen Diskussion bei Anne Will wurde deutlich, dass die „Letzte Generation“, zwar in einigen Fällen gesetzeswidrig handelt. Der viel tiefgreifendere Gesetzesverstoß, nämlich gegen das im Grundgesetz verbriefte Recht auf Leben, wird indes durch die führenden Politiker verübt. Wenn allerdings den Menschen das Recht auf Leben entzogen wird, dann muss man sich nicht wundern, dass sie sich wehren. Etliche kommen dafür in den Knast (im Moment 13 in Bayern – verfassungsrechtliche Einschätzung: https://verfassungsblog.de/gewahrsam-als-letztes-mittel-gegen-die-letzte-generation/). Die PolitikerInnen hingegen laufen frei herum und wollen uns ihr Scheitern hier und in Scharm El-Scheich als Erfolg verkaufen. Da kann man nur hoffen, dass sie wenigstens in ihrem Gewissensknast sitzen. 

Die selbstvergessene Gruppe deutscher Parlamentarier ist weit entfernt von dem international erwachenden Kampf um das Existenzrecht der Menschen: dem Klimakrieg. Sie stecken den Kopf in den Sand vor der endzeitlichen Botschaft des früheren Generalsekretärs des Club of Rome, Greame Maxton: The Future of the Human Race: https://youtu.be/8So9n6Y8XX4, dessen Botschaft, dass 2034 das zwei Grad Ziel überschritten und die durch Kohlenstoff erzeugten Veränderungsprozesse unumkehrbar werden.

2. Klimakrieg

Die Abläufe und den Diskurs um den Klimakrieg gibt der im Folgenden zitierte Aufsatz von Tooze wieder: Ökologischer Leninismus: Adam Tooze über die post-pandemische Klimapolitik von Andreas Malm, London Review of Books, Vol.43 No.22 , 18.November 2021

https://www.lrb.co.uk/the-paper/v43/n22/adam-tooze/ecological-leninism

Die Kohlenstoffuhr tickt. Regierungen und offizielle Stellen versichern uns, dass alles gut werden wird, dass sie die Risiken ausgleichen können. Einige bestehen darauf, dass die Technologie uns retten wird. Wir haben schon einmal das Unmögliche geschafft, wir werden es wieder tun. Aber warum sollte man ihnen glauben? Die Fortschritte bei der Dekarbonisierung sind begrenzt.

 Die Interessen der fossilen Brennstoffe sind nach wie vor in globale Machtnetze eingebunden, die direkt aus dem Zeitalter des Imperialismus stammen. Ihre politischen Vorreiter mögen zynische Schreiberlinge sein, aber die öffentliche Unterstützung für den Status quo der fossilen Brennstoffe ist nur allzu real. Die Kohlenstoff-Koalition scheint vom Tod getrieben zu sein und widersetzt sich dem Rat der Experten. 

Liberale der Mitte äußern lautstark ihre Empörung, schrecken aber zurück, wenn es hart auf hart kommt. In regelmäßigen Abständen kommt es zu Protestwellen. Kinder boykottieren die Schule. Es gibt Forderungen nach einem neuen Gesellschaftsvertrag und einem gerechten Übergang. Eine noch winzige Minderheit ruft zur Rebellion auf.

Mit nur geringfügigen Änderungen könnte dies das Porträt einer Nation sein, die in einem großen Krieg auf eine Niederlage zusteuert: unerbittlicher Zeitdruck; begrenzte Ressourcen, die schnell zur Neige gehen; übermütige Technokraten; Versprechungen von Wunderwaffen; zerstrittene Fraktionen der Kriegsbefürworter und -gegner; verzweifelte junge Menschen, die ein Ende des Wahnsinns fordern. 

Krieg ist nach wie vor eine wichtige Denkweise über kollektive Gefahren und über die Handlungsfähigkeit angesichts dieser Gefahren; in der Klimapolitik ist die Rhetorik von Krieg und Kriegsmobilisierung alltäglich. Die amerikanischen Befürworter des Green New Deal forderten eine Wiederholung der schwindelerregenden Industrieproduktion, die während des Zweiten Weltkriegs erreicht wurde. Im Vereinigten Königreich hält die Erinnerung an den Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit an. Es ist die Rede vom Marshall-Plan.

Aber ist das nicht alles etwas zu bequem? Ein „guter Krieg“, geführt von Demokratien, der mit einem spektakulären Sieg endete und ein goldenes Zeitalter des Wirtschaftswachstums und des Wohlfahrtsstaates einläutete. Die jüngste Veröffentlichungswelle – drei Bücher innerhalb eines Jahres – des Historikers und Klimaaktivisten Andreas Malm lässt sich als eine nachhaltige Herausforderung an diese selbstgefällige Geschichtsschreibung unserer Gegenwart verstehen. Die historische Analogie, die er bevorzugt, ist der Erste Weltkrieg und seine Folgen, eine Welt, die von den Umwälzungen der Revolution und der Gewalt des Faschismus geprägt war – der Beginn, nicht das Ende eines Zeitalters der Krise.

Den Zweiten Weltkrieg und die Geburt des modernen interventionistischen Wohlfahrtsstaates vor Augen zu haben, bedeutet, sich an Denkern wie Maynard Keynes zu orientieren, mit seinem Versprechen, dass „alles, was wir tatsächlich tun können, wir uns auch leisten können“. Der Erste Weltkrieg und die Jahre danach erinnern an eine ganz andere Gruppe von Personen. Malms eigener politischer Hintergrund ist der Trotzkismus, und er erklärt sich jetzt als ökologischer Leninist. Seine Mitautoren von White Skin, Black Fuel haben sich nach der deutschen Kommunistin und Feministin Clara Zetkin, deren Interpretation des Faschismus sie aufgreifen und deren Asche 1933 an der Kremlmauer beigesetzt wurde, das Zetkin-Kollektiv genannt.

Manche werden Malm vorwerfen, er spiele die Revolution, während der Planet brennt. Aber seine Position ist eigentlich eine des tragischen Realismus. Wie er und seine Kollegen in White Skin, Black Fuel argumentieren, ist die entscheidende Tatsache des Klimawandels, dass er „ein revolutionäres Problem ohne ein revolutionäres Subjekt“ ist. 

Die Umweltbewegung mag sich mit dem Aktivismus für soziale Gerechtigkeit verbündet haben, aber sie war nicht in der Lage, „den Kapitalismus mit der Kraft herauszufordern, die einst die Dritte Internationale oder die nationalen Befreiungsbewegungen oder sogar die sozialdemokratischen Parteien der Zweiten Internationale an den Tag legten; als lahmer Nachfolger gewann sie keinen Vietnamkrieg und baute kein Äquivalent zum Wohlfahrtsstaat auf.

Die Brücke zwischen unserer Realität und der der Revolutionäre von vor einem Jahrhundert ist das Bewusstsein der drohenden Katastrophe. Die Revolutionäre des frühen 20. Jahrhunderts hatten das Versprechen des 19. Jahrhunderts auf unvermeidlichen Fortschritt als leer oder, wie Walter Benjamin es sah, als katastrophal empfunden. Im Angesicht des totalen Krieges bestand man darauf, dass man handeln müsse, um die Katastrophe zu verhindern.

Wie Marx und Engels im Kommunistischen Manifest gewarnt hatten, würde der Kampf zwischen Unterdrückern und Unterdrückten „entweder in einer revolutionären Umgestaltung der gesamten Gesellschaft oder im gemeinsamen Ruin der streitenden Klassen“ enden – „Sozialismus oder Barbarei“, wie Rosa Luxemburg es ausdrückte. Wie steht es ein Jahrhundert später um unsere Lage? Obwohl die herrschenden Klassen von der Klimakrise sprechen, sagt Malm, verraten ihre Taten sie:

Der Geruch der brennenden Bäume beunruhigt sie nicht. Sie sind nicht beunruhigt beim Anblick untergehender Inseln; sie laufen nicht vor dem Tosen der herannahenden Wirbelstürme davon; ihre Finger brauchen nie die Stängel verdorrter Ernten zu berühren; ihre Münder werden nicht klebrig und trocken nach einem Tag, an dem sie nichts zu trinken hatten … 

Nach den vergangenen drei Jahrzehnten kann kein Zweifel daran bestehen, dass die herrschenden Klassen konstitutionell nicht in der Lage sind, auf die Katastrophe anders zu reagieren, als sie zu beschleunigen; aus eigenem Antrieb, unter ihrem inneren Zwang, können sie nichts anderes tun, als sich bis zum Ende durchzubrennen.

Die Frage, die Malm in seinem Pamphlet Corona, Climate, Chronic Emergency stellt, ist, ob die Pandemie etwas verändert hat. Für viele Linke war die Krise des letzten Jahres verwirrend, aber zumindest anfangs ermutigend. Beim Klima schien es keine Möglichkeit des Fortschritts zu geben, aber im Angesicht der Pandemie schien sich der Staat von den Interessen, denen er normalerweise dient, abgekoppelt zu haben. 

Covid-19 kam als eine augenblickliche und totale Sättigung von allem“, schreibt Malm. Wie ein Windstoß, der die getönten Scheiben eines Wolkenkratzers wegbläst, wurde der Staat bis auf seine geringste relative Autonomie zurückgestutzt. Plötzlich war der Staat frei, unabhängig vom Großkapital zu handeln.

Die Regierungen des Nordens waren in der seltenen Lage, das Wohlergehen ihrer kapitalistischen Volkswirtschaften auch für das Leben ihrer älteren und potenziell jüngeren Jahrgänge zu opfern. Man kann diesen Moment als das Beste der modernen bürgerlichen Demokratien betrachten, als einen Sieg des Respekts vor dem Leben über den Respekt vor dem Eigentum, als einen Sieg der egalitären Prämisse, auf die die Demokratie eingeschworen ist.

Malm spielt kurz mit dem Gedanken, dass ein dramatisches Eingreifen die Klimakrise lösen könnte, verwirft ihn aber gleich wieder: Der Gegensatz zwischen der Wachsamkeit gegenüber dem Coronavirus und der Selbstgefälligkeit gegenüber dem Klima ist illusorisch. Das Problem der Zoonoseübertragung ist seit Jahren bekannt, und die Staaten haben genauso viel dagegen unternommen wie gegen den anthropogenen Klimawandel: nichts. 

Als die Krise ausbrach, so hätte Malm hinzufügen können, waren die Maßnahmen der Regierungen größtenteils darauf ausgerichtet, die bestehenden Eigentumsverhältnisse und die bestehende Verteilung von Vermögen und Einkommen zu stützen. Die Interventionen waren gigantisch, aber in ihren Absichten und Wirkungen überwältigend konservativ.

Welche Art von Regierungsapparat könnte bessere Ergebnisse erzielen? Die Linke fordert einen „Green New Deal“ oder das, was Daniela Gabor den „großen grünen Staat“ genannt hat, aber es gibt keine Garantie dafür, dass eine ehrgeizigere Version staatlicher Interventionen den Wandel vorantreiben würde. Wir sollten es kaum als ermutigend empfinden, dass die Green New Dealers den Zweiten Weltkrieg als Vorbild nehmen. Die keynesianische Makroökonomie mag während des Krieges in den Vordergrund getreten sein, aber der Staatsapparat selbst war zu dieser Zeit zunehmend von Wirtschaftsinteressen besetzt. 

Pläne für eine interventionistische Industriepolitik und eine intensive Regulierung wurden auf Eis gelegt. Wo könnten wir also nach alternativen Modellen für eine Notstandsregierung suchen? Was, wenn, wie Malm vorschlägt, das richtige Modell für einen klimaaktivistischen Staat nicht der New Deal ist, sondern ein Kriegsregime, das viel verzweifelter und strenger war? Was ist, wenn das Modell, das wir brauchen, der Kriegskommunismus ist?

Das ist ein gewagtes Unterfangen. Die kurze Periode des Kriegskommunismus zwischen 1920 und 1921 ist eine der umstrittensten in der russischen Revolutionsgeschichte. Die Meinungen darüber, ob es sich um eine verzweifelte Improvisation oder um einen echten Versuch eines radikalen Wandels handelte, gehen auseinander. 

Unstrittig ist jedoch, dass es sich um eine Zeit schrecklicher Gewalt handelte. Für Historiker wie Sheila Fitzpatrick und Ronald Suny, die der Revolution weitgehend positiv gegenüberstehen, ist es die Phase, in der sich das Regime zu einer autoritären und, wenn nötig, terroristischen Diktatur verhärtete. Der Kriegskommunismus ist das Allerletzte, was man als Modell für eine wirtschaftliche Transformation vorschlagen würde. 

Die Wirtschaft des ehemaligen Zarenreichs lag am Boden, die Gesellschaft deindustrialisierte sich, der Austausch zwischen dem Land und dem, was von den Städten übrig geblieben war, war katastrophal. Die darauf folgende Hungersnot brachte die Bolschewiki an den Rand der Kapitulation.

Wenn wir uns auf den Kriegskommunismus berufen, heißt das nicht, dass wir Exekutionen im Schnellverfahren durchführen, Lebensmittelkommandos aufs Land schicken oder die Arbeit militarisieren sollten, so wie niemand, der den Zweiten Weltkrieg als Vorbild für die Klimamobilisierung betrachtet, eine weitere Atombombe auf Hiroshima abwerfen will. Viele der vermeintlichen Notwendigkeiten, die die Bolschewiki zu Tugenden machten, können wir ohne weiteres als Laster erkennen. Umgekehrt können wir einige der Schwächen, die sie als ihre Schwächen ansahen, als Stärken betrachten.

Malm ist sich all dessen bewusst, bleibt aber unerschrocken: Was Malm am Kriegskommunismus fasziniert, ist das scharfe Korrektiv, das er jeder cornucopischen Zukunftsvision entgegensetzt. In Trotzkis eigenen Worten war die Lage der Revolution im Jahr 1920 „in höchstem Maße tragisch“. Radikale Neuerungen wurden durch harte Notwendigkeiten erzwungen. In der bolschewistischen Zone, die sich auf einen Rest des russischen Reiches beschränkte, herrschte ein verzweifelter Mangel an Lebensmitteln, Kohle und Öl. 

Ein strenges Requisitionssystem ermöglichte die Versorgung der Armee, doch für den verzweifelten Mangel an Kohle war eine innovativere Lösung erforderlich. Da er von fossilen Brennstoffen abgeschnitten war, wandte sich Trotzki dem Holz zu. Die gepanzerten Züge der Roten Armee wurden mit Holzscheiten befeuert. Bis 1921, so Malm, hatte eiimprovisiertes organisches Energieregime über die kombinierten fossil-brennstoffbasierten Kräfte der Reaktion gesiegt.

Gehen wir davon aus, dass Malm nicht so sehr einen Handlungsvorschlag macht, sondern ein radikales Gedankenexperiment unternimmt. Übertragen wir seine historische Analogie auf die reguläre Politik, würde es vermutlich darum gehen, dass jeder ernsthafte Versuch einer Energiewende neben Preisgestaltung und Verhandlungen auch eine Kombination aus Verstaatlichung, Regulierung und Verboten beinhaltet, die nicht nur nach dem Buchstaben des Gesetzes, sondern mit militanter Energie durchgesetzt werden.

Die Frage ist, welche Art von politischer Formation erforderlich wäre, um dies durchzusetzen. Der Kriegskommunismus wurde von einer revolutionären Partei verwaltet, die sich in einem Überlebenskampf auf Leben und Tod befand. Das ist nicht unsere Situation, zumindest noch nicht.

Ein vielversprechenderer Weg wird in White Skin, Black Fuel vorgeschlagen. Eine der organisierenden Unterscheidungen dieses massiven kollektiven Werks ist die zwischen den Wirtschaftssektoren, die irreduzibel von der Gewinnung fossiler Brennstoffe abhängig sind, und denen, die fossile Energie nutzen, aber nicht existenziell damit verwoben sind. Bei den ersteren kann es keinen Kompromiss geben: Ihr Überleben hängt von ihrer Abschaltung ab. Letztere hingegen sind die Akteure, die angeworben werden müssen, wenn eine Strategie des Green New Deal Erfolg haben soll. Die Sorge eines jeden vermeintlichen „großen grünen Staates“ ist, wie sich der Sektor der extraktiven fossilen Brennstoffe verhalten wird.

Das Erstarken rechtsextremer Parteien in ganz Europa und die Präsidentschaften von Donald Trump und Jair Bolsonaro haben eine Welle von Debatten über ein zweites Aufkommen des Faschismus ausgelöst. Trump und Bolsonaro sind auch Klimaleugner. Malm und seine Mitautoren in White Skin, Black Fuel argumentieren, dass dies kein Zufall ist. Zunächst stellen sie fest, dass die Befürworter der Förderung fossiler Brennstoffe in den letzten zwanzig Jahren ihre Taktik geändert haben. 

In den 1990er Jahren war der Klimaleugner eine offensichtliche und eindeutig eigennützige Lüge, eine Verschwörung gegen die Wissenschaft; heute liegt der Schwerpunkt auf breit angelegten Bewegungen, die die Lebensweise mit fossilen Brennstoffen aggressiv verteidigen. Selbst mit beträchtlicher finanzieller Unterstützung durch die Wirtschaft wurde die große Lüge schwer aufrechtzuerhalten; Exxon und BP räumen inzwischen die Existenz des Klimawandels ein.

Als Reaktion darauf hat der Klimawiderstand die indirekteren Mechanismen der Hegemonie übernommen. Trump und Bolsonaro sind Befürworter von Kohle, Öl und Gas, aber anstatt sich auf wissenschaftliche Argumente einzulassen, verbreiten sie einfach nur Schlagworte. Um ihre Wählerschaft anzusprechen, brauchen sie nur Vorurteile gegen die Elite zu wecken, und der Nachhall alter klimaskeptischer Meme wird den Rest erledigen.

Das soll nicht heißen, dass das Klima explizit im Mittelpunkt ihrer Agenda steht; es ist eine Folge ihres Appells an den Anti-Elite- und Arbeiternationalismus. White Skin, Black Fuel versucht darzulegen, auf welche Weise gasfressender Konsum, die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen, Siedlerkolonialismus und rassistische Machtstrukturen historisch miteinander verwoben sind. Es gibt eine ähnliche Verbindung zwischen fossilen Brennstoffen und dem historischen Faschismus.

Die Faschisten in Deutschland waren in einer besseren Position als die Kriegskommunisten. Sie hatten Kohle. Aber sie mussten auch einen Weg finden, den Griff des Öls zu brechen, der Rohstoffbasis der anglo-amerikanischen Macht. Der Chemiekonzern IG Farben fand einen Weg, aus mitteleuropäischer Kohle Öl und Kautschuk zu gewinnen. Nicht zufällig befand sich im Herzen des Lagerkomplexes von Auschwitz eine riesige Fabrik für synthetische Chemikalien.

Die Verbindung zwischen Autoritarismus und fossilen Brennstoffen hat nicht nur eine historische und ideologische Dimension, sondern auch eine tiefere psychologische Ebene, so Malm und das Zetkin-Kollektiv. In Anlehnung an das, was Herbert Marcuse in seiner Lektüre der faschistischen Massenpsychologie als den Wunsch zu attackieren, zu spalten und zu pulverisieren beschrieb, lobte Trump die Arbeiter, die „Felswände durchbrechen, die Tiefen der Erde abbauen und den Meeresboden durchdringen, um jede Unze Energie in unsere Häuser und Geschäfte und in unser Leben zu bringen“. Es ist nicht nur „Drill, baby, drill“, das die Verbindung zementiert.

Die kognitive Dissonanz des liberalen Mainstreams ist eine Schlüsselkomponente im Psychogramm einer sterbenden Zivilisation der fossilen Brennstoffe, das Malm und das Kollektiv skizzieren. In Anlehnung an Clara Zetkins Argument, dass der Faschismus die Rache der Geschichte für das Scheitern einer sozialistischen Revolution ist, sehen sie die Heuchelei und Widersprüchlichkeit der Mainstream-Klimapolitik als Antrieb für die Wähler in Richtung der extremen Rechten. Auf die Klimakrise zu schimpfen, aber nichts dagegen zu tun, ist auf Dauer unerträglich. Das Versagen der Liberalen lässt Trump ehrlich aussehen. Er mag die Wissenschaft leugnen, aber zumindest ist er sich selbst treu.

Die militanten Aktivisten von Ende Gelände waren in den direkten Aktionstechniken der Anti-Atomkraft-Bewegung geschult worden, aber jetzt war es die Mobilisierung von Schulkindern, die von Greta Thunberg und Fridays for Future inspiriert wurde, die den Weg wies. Ein Schulstreik mit 1,4 Millionen Teilnehmern – der größte koordinierte Jugendprotest der Geschichte – fand am 15. März 2019 statt. Darauf folgte eine Reihe von Protesten im gesamten Vereinigten Königreich durch Extinction Rebellion. Im September 2019 zählte die Freitagsstreikbewegung weltweit vier Millionen Demonstranten, ein Drittel davon in Deutschland. 

Doch zur Enttäuschung von Malm und vielen in der Ende Gelände-Bewegung zeigte Fridays for Future kein Interesse an direkten Aktionen. Die protestierenden Schüler hielten sich an die Tradition der lauten Straßendemonstrationen. Wie Malm bemerkt, folgte XR in Großbritannien den jüngsten Mobilisierungen in den USA, indem es sich gegen gewaltsame Aktionen positionierte.

Die Frage, die How to Blow up a Pipeline umtreibt, ist, warum die neuen Protestbewegungen im Jahr 2019 trotz ihres Ausmaßes und ihrer Dynamik nicht die Techniken der physischen Behinderung und Störung anwenden, die Ende Gelände erfolgreich vorgemacht hat. Ein Teil der Antwort ist moralischer Natur. Vor allem die US-Bewegung hat sich gewaltfreien Methoden verschrieben.

Einige argumentierten, dass Angriffe auf Eigentum nur eine schmerzhafte und repressive Gegenreaktion hervorrufen würden, und in der Tat wurde Jessica Reznicek, die zusammen mit Ruby Montoya eine Sabotagekampagne gegen die Dakota Access Pipeline durchführte, in diesem Sommer zu acht Jahren Bundesgefängnis verurteilt.

 Aber, wie Malm argumentiert, wurden diese vertrauten taktischen Bedenken in der aktuellen Phase der Klimabewegung durch eine eigentümliche Lesart der Geschichte verstärkt, in der die Macht der Selbstbeherrschung und Gewaltlosigkeit fetischisiert wird. Die neuen Bewegungen, so schreibt er, berufen sich auf „historische Präzedenzfälle – Menschen, die gegen eine aussichtslose Situation gewinnen, große Übel, die plötzlich ein Ende finden -, die die Macht der Apathie brechen können“:

Wenn sie sich durchsetzen konnten, so die Argumentation, dann können wir das auch. Wenn sie die Welt mit allen Mitteln außer Gewalt verändert haben, dann werden wir sie auch retten. Der Analogismus ist zu einer der wichtigsten Argumentationsweisen und zur Hauptquelle des strategischen Denkens geworden, am deutlichsten bei XR, der seltenen Organisation, die sich als Ergebnis historischer Studien definiert. 

Man beachte, dass das Argument nicht lautet, dass Gewalt zu diesem bestimmten Zeitpunkt schlecht wäre – etwa, weil das Niveau des Klassenkampfes im globalen Norden so niedrig ist, dass abenteuerliche Aktionen ihn nur zurückwerfen und weiter unterdrücken würden: Worte, die nie über die Lippen von XR kommen würden -, noch dass sie nur unter Bedingungen schwerer Unterdrückung sinnvoll sein könnte. Stattdessen vertritt der analogistische strategische Pazifismus die Ansicht, dass Gewalt in allen Situationen schlecht ist, weil die Geschichte dies zeigt. Der Erfolg gehört den Friedlichen. Die Liste der historischen Analogien beginnt mit der Sklaverei.

Aber, wie Malm betont, ist die Aneignung der Geschichte durch die Klimabewegung einseitig gewesen. Wie kann man die Suffragetten-Bewegung ernst nehmen, ohne ihren Einsatz von direkten Aktionen und Sabotage zu betonen? Noch grotesker ist es, die Abschaffung der Sklaverei so darzustellen, als sei sie durch den hohen Moralismus der Quäker-„NGOs“ erreicht worden und nicht durch die Rebellion der Sklaven oder das radikale Beispiel der militanten Abolitionisten.

Indem die Klimabewegung direkte Aktionen ausschließt, beraubt sie sich nach Malms Ansicht ihres einzigen ernsthaften Druckmittels. Was wir brauchen, so Malm, ist nicht die langsame Veränderung der öffentlichen Meinung und Wahlergebnisse, sondern eine umfassendere „Theorie der Veränderung“:

Diese Millionenbewegung sollte zunächst einmal Folgendes tun: Das Verbot verkünden und durchsetzen. Neue CO2-emittierende Geräte beschädigen und zerstören. Setzen Sie sie außer Betrieb, nehmen Sie sie auseinander, demolieren Sie sie, verbrennen Sie sie, sprengen Sie sie. Lassen Sie die Kapitalisten, die weiter in das Feuer investieren, wissen, dass ihre Immobilien zerstört werden. Wir sind das Investitionsrisiko“, lautet ein Slogan von Ende Gelände, aber das Risiko muss eindeutig höher sein als ein oder zwei Tage Produktionsunterbrechung pro Jahr. 

Wenn wir von einem korrupten Kongress keine ernsthafte Kohlenstoffsteuer bekommen können, können wir mit unseren Körpern de facto eine erzwingen“, hat Bill McKibben argumentiert, aber eine Kohlenstoffsteuer ist so 2004. Wenn wir kein Verbot durchsetzen können, können wir ein De-facto-Verbot mit unserem Körper und allen anderen notwendigen Mitteln durchsetzen.

Malm ist sich bewusst, dass eine solche Taktik die Gefahr birgt, Unterstützung zu verprellen, die Medien zur Denunziation einzuladen und massive Repression zu provozieren. Er räumt ein: „Klimamilitanz müsste sich in einer breiteren antikapitalistischen Bewegung artikulieren, ähnlich wie bei früheren Umwälzungen der Produktionsweisen, als physische Angriffe auf die herrschenden Klassen nur einen kleinen Teil der gesamtgesellschaftlichen Umstrukturierung ausmachten. Wie könnte das geschehen? Das kann man nicht im Voraus wissen. Man kann es nur durch das Eintauchen in die Praxis herausfinden“. Dies sind die Worte eines revolutionären Kaders, der auf Nummer sicher gehen will.

Da das Ziel einer umfassenden Dekarbonisierung in weiter Ferne liegt, kommt es weniger auf das Ziel als auf die Art der Politik an. Angesichts der Realität des zugrunde liegenden Konflikts sind Spaltung und Streit nicht zu bedauern, sondern zu begrüßen – eine wesentliche leninistische Lektion. Eine antagonistische Haltung ist nicht mehr als eine angemessene Reaktion auf die Situation. Wie Malm und das Kollektiv in White Skin, Black Fuel schlussfolgern, „sollte die Anti-Klimapolitik der extremen Rechten zumindest jede verbleibende Illusion zerstören, dass fossile Brennstoffe durch eine Art sanften, vernünftigen Übergang aufgegeben werden können …

Ein Übergang wird durch intensive Polarisierung und Konfrontation erfolgen, oder er wird überhaupt nicht stattfinden. Unter diesem Gesichtspunkt stellt sich nicht die Frage, ob liberale Aktivisten Sabotage betreiben wollen oder nicht. Wenn wir unseren derzeitigen Kurs beibehalten, wird es Sabotage geben. Wenn sie nicht von oben gesteuert wird, wird sie von unten heraufsprudeln. Die Frage ist, ob sich die etablierte Klimabewegung auf die bevorstehenden quälenden Dilemmata vorbereiten kann. Kann sie ihren Zusammenhalt und ihre Dynamik angesichts von Krise, Gewalt, Spaltung und – sehr wahrscheinlich – Niederlage aufrechterhalten?

An diesem Punkt kehren die Dramen der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts zurück, um Malms Zukunftsvision heimzusuchen – nicht als Inspiration für eine Revolution, sondern als eine Möglichkeit, dem Widerstand einen Sinn zu geben, der letztlich vergeblich sein könnte. Stellen Sie sich vor, dass wir uns nicht mehr in der Welt der Schulstreiks und UN-Konferenzen befinden. Stellen Sie sich vor, dass nach dem Abschmelzen der Eiskappen und einem dramatischen Zusammenbruch der Zivilisation eine Gruppe von Menschen in nördlichen Breitengraden ihr Dasein fristet. 

Was werden sie ihren Kindern über diese Katastrophe erzählen? Werden sie sagen, dass „die Menschheit das Ende der Welt in perfekter Harmonie herbeigeführt hat? Dass alle bereitwillig vor den Öfen Schlange standen? Oder dass einige Menschen wie Juden gekämpft haben, die wussten, dass sie getötet werden würden?

Die „Juden“, an die Malm denkt, sind die Widerstandskämpfer im Warschauer Ghetto und in den Lagern, die sich heldenhaft, aber zum Scheitern verurteilt gegen die Nazis auflehnten. Und er meint diese außergewöhnliche Analogie ernst: Wenn es zu spät ist, den Widerstand im Rahmen eines unmittelbaren Nützlichkeitskalküls zu führen, ist es an der Zeit, die Grundwerte des Lebens zu verteidigen, auch wenn dies nur bedeutet, zum Himmel zu schreien. Er zitiert Alain Brossat und Sylvie Klingbergs Revolutionäres Jiddischland: 

„Ihr Kampf galt der Geschichte, der Erinnerung … Diese Bejahung des Lebens durch Opfer und Kampf ohne Aussicht auf Sieg ist ein tragisches Paradoxon, das nur als ein Akt des Glaubens an die Geschichte verstanden werden kann“. Lieber bei der Sprengung einer Pipeline sterben“, schließt Malm, „als teilnahmslos zu verbrennen“. So kehrt das Bild der Sprengung einer Pipeline zurück, jetzt nicht mehr als Sabotageakt, sondern als Selbstaufopferung. An diesem Schnittpunkt zwischen einer monumentalen Vergangenheit und einer dunklen Zukunft geraten wir in eine Sackgasse.

Zu Beginn von How to Blow up a Pipeline deutet Malm eine Alternative an. Man stelle sich vor, schreibt er, dass die Massenmobilisierungen des jüngsten Protestzyklus nicht mehr zu ignorieren sind.

Die herrschenden Klassen fühlen sich so unter Druck gesetzt – vielleicht schmilzt ihr Herz sogar ein wenig beim Anblick all dieser Kinder mit handgeschriebenen Plakaten -, dass ihre Verstocktheit nachlässt. Neue Politiker werden ins Amt gewählt, vor allem von grünen Parteien in Europa, die ihre Wahlversprechen einlösen. Der Druck wird von unten aufrechterhalten. Es werden Moratorien für neue Infrastrukturen für fossile Brennstoffe erlassen.

Deutschland leitet den sofortigen Ausstieg aus der Kohleproduktion ein, die Niederlande ebenso für Gas, Norwegen für Öl, die USA für alle oben genannten; es werden Gesetze und Planungen für die Senkung der Emissionen um mindestens 10 Prozent pro Jahr eingeführt; erneuerbare Energien und öffentliche Verkehrsmittel werden ausgebaut, pflanzliche Ernährung gefördert, generelle Verbote fossiler Brennstoffe vorbereitet.

Sollte dies der Fall sein, räumt Malm ein, „sollte die Bewegung die Chance haben, dieses Szenario zu verwirklichen“.

Die Mehrheit der Klimaaktivisten setzt ihre Hoffnung in diese reformistische Vision: Wir sollten in der Tat daran festhalten. Aber wir sollten uns auch eingestehen, dass diese Zeilen, obwohl sie erst vor wenigen Monaten gedruckt wurden, bereits veraltet erscheinen. Und Malm liefert uns bald eine Vision, die der heutigen Welt viel näher kommt. Stellen Sie sich vor, „in ein paar Jahren wachen die Kinder der Thunberg-Generation und der Rest von uns eines Morgens auf und stellen fest, dass es immer noch so weitergeht wie bisher, ungeachtet aller Streiks, der Wissenschaft, der Appelle, der Millionen von Menschen mit bunten Kostümen und Transparenten … Was sollen wir dann tun?‘

Der Zentrist wird zur Geduld raten. Alles, was wir tatsächlich tun können, können wir uns leisten, sagte Keynes. Umgekehrt, so fügte er in einer Radioansprache im Frühjahr 1942 hinzu, können wir uns alles leisten, was wir tatsächlich tun können, sofern wir geduldig bleiben und uns die nötige Zeit nehmen. Das ist eine vielsagende Einschränkung. Wie Malm anmerkt, ist es eine Grundannahme der Sozialdemokratie, dass sie die Geschichte und die Zeit auf ihrer Seite hat.

Aber sich einzubilden, dass dies immer noch der Fall ist, so zu reden, als könnten wir sicher zwischen kurz-, mittel- und langfristig unterscheiden, ist eine der heimtückischsten Formen der sanften Verleugnung, die heute am Werk ist. Wir sollten uns das nicht länger gefallen lassen.

Wie Malm hervorhebt, hat der Neoliberalismus immer wieder Wege gefunden, über seinen eigenen Schatten zu springen, um einer Krise in dem Umfang und Tempo zu begegnen, wie es die Situation erfordert. Die Reaktion auf die Pandemie hat genau diese Flexibilität bewiesen. Doch wenn wir uns auf diese Art von Politik verlassen, wenn es um den Klimawandel geht, ist das ein Rezept für eine planetarische Katastrophe. Malm zwingt uns, uns einer entscheidenden Frage zu stellen: 

Was ist die sozialdemokratische Politik des Notstands? Wenn seine Version des ökologischen Leninismus abzulehnen ist, was ist dann unsere Handlungslogik im Angesicht der Katastrophe? Was sind unsere politischen Optionen, wenn alles darauf hindeutet, dass uns nur noch sehr wenig Zeit bleibt? Wie Daniel Bensaïd in einem von Malm zitierten Aufsatz in Erinnerung ruft, machte Lenin 1914 eine Notiz am Rande von Hegels Die Wissenschaft der Logik: „Brüche in der Gradualität … Allmählichkeit erklärt nichts ohne Sprünge. Sprünge! Sprünge! Sprünge!‘

MB., 22.11.2022

Literatur: z.B. Friedensgutachten: https://www.transcript-verlag.de/media/pdf/71/43/11/oa9783839453810SBGK0JhNcMikh.pdf

https://www.blaetter.de/ausgabe/2023/januar/ukrainekrieg-und-klimakrise-die-geschuerte-polarisierung

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Allgemein/Politik/Geschichte

How the Corporate Takeover of American Politics Began

Robert Reich
DIENSTAG, DEZEMBER 13, 2022

How the Corporate Takeover of American Politics Began


Die Übernahme der amerikanischen Politik durch die Unternehmen begann mit einem Mann und einem Memo, von dem Sie wahrscheinlich noch nie gehört haben.

Im Jahr 1971 bat die US-Handelskammer Lewis Powell, einen Unternehmensanwalt, der später Richter am Obersten Gerichtshof werden sollte, ein Memo über die Lage des Landes zu verfassen.
Powell behauptete in seinem Memo, dass das amerikanische Wirtschaftssystem von Verbraucher-, Arbeitnehmer- und Umweltgruppen „auf breiter Front angegriffen“ werde.

In Wirklichkeit ging es diesen Gruppen um nichts anderes als um die Durchsetzung des impliziten Gesellschaftsvertrags, der am Ende des Zweiten Weltkriegs entstanden war. Sie wollten sicherstellen, dass die Unternehmen allen Interessengruppen – Arbeitnehmern, Verbrauchern und der Umwelt – gerecht werden und nicht nur ihren Aktionären.

Doch Powell und die Handelskammer sahen das anders. In seinem Memo forderte Powell die Unternehmen auf, sich für den politischen Kampf zu mobilisieren, und betonte, dass gemeinsame Organisierung und Finanzierung die entscheidenden Zutaten für den Erfolg seien.
Die Kammer verteilte das Memo an führende CEOs, Großunternehmen und Handelsverbände – in der Hoffnung, sie davon zu überzeugen, dass Big Business die amerikanische Politik in einer Weise dominieren könnte, wie es seit dem Goldenen Zeitalter nicht mehr der Fall war.
Es hat funktioniert.

Der Aufruf der Kammer zu einem Kreuzzug der Wirtschaft ließ praktisch über Nacht eine neue unternehmenspolitische Industrie entstehen. Zehntausende von Unternehmenslobbyisten und Politikern strömten nach Washington und in die Hauptstädte der Bundesstaaten im ganzen Land.
Ich muss es wissen – ich habe es mit eigenen Augen gesehen.
Im Jahr 1976 arbeitete ich bei der Federal Trade Commission. Jimmy Carter hatte Verbraucherschützer ernannt, um gegen große Unternehmen vorzugehen, die jahrelang die Verbraucher getäuscht oder geschädigt hatten.

Doch fast alles, was wir bei der FTC in Angriff nahmen, stieß auf unerwartet heftigen politischen Widerstand im Kongress. Als wir damit begannen, die an Kinder gerichtete Werbung zu untersuchen, stellte der Kongress die Finanzierung der Behörde ein und legte sie für Wochen lahm.
Ich war fassungslos. Was war geschehen? In drei Worten: Das Powell-Memo.

Lobbyisten und ihre Verbündeten im Kongress und schließlich die Reagan-Regierung arbeiteten daran, Agenturen wie die FTC zu entmachten – und sie mit Beamten zu besetzen, die das Fehlverhalten von Unternehmen übersehen würden.

Ihr Einfluss führte dazu, dass die FTC u. a. die Kartellgesetze nicht mehr ernsthaft durchsetzte, so dass riesige Konzerne fusionieren und ihre Macht noch weiter konzentrieren konnten.
Washington verwandelte sich von einer verschlafenen Regierungsstadt in ein glitzerndes Zentrum der amerikanischen Wirtschaft – mit eleganten Bürogebäuden, schicken Restaurants und Fünf-Sterne-Hotels.
In der Zwischenzeit nutzte Richter Lewis Powell den Gerichtshof, um Einschränkungen der Macht von Unternehmen in der Politik zu beseitigen. Seine Stellungnahmen in den 1970er und 80er Jahren legten den Grundstein dafür, dass Unternehmen das Recht auf freie Meinungsäußerung in Form von finanziellen Beiträgen zu politischen Kampagnen einfordern können.

Anders ausgedrückt: Ohne Lewis Powell gäbe es wahrscheinlich kein Urteil in der Rechtssache Citizens United, in der die Beschränkung der Wahlkampfausgaben von Unternehmen als Verstoß gegen die Redefreiheit“ von Unternehmen aufgehoben wurde.

Diese Klagen haben unser politisches System verändert. Mit dem Geld der Unternehmen werden ganze Heerscharen von Anwälten finanziert, die oft alle Staats- oder Bundesanwälte, die es wagen, sich ihnen in den Weg zu stellen, übertrumpfen. Der Lobbyismus ist zu einer 3,7 Milliarden Dollar schweren Industrie geworden.

Unternehmen geben in Wahljahren regelmäßig mehr Geld aus als Gewerkschaften und öffentliche Interessengruppen. Und zu viele Politiker in Washington vertreten die Interessen der Konzerne – und nicht die ihrer Wähler. Infolgedessen wurden die Unternehmenssteuern gesenkt, Schlupflöcher vergrößert und Vorschriften abgebaut.

Die Unternehmenskonsolidierung hat den Unternehmen eine beispiellose Marktmacht verliehen, die es ihnen ermöglicht, die Preise für alles von Babynahrung bis Benzin zu erhöhen. Ihre Gewinne sind in die Stratosphäre gesprungen – so hoch wie seit 70 Jahren nicht mehr. Doch trotz des Erfolgs des Powell-Memos hat das Big Business noch nicht gewonnen. Die Menschen beginnen, sich zu wehren.

Erstens: Das Kartellrecht erlebt ein Comeback. Sowohl bei der Federal Trade Commission als auch beim Justizministerium ist eine neue Bereitschaft zu beobachten, gegen die Macht der Unternehmen vorzugehen.

Zweitens wehren sich die Werktätigen. Überall im Land organisieren sich die Arbeitnehmer so schnell wie seit Jahrzehnten nicht mehr – auch in einigen der größten Unternehmen der Welt – und sie gewinnen.
Drittens ist eine Reform der Wahlkampffinanzierung in greifbare Nähe gerückt. Millionen von Amerikanern wollen die Einflussnahme von Unternehmen auf die Politik begrenzen – und die Politiker fangen an, darauf zu hören.

All dies zeigt mir, dass wir jetzt die beste Gelegenheit seit Jahrzehnten haben, die Macht der Konzerne zu bekämpfen – an den Wahlurnen, am Arbeitsplatz und in Washington.
Bringen wir es hinter uns.

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Persönliches Profil

Wolfgang Nešković

Wikipedia

 Mit Wolfgang verbindet mich ein langes Auf und Ab von Freundschaft und Auseinandersetzung. Wir lernten uns in einer Sitzung der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristen (AsJ) auf Bundesebene kennen. Ich war Kreisvorsitzender der AsJ in Bielefeld, er in Lübeck. Wir trafen uns in Bonn auf Einladung des Leiters der Rechtsstelle beim SPD-Parteivorstand, Rainer Stura. Damals war OLG Präsident Rudolf Wassermann Vorsitzender der AsJ.

Wir diskutierten Rechtspolitik. Erarbeiteten 1984 Papiere über die gesellschaftlichen und politischen Folgen der sogenannten „Neuen Technologien“ (https://michaelbouteiller.de/wp-content/uploads/2022/10/Neue-Technologien-840629.pdf) und vieles mehr. 1987 sprach mich Wolfgang auf die Ausschreibung der Stelle des Lübecker Bürgermeisters an. Er unterstützte meine erfolgreiche Bewerbung.

Weshalb ich davon erzähle? Heute geht es um Haltungen in dem erbitterten lokalpolitischen Streit über Fragen des Denkmalschutzes beim Erweiterungsbau des Buddenbrookhauses. Nach Angaben der Lübecker Nachrichten (LN ) vom 17.12.2022 fertigte Wolfgang ein Rechtsgutachten für die Bürgerinitiative Rettet Lübeck (BIRL) und schickte es an die Landesregierung: Die Genehmigung des Bürgermeisters zur Teilzerstörung des Kellergewölbes für die Anlage einer Treppe sei rechtswidrig.

Dieses “Gutachten“ und die dahinter erkennbare Haltung des Schreibers überschreitet eine rote Linie. Zur Sache: Drei Jahre lang, von 2002 – 2005, war Wolfgang Nešković ein qualifizierter Richter am Bundesgerichtshof für Zivilsachen. Die Grundlage eines solchen Amtes, das verliehen wird, um über andere zu entscheiden, ist der Grundsatz der Befangenheit. Diesen Grundsatz missachtet er heute. Wer  – wie er – als Mitglied einer der 11 Fraktionen der Lübecker Bürgerschaft in der Frage des Denkmalschutzes der Kellerräume des Buddenbrookhauses rechtsgutachtet, ist befangen. Denn er ist nicht neutral, sondern nimmt als Mitglied einer Fraktion Partei. Wer zudem als früherer Zivilrichter heute den Verwaltungsrichter gibt, übersieht, dass beider Rollen und Rechtstechniken nicht deckungsgleich sind. Wolfgang Nešković will beides nicht wahr haben.

In der Sache kritisiert er das Denkmalschutzgesetz des Landes Schleswig-Holstein. Das mag er tun, nur ist dieses Vorgehen keine Frage des geltenden Rechts. Er betreibt Rechtspolitik und nicht die Auslegung des geltenden Gesetztes. In seinem Urteil zum geltenden Recht liegt er denn auch neben der Sache. 

Denn der Bürgermeister ist m.E. nach §12 Abs.2 des Denkmalschutzgesetzes für die Entscheidung zuständig und hat zutreffend abgewogen. Dass er für Entscheidungen denkmalrechtlicher Art ein  „Fachmann“ sein muss, steht nirgendwo geschrieben. Dafür hat ein Bürgermeister fachkundige Berater. Dass die getroffene Entscheidung des Bürgermeisters Jan Lindenau, Wolfgang Nešković, dem Politiker einer gegnerischen Fraktion, persönlich nicht passt, ist im politischen Prozess alltäglich.

Wolfgang Nešković weiß das alles, denn wir haben darüber lang und breit dikutiert. Er kann aber Niederlagen offenbar nicht akzeptieren. So greift er auf das zurück, was er gelernt hat: das Recht und die Technik rechtlicher Argumentation. So wird aus einer Machtfrage (Wer setzt sich mit seiner Meinung durch?) eine Rechtsfrage (Wer hat Recht?). Bei näherem Hinsehen wird man erkennen, Nešković benutzt das Recht als Waffe, um seine persönliche Meinung durchzusetzen. Mit allen rhetorischen Mitteln und rücksichtslos. Egal, was das (die Stadt) kostet. Darauf kommt es nicht an. Denn es geht ja – wie er meint – um’s Recht. Diese Haltung ist leider bei Juristen weit verbreitet. Gefährlich für die politische Kultur ist etwas anderes. Es ist die in dieser Argumentation versteckte Verwechslung von Recht und Macht.

Mein Freund handelt auch nicht als jedermann, sondern er beruft sich bei seinen parteipolitischen Äußerungen stets auf das Gewicht seiner kurzen Rolle als hoher Richter. Er hofft, diese vergangene berufliche Rolle verleihe seinen parteipolitischen Stellungnahmen Autorität. Richtig ist zwar der Satz von Thomas Hobbes, Autorität nicht Wahrheit schafft das Gesetz. Dem Bürgerschaftsmitglied – als das er sich äußert – verschafft das heutige Wahlamt aber keine Autorität in dieser Sache. Schade.

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Allgemein/Politik/Geschichte

Nobelpreisträger Diskurse

In den Lübecker Blättern (LB) stand ein Bericht von Prof.Dr.Klawitter, dem  Vorsitzenden der Overbeck-Gesellschaft, über die Lübecker Werte-Ausstellung. Dieser Bericht war anregend.

Einen etwas längerer Text über den Wirrwarr der Werte und die Abschaffung der Moral (5 Leseminuten) habe ich im Blog aufgenommen. Mein Vorschlag, mit dem Thema „Werte“ ein städtisches Forum zu beginnen, das einmal im Jahr tagt: „Lübecker Nobelpreisträger-Diskurse“, und zwar im Bürgerschaftssaal (der hat überall Mikrofone). Weshalb?

Meine Kritik an der Lübecker Kulturpolitik beginnt mit dem Streit um die Leitlinien zur städtischen Kulturentwicklung, führt über die fehlende Beachtung des Beutelsbacher Konsenses durch die Lübecker Kurator:innen, den Hype der Meese Ausstellung und endet in der Ausstellung über die Alchemie der Stadt. Zugespitzt gesagt, was für eine Hybris: Sperrt die Werte doch in ein Museum – es lebe dann die von allen Werten befreite Kunst! 

Wenn ich das recht sehe, fehlt für eine erfolgreiche Aufarbeitung dieser Fehlent-wicklung eine Auseinandersetzung mit der politischen und geistigen Lage der Stadt von Anfang des 20. Jahrhunderts an. Wenn Sie so wollen, Arbeiterklasse und Bürgertum zusammengesehen. Kulturgeschichtlich betrachtet, am Beispiel von Erich Mühsam und Thomas Mann. Politisch gesehen, am Gegeneinander von Bürgermeister Johann Neumann und Julius Leber. Dieser gesamte kultur-politische Konflikt der 1920er Jahre wird nach 1945 nicht ausgetragen, weil m.E. der Lübecker Milliardär und Stifter Emil Possehl mit seiner wunderbaren Stiftung ein Stück weit davor steht. Dessen dominante deutschnationale Persönlichkeit war nie Gegenstand einer neueren Untersuchung.

Das ist ein guter Ausgangspunkt für eine „Werte-Diskussion“ mit unseren drei Nobelpreisträgern. Deren Werk deckt die Politik der Neuzeit, das 19.Jahrhundert und die Zeit nach 1945 ab. Etwas für Kulturbürger:innen, die sich für die Zukunftsgestaltung miteinander finden wollen. 

Lübeck, Michael Bouteiller,10.12.2022

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Allgemein/Politik/Geschichte

Man hat die Gefährlichkeit der ,Reichsbürger‘ unterschätzt“

Der Zeithistoriker Wolfgang Kraushaar über die Bedrohung aus der gutbürgerlichen Mitte, die Wehrhaftigkeit der Demokratie und unsinnige RAF-Vergleiche

In diesen Tagen werden vor dem Reichstag die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt. Imago Images

Herr Kraushaar, in Ihrem aktuellen Buch „Keine falsche Toleranz“ widmen Sie sich ausführlich dem aus einer Corona-Demonstration hervorgegangen Angriff auf den Deutschen Bundestag im August 2020. In welchem Zusammenhang steht dieses Ereignis mit der sogenannten Reichsbürgerszene?

An jenem Sommertag vor zwei Jahren ist – wenn man einmal von der Bewaffnung absieht – fast alles vorhanden gewesen, was uns und dem Staat momentan um die Ohren zu fliegen scheint: Hass und Verachtung gegenüber dem Herzstück der Demokratie, dem Parlament; der versuchte Schulterschluss mit einem Demokratieverächter wie Donald Trump, den man bereits in Berlin gelandet wähnte; der Auftakt vor der russischen Botschaft unter den Linden mit einem Anbiederungsversuch gegenüber dem Krim-Annexionisten und heutigen Kriegsverbrecher Wladimir Putin; die Massenbewegung der Querdenker als Katalysator diverser verfassungsfeindlicher Kräfte.

Ein halbes Jahr später wirkte die versuchte Reichstagserstürmung dann auch noch als Vorwegnahme jenes gespenstischen Sturmes auf das Capitol in Washington als das Szenario einer Eroberung der Staatsmacht. Kurzum, die versuchte Erstürmung des Reichstagsgebäudes vom 29. August 2020 war das Ei, aus der die in der vergangenen Woche sichtbar gewordene „Reichsbürger“-Verschwörung gekrochen ist. 

Sie stellen die Bewegung in den Kontext einer langen antidemokratischen Tradition. Wie konnten die „Reichsbürger“ so lange als „Spinner“ belächelt werden?

Obwohl deren Wurzeln auf den Holocaust-Leugner und Rechtsterroristen Manfred Roeder zurückzuführen sind, der 1975 nach einem Kontakt mit Karl Dönitz, dem letzten Reichskanzler, in Flensburg einen „Reichstag“ einberief und sich dort zum „Reichsverweser“ wählen ließ, hat man die Gefährlichkeit dieser Truppe unterschätzt. Erst als 2016 einer von ihnen einen SEK-Mann bei einer versuchten Hausdurchsuchung erschoss, war man vorgewarnt. Die „Reichsbürger“ nicht ernst zu nehmen, dürfte vor allem mit ihrem Sektencharakter und ihrer völlig realitätsfernen Ideologie zu tun gehabt haben, dass die Bundesrepublik in Wirklichkeit kein Staat, sondern eine Art GmbH sei. Doch manchmal wird aus einem Wahngebilde eine reale Bedrohung.

Können Sie die Dimensionen dieser radikalen Strömungen skizzieren?

Die „Reichsbürger“-Szene ist alles andere als homogen, sie besteht aus Dutzenden unterschiedlichen, häufig miteinander konkurrierenden Ansätzen. Sie stellt weder eine Bewegung noch eine Organisation im eigentlichen Sinne dar, eher ist sie eine Ansammlung verschiedener Netzwerkstrukturen. Vereint fühlen sich jedoch alle „Reichsbürger“ gleichermaßen in ihrer fundamentalen Leugnung der Nachkriegsrepublik – im Hinblick auf die parlamentarische Demokratie, deren Gewaltenteilung, ihre Verfassungsrechtlichkeit und auf die Rechtsstaatlichkeit. Die Corona-Pandemie scheint der ideale Nährboden dafür gewesen zu sein. In meinen Augen ist die Verfassungsfeindlichkeit der „Reichsbürger“ schon längst keine Frage mehr, sondern genau umgekehrt die in ihrer Gestalt geronnene Antwort. 

Zuletzt war immer wieder von der „wehrhaften Demokratie“ die Rede. Was hat es mit dem Begriff auf sich?

Es handelt sich um nichts anderes als den Schlüsselbegriff zur Verteidigung unserer parlamentarischen Demokratie. Ursprünglich stammt er aus dem Ideenschatz deutscher Emigranten wie etwa Hans Kelsen, Karl Löwenstein oder Otto Kirchheimer, die das Scheitern der Weimarer Republik noch am eigenen Leib zu spüren bekommen hatten. Aufgegriffen wurden derartige Überlegungen dann gleich zu Beginn des Parlamentarischen Rates von dem Sozialdemokraten Carlo Schmid, einem habilitierten Staatsrechtler, der seinerzeit als Vorsitzender des dortigen Hauptausschusses fungierte. Kein anderer Politiker hat größeren Anteil am Grundgesetz als er. Ohne ihn hätte es mit der in Artikel 1 niedergelegten Unantastbarkeit der Menschenwürde wohl kaum einen geeigneteren normativen Verfassungsrahmen geben können. 

Auch das Recht auf Asyl, das Verbot der Todesstrafe, die Einführung der Kriegsdienstverweigerung und das konstruktive Misstrauensvotum gehen auf ihn maßgeblich zurück. Als er am 8. September 1948 seine programmatische Rede hielt, forderte er dazu auf, den Verfassungsfeinden nicht ungewollt in die Hände zu spielen. Er appellierte eindringlich, dass man gegenüber jenen Kräften, die die Demokratie wie einst die Nazis nur dazu gebrauchen wollten, um sie umzubringen, unbedingt „den Mut zur Intoleranz“ aufbringen müsse.

Zum Konzept der wehrhaften Demokratie gehören etwa die Verfassungstreue, an die Professoren und andere Lehrende bei der Wahrnehmung ihrer Lehrfreiheit gebunden sind, das Verbot von verfassungsfeindlichen Vereinigungen, die Möglichkeit, bestimmte Grundrechte im Fall ihres Missbrauchs für verwirkt zu erklären, verfassungswidrige Parteien zu verbieten und nicht zuletzt in einem eigenen Artikel, der sogenannten Ewigkeitsklausel, die in den Artikeln 1 und 20 verankerten Grundrechte so zu schützen, dass sie auch durch parlamentarische Mehrheiten nicht mehr abgeschafft werden können.

Was müssten heute die Merkmale einer solchen Wehrhaftigkeit sein?

Die eben genannten Grundelemente stellen ja bereits wichtige Konkretionen dar. Der von dem Schweizer Journalisten Fritz René Allemann bereits 1955 konstatierte Satz, dass Bonn nicht Weimar sei, gilt auch für die Berliner Republik, also das wiedervereinigte Deutschland. Meiner Wahrnehmung nach befinden wir uns aber seit einiger Zeit in einer veränderten Bedrohungslage. Das hat nicht nur, aber auch mit der Durchsetzung des Internets und der Etablierung rechtsferner Räume in sozialen Medien wie etwa dem russischen Messengerdienst Telegram zu tun, der eine Radikalisierungsmaschine enormen Ausmaßes darstellt. Hinzu gekommen ist allerdings auch, dass verfassungsfeindliche Kräfte für die Sicherheitsdienste in vielen Fällen kaum noch zu lokalisieren sind. Der Verfassungsschutz ist angesichts dieses Dilemmas deshalb dazu übergegangen, eine eigene Kategorie namens „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ einzuführen. 

Dieses Wortungetüm verrät, dass die strukturellen Vorgaben der Extremismuskonzeption mit ihrer Unterscheidung zwischen Links, Rechts und Islamistisch immer weniger funktionieren. Diese ohnehin untaugliche Ränderdefinition ist so weit aufgeweicht, dass man sich nur noch mit einer Entgrenzung zu helfen weiß. Das kommt einer terminologischen Kapitulation gleich. Angesichts der Ausweitung der als extremistisch angesehenen Kampfzone auf die gesellschaftliche Mitte wie sie sich bei den „Querdenker“-Demonstrationen niedergeschlagen hat, herrscht eine stärker angewachsene Unberechenbarkeit der demokratiefeindlichen Potentiale.

Heute wird es vor allem darauf ankommen zu verhindern, dass eine unverhohlen demokratiefeindlich auftretende Kraft wie die AfD in die Lage kommt, an die Hebel staatlicher Macht zu gelangen – zunächst auf kommunaler, dann auf Landes- und schließlich auf Bundesebene. Was der NPD immer versagt geblieben ist, in den Bundestag zu gelangen, steht nun mit der rechtspopulistischen AfD seit dem Oktober 2017 im parlamentarischen, potentiell exekutiven Raum. Damit ist man dem, was Politikwissenschaftler und Historiker in Bezug auf die Machtergreifung der Nazis als „demokratisches Paradox“ bezeichnen – mit dem legalen Mittel einer demokratisch gewählten Mehrheit die Verfassungsordnung auszuhebeln und eine Diktatur zu installieren – einen bedeutenden Schritt nähergekommen. 

Woran machen Sie die neuen aus der Mitte der Gesellschaft kommenden Gefahren fest?

Schauen Sie sich an, wer am letzten Mittwoch zu den Festgenommenen zählte: ein Unternehmer, eine Ärztin, ein Pilot, ein Tenorsänger, ein Spitzenkoch, ein Elitesoldat, ein Polizeibeamter sowie eine Richterin und ein Rechtsanwalt, beide promoviert. Und das alles angeführt von einem als Immobilienmakler im Frankfurter Westend tätigen, von seinem eigenen Familienclan freilich ausgestoßenen Adligen, jenem Prinzen Reuß, der einen mit seinem Tweed-Sakko sofort an den AfD-Granden Alexander Gauland erinnert.

Allein die hier wie in einem Mikrokosmos abgebildeten Berufsgruppen stehen für das, was man gemeinhin als „gutbürgerliche Mitte“ bezeichnet. Doch diese Statusbezeichnung allein hat in der jüngeren deutschen Geschichte keineswegs automatisch für Demokratiebejahung gestanden. Die Weimarer Republik ist nicht wegen eines zwischen der NSDAP und der KPD ausgebrochenen Bürgerkrieges untergegangen, sondern wegen der Tatsache, dass die Mittelschichtenparteien zusammengebrochen und ihre Mitglieder wie Anhänger zu den Nazis übergelaufen sind. 

Sie plädieren für mehr sprachliche Genauigkeit, indem Sie vorschlagen, den Begriff des Extremismus durch Radikalismus zu ersetzen. Was versprechen Sie sich davon?

Vor allem, die bislang nur unzureichend organisierte Wehrhaftigkeit unserer Demokratie zu effektivieren. In den Politikwissenschaften hat das Extremismuskonzept keinen besonders guten Namen. Das liegt zunächst einmal daran, dass es sich auf die vermeintlichen Ränder der Gesellschaft fixiert und damit die sogenannte Mitte zugleich indirekt für sakrosankt erklärt. Sowohl für die extreme Linke als auch für die extreme Rechte wird „Extremismus“ als Etikett verwendet.

Dieses ist jedoch vor allem topographischer Natur, wird höchst statisch betrachtet und als eine quasi-anthropologische Größe behandelt. Der Begriff des Radikalismus verfügt demgegenüber im Hinblick auf die Diagnose verfassungsfeindlicher Positionen über eine ganze Reihe von Vorteilen. Der größte von allen besteht darin, dass er sehr viel besser dazu in der Lage ist, die Dynamik von politischen Phänomenen, insbesondere den Übergang zu demokratiefeindlichen Weltanschauungsmustern gründlicher zu begreifen. Bezeichnenderweise spricht kein Mensch von einer „Extremisierung“, jeder aber von Radikalisierung. 

Sie haben mehrere Standardwerke über die Geschichte des deutschen Linksradikalismus, insbesondere der RAF, geschrieben. Wie würden Sie die gegenwärtige rechtsradikale Szene im Verhältnis zur RAF der 70er und 80er Jahre beschreiben? Gibt es Gemeinsamkeiten? Worin bestehen deren Unterschiede?

Auch wenn ich selbst immer mal wieder beklagt habe, dass die RAF zu einer Art Referenzrahmen für den Terrorismus schlechthin geworden ist, so lassen sich einem Vergleich zwischen dem Linksterrorismus der siebziger Jahre und dem Rechtsterrorismus der Gegenwart doch eine ganze Reihe von Einsichten abgewinnen, die auch für eine präzisere Bestimmung der Reichsbürger-Verschwörung von Bedeutung sein könnten. Die vielleicht wichtigste Differenz besteht darin, dass die gesellschaftlichen Echoeffekte der RAF äußerst begrenzt waren.

Sie fand keinen Anklang bei der Bevölkerung im Allgemeinen und schon gar keinen bei der Arbeiterschaft, dem eigentlichen Adressaten ihrer gewaltsamen Unternehmungen. Hinzu kommt, dass sich die Anhängerschaft der RAF hauptsächlich aus einem linken akademischen Milieu rekrutierte. Das Echo von Rechtsterroristen in der Bevölkerung ist dagegen weitaus größer. Ihre Akteure entstammen der gesamten Palette der bürgerlichen Gesellschaft. Aber auch solch abgeschotteten Einrichtungen wie der Bundeswehr und der Polizei, in die die RAF nie einen Fuß hineinbekommen hat.

In den letzten Wochen wurde kontrovers darüber diskutiert, inwieweit die Aktionen der sogenannten „Letzten Generation“ als terroristische angesehen werden können. Was halten Sie von dieser Diskussion?

Nicht viel. Die Rede von der Klima-RAF ist ja bezeichnenderweise von einem CSU-Politiker wie dem ehemaligen Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt aufgebracht worden. Ein Mann, der in seiner Amtszeit ebenso wie sein Vorgänger Peter Ramsauer und sein Nachfolger Andreas Scheuer nichts zu einer besseren Klimabilanz zustande gebracht hat, hätte angesichts der unbestreitbaren Tendenz zu einer Verfehlung der von der Weltgemeinschaft 2015 in Paris deklarierten Ziele zu einer angemessenen Dekarbonisierung einmal seinen Mund halten sollen. Allerdings sehe ich umgekehrt kaum Gründe, die Aktionsformen der Letzten Generation als sonderlich zielführend zu betrachten.

Interview: Harry Nutt 

Zur Person

Wolfgang Kraushaar, Jahrgang 1948, hat mehrere Standardwerke über die Geschichte der linksradikalen Terrorbewegung Rote Armee Fraktion (RAF) geschrieben, darunter „Die RAF und der linke Terrorismus“ (Hamburger Edition, zwei Bände). Der Historiker war über viele Jahre Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Derzeit arbeitet er für die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur.„Keine falsche Toleranz“ heißt sein neues Buch, in dem er die Wurzeln antidemokratischer Traditionen in der verfassungsfeindlichen Rechten freilegt. Erschienen ist der Band in der Europäischen Verlagsanstalt, 606 Seiten, 34 Euro. Foto: Imago Images„Die Pandemie scheint der ideale Nährboden gewesen zu sein. In meinen Augen ist die Verfassungs- feindlichkeit der ,Reichsbürger‘ schon längst keine Frage mehr“ 

Quellenangabe: FR  Deutschland vom 17.12.2022, Seite 24

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Man hat die Gefährlichkeit der ,Reichsbürger‘ unterschätzt“

Der Zeithistoriker Wolfgang Kraushaar über die Bedrohung aus der gutbürgerlichen Mitte, die Wehrhaftigkeit der Demokratie und unsinnige RAF-Vergleiche

In diesen Tagen werden vor dem Reichstag die Sicherheitsvorkehrungen verstärkt. Imago Images

Herr Kraushaar, in Ihrem aktuellen Buch „Keine falsche Toleranz“ widmen Sie sich ausführlich dem aus einer Corona-Demonstration hervorgegangen Angriff auf den Deutschen Bundestag im August 2020. In welchem Zusammenhang steht dieses Ereignis mit der sogenannten Reichsbürgerszene?

An jenem Sommertag vor zwei Jahren ist – wenn man einmal von der Bewaffnung absieht – fast alles vorhanden gewesen, was uns und dem Staat momentan um die Ohren zu fliegen scheint: Hass und Verachtung gegenüber dem Herzstück der Demokratie, dem Parlament; der versuchte Schulterschluss mit einem Demokratieverächter wie Donald Trump, den man bereits in Berlin gelandet wähnte; der Auftakt vor der russischen Botschaft unter den Linden mit einem Anbiederungsversuch gegenüber dem Krim-Annexionisten und heutigen Kriegsverbrecher Wladimir Putin; die Massenbewegung der Querdenker als Katalysator diverser verfassungsfeindlicher Kräfte.

Ein halbes Jahr später wirkte die versuchte Reichstagserstürmung dann auch noch als Vorwegnahme jenes gespenstischen Sturmes auf das Capitol in Washington als das Szenario einer Eroberung der Staatsmacht. Kurzum, die versuchte Erstürmung des Reichstagsgebäudes vom 29. August 2020 war das Ei, aus der die in der vergangenen Woche sichtbar gewordene „Reichsbürger“-Verschwörung gekrochen ist. 

Sie stellen die Bewegung in den Kontext einer langen antidemokratischen Tradition. Wie konnten die „Reichsbürger“ so lange als „Spinner“ belächelt werden?

Obwohl deren Wurzeln auf den Holocaust-Leugner und Rechtsterroristen Manfred Roeder zurückzuführen sind, der 1975 nach einem Kontakt mit Karl Dönitz, dem letzten Reichskanzler, in Flensburg einen „Reichstag“ einberief und sich dort zum „Reichsverweser“ wählen ließ, hat man die Gefährlichkeit dieser Truppe unterschätzt. Erst als 2016 einer von ihnen einen SEK-Mann bei einer versuchten Hausdurchsuchung erschoss, war man vorgewarnt. Die „Reichsbürger“ nicht ernst zu nehmen, dürfte vor allem mit ihrem Sektencharakter und ihrer völlig realitätsfernen Ideologie zu tun gehabt haben, dass die Bundesrepublik in Wirklichkeit kein Staat, sondern eine Art GmbH sei. Doch manchmal wird aus einem Wahngebilde eine reale Bedrohung.

Können Sie die Dimensionen dieser radikalen Strömungen skizzieren?

Die „Reichsbürger“-Szene ist alles andere als homogen, sie besteht aus Dutzenden unterschiedlichen, häufig miteinander konkurrierenden Ansätzen. Sie stellt weder eine Bewegung noch eine Organisation im eigentlichen Sinne dar, eher ist sie eine Ansammlung verschiedener Netzwerkstrukturen. Vereint fühlen sich jedoch alle „Reichsbürger“ gleichermaßen in ihrer fundamentalen Leugnung der Nachkriegsrepublik – im Hinblick auf die parlamentarische Demokratie, deren Gewaltenteilung, ihre Verfassungsrechtlichkeit und auf die Rechtsstaatlichkeit. Die Corona-Pandemie scheint der ideale Nährboden dafür gewesen zu sein. In meinen Augen ist die Verfassungsfeindlichkeit der „Reichsbürger“ schon längst keine Frage mehr, sondern genau umgekehrt die in ihrer Gestalt geronnene Antwort. 

Zuletzt war immer wieder von der „wehrhaften Demokratie“ die Rede. Was hat es mit dem Begriff auf sich?

Es handelt sich um nichts anderes als den Schlüsselbegriff zur Verteidigung unserer parlamentarischen Demokratie. Ursprünglich stammt er aus dem Ideenschatz deutscher Emigranten wie etwa Hans Kelsen, Karl Löwenstein oder Otto Kirchheimer, die das Scheitern der Weimarer Republik noch am eigenen Leib zu spüren bekommen hatten. Aufgegriffen wurden derartige Überlegungen dann gleich zu Beginn des Parlamentarischen Rates von dem Sozialdemokraten Carlo Schmid, einem habilitierten Staatsrechtler, der seinerzeit als Vorsitzender des dortigen Hauptausschusses fungierte. Kein anderer Politiker hat größeren Anteil am Grundgesetz als er.

Ohne ihn hätte es mit der in Artikel 1 niedergelegten Unantastbarkeit der Menschenwürde wohl kaum einen geeigneteren normativen Verfassungsrahmen geben können. Auch das Recht auf Asyl, das Verbot der Todesstrafe, die Einführung der Kriegsdienstverweigerung und das konstruktive Misstrauensvotum gehen auf ihn maßgeblich zurück. Als er am 8. September 1948 seine programmatische Rede hielt, forderte er dazu auf, den Verfassungsfeinden nicht ungewollt in die Hände zu spielen. Er appellierte eindringlich, dass man gegenüber jenen Kräften, die die Demokratie wie einst die Nazis nur dazu gebrauchen wollten, um sie umzubringen, unbedingt „den Mut zur Intoleranz“ aufbringen müsse. Zum Konzept der wehrhaften Demokratie gehören etwa die Verfassungstreue, an die Professoren und andere Lehrende bei der Wahrnehmung ihrer Lehrfreiheit gebunden sind, das Verbot von verfassungsfeindlichen Vereinigungen, die Möglichkeit, bestimmte Grundrechte im Fall ihres Missbrauchs für verwirkt zu erklären, verfassungswidrige Parteien zu verbieten und nicht zuletzt in einem eigenen Artikel, der sogenannten Ewigkeitsklausel, die in den Artikeln 1 und 20 verankerten Grundrechte so zu schützen, dass sie auch durch parlamentarische Mehrheiten nicht mehr abgeschafft werden können.

Was müssten heute die Merkmale einer solchen Wehrhaftigkeit sein?

Die eben genannten Grundelemente stellen ja bereits wichtige Konkretionen dar. Der von dem Schweizer Journalisten Fritz René Allemann bereits 1955 konstatierte Satz, dass Bonn nicht Weimar sei, gilt auch für die Berliner Republik, also das wiedervereinigte Deutschland. Meiner Wahrnehmung nach befinden wir uns aber seit einiger Zeit in einer veränderten Bedrohungslage.

Das hat nicht nur, aber auch mit der Durchsetzung des Internets und der Etablierung rechtsferner Räume in sozialen Medien wie etwa dem russischen Messengerdienst Telegram zu tun, der eine Radikalisierungsmaschine enormen Ausmaßes darstellt. Hinzu gekommen ist allerdings auch, dass verfassungsfeindliche Kräfte für die Sicherheitsdienste in vielen Fällen kaum noch zu lokalisieren sind.

Der Verfassungsschutz ist angesichts dieses Dilemmas deshalb dazu übergegangen, eine eigene Kategorie namens „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ einzuführen. Dieses Wortungetüm verrät, dass die strukturellen Vorgaben der Extremismuskonzeption mit ihrer Unterscheidung zwischen Links, Rechts und Islamistisch immer weniger funktionieren. Diese ohnehin untaugliche Ränderdefinition ist so weit aufgeweicht, dass man sich nur noch mit einer Entgrenzung zu helfen weiß. Das kommt einer terminologischen Kapitulation gleich. Angesichts der Ausweitung der als extremistisch angesehenen Kampfzone auf die gesellschaftliche Mitte wie sie sich bei den „Querdenker“-Demonstrationen niedergeschlagen hat, herrscht eine stärker angewachsene Unberechenbarkeit der demokratiefeindlichen Potentiale.

Heute wird es vor allem darauf ankommen zu verhindern, dass eine unverhohlen demokratiefeindlich auftretende Kraft wie die AfD in die Lage kommt, an die Hebel staatlicher Macht zu gelangen – zunächst auf kommunaler, dann auf Landes- und schließlich auf Bundesebene. Was der NPD immer versagt geblieben ist, in den Bundestag zu gelangen, steht nun mit der rechtspopulistischen AfD seit dem Oktober 2017 im parlamentarischen, potentiell exekutiven Raum.

Damit ist man dem, was Politikwissenschaftler und Historiker in Bezug auf die Machtergreifung der Nazis als „demokratisches Paradox“ bezeichnen – mit dem legalen Mittel einer demokratisch gewählten Mehrheit die Verfassungsordnung auszuhebeln und eine Diktatur zu installieren – einen bedeutenden Schritt nähergekommen. 

Woran machen Sie die neuen aus der Mitte der Gesellschaft kommenden Gefahren fest?

Schauen Sie sich an, wer am letzten Mittwoch zu den Festgenommenen zählte: ein Unternehmer, eine Ärztin, ein Pilot, ein Tenorsänger, ein Spitzenkoch, ein Elitesoldat, ein Polizeibeamter sowie eine Richterin und ein Rechtsanwalt, beide promoviert. Und das alles angeführt von einem als Immobilienmakler im Frankfurter Westend tätigen, von seinem eigenen Familienclan freilich ausgestoßenen Adligen, jenem Prinzen Reuß, der einen mit seinem Tweed-Sakko sofort an den AfD-Granden Alexander Gauland erinnert. Allein die hier wie in einem Mikrokosmos abgebildeten Berufsgruppen stehen für das, was man gemeinhin als „gutbürgerliche Mitte“ bezeichnet. Doch diese Statusbezeichnung allein hat in der jüngeren deutschen Geschichte keineswegs automatisch für Demokratiebejahung gestanden.

Die Weimarer Republik ist nicht wegen eines zwischen der NSDAP und der KPD ausgebrochenen Bürgerkrieges untergegangen, sondern wegen der Tatsache, dass die Mittelschichtenparteien zusammengebrochen und ihre Mitglieder wie Anhänger zu den Nazis übergelaufen sind. 

Sie plädieren für mehr sprachliche Genauigkeit, indem Sie vorschlagen, den Begriff des Extremismus durch Radikalismus zu ersetzen. Was versprechen Sie sich davon?

Vor allem, die bislang nur unzureichend organisierte Wehrhaftigkeit unserer Demokratie zu effektivieren. In den Politikwissenschaften hat das Extremismuskonzept keinen besonders guten Namen. Das liegt zunächst einmal daran, dass es sich auf die vermeintlichen Ränder der Gesellschaft fixiert und damit die sogenannte Mitte zugleich indirekt für sakrosankt erklärt. Sowohl für die extreme Linke als auch für die extreme Rechte wird „Extremismus“ als Etikett verwendet. Dieses ist jedoch vor allem topographischer Natur, wird höchst statisch betrachtet und als eine quasi-anthropologische Größe behandelt. Der Begriff des Radikalismus verfügt demgegenüber im Hinblick auf die Diagnose verfassungsfeindlicher Positionen über eine ganze Reihe von Vorteilen. Der größte von allen besteht darin, dass er sehr viel besser dazu in der Lage ist, die Dynamik von politischen Phänomenen, insbesondere den Übergang zu demokratiefeindlichen Weltanschauungsmustern gründlicher zu begreifen. Bezeichnenderweise spricht kein Mensch von einer „Extremisierung“, jeder aber von Radikalisierung. 

Sie haben mehrere Standardwerke über die Geschichte des deutschen Linksradikalismus, insbesondere der RAF, geschrieben. Wie würden Sie die gegenwärtige rechtsradikale Szene im Verhältnis zur RAF der 70er und 80er Jahre beschreiben? Gibt es Gemeinsamkeiten? Worin bestehen deren Unterschiede?

Auch wenn ich selbst immer mal wieder beklagt habe, dass die RAF zu einer Art Referenzrahmen für den Terrorismus schlechthin geworden ist, so lassen sich einem Vergleich zwischen dem Linksterrorismus der siebziger Jahre und dem Rechtsterrorismus der Gegenwart doch eine ganze Reihe von Einsichten abgewinnen, die auch für eine präzisere Bestimmung der Reichsbürger-Verschwörung von Bedeutung sein könnten. Die vielleicht wichtigste Differenz besteht darin, dass die gesellschaftlichen Echoeffekte der RAF äußerst begrenzt waren. Sie fand keinen Anklang bei der Bevölkerung im Allgemeinen und schon gar keinen bei der Arbeiterschaft, dem eigentlichen Adressaten ihrer gewaltsamen Unternehmungen. Hinzu kommt, dass sich die Anhängerschaft der RAF hauptsächlich aus einem linken akademischen Milieu rekrutierte. Das Echo von Rechtsterroristen in der Bevölkerung ist dagegen weitaus größer. Ihre Akteure entstammen der gesamten Palette der bürgerlichen Gesellschaft. Aber auch solch abgeschotteten Einrichtungen wie der Bundeswehr und der Polizei, in die die RAF nie einen Fuß hineinbekommen hat.

In den letzten Wochen wurde kontrovers darüber diskutiert, inwieweit die Aktionen der sogenannten „Letzten Generation“ als terroristische angesehen werden können. Was halten Sie von dieser Diskussion?

Nicht viel. Die Rede von der Klima-RAF ist ja bezeichnenderweise von einem CSU-Politiker wie dem ehemaligen Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt aufgebracht worden. Ein Mann, der in seiner Amtszeit ebenso wie sein Vorgänger Peter Ramsauer und sein Nachfolger Andreas Scheuer nichts zu einer besseren Klimabilanz zustande gebracht hat, hätte angesichts der unbestreitbaren Tendenz zu einer Verfehlung der von der Weltgemeinschaft 2015 in Paris deklarierten Ziele zu einer angemessenen Dekarbonisierung einmal seinen Mund halten sollen. Allerdings sehe ich umgekehrt kaum Gründe, die Aktionsformen der Letzten Generation als sonderlich zielführend zu betrachten.

Interview: Harry Nutt 

Zur Person

Wolfgang Kraushaar, Jahrgang 1948, hat mehrere Standardwerke über die Geschichte der linksradikalen Terrorbewegung Rote Armee Fraktion (RAF) geschrieben, darunter „Die RAF und der linke Terrorismus“ (Hamburger Edition, zwei Bände). 

Der Historiker war über viele Jahre Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Derzeit arbeitet er für die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur.

„Keine falsche Toleranz“ heißt sein neues Buch, in dem er die Wurzeln antidemokratischer Traditionen in der verfassungsfeindlichen Rechten freilegt. Erschienen ist der Band in der Europäischen Verlagsanstalt, 606 Seiten, 34 Euro. Foto:

„Die Pandemie scheint der ideale Nährboden gewesen zu sein. In meinen Augen ist die Verfassungsfeindlichkeit der ,Reichsbürger‘ schon längst keine Frage mehr“ 

Quellenangabe: FR Deutschland vom 17.12.2022, Seite 24