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Die Ursuppe des deutschen Faschismus 

Die ideologischen Wurzeln des Faschismus reichen tief in die reaktionäre Gedankenwelt der Gegenaufklärung und Romantik des 18. und 19. Jahrhunderts. Geistiger Ahnherr war ein scharfzüngiger Gelehrter, der sich beruflich einer kritischen Rekonstruktion des Alten- und Neuen Testaments auf der Grundlage der ersten, auch orientalischen Texte verschrieben hatte, Paul de Lagarde (1827-1891). 

Der spätere Lübecker Nobelpreisträger Thomas Mann zählte Lagarde auch noch im Alter von 41 Jahren in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ (1918) neben Nietzsche und Wagner zu „den Großen dieses Volkes“ und bezeichnete ihn als „Praeceptor Germaniae“ (Lehrmeister Deutschlands). Lagarde gab dem traditionellen Kulturpessimismus der geistigen und ökonomischen Elite des Kaiserreiches Ende des 19. Jahrhunderts ganz im Sinne Fritz Sterns mit folgenden vier Überlegungen die bündige Fassung:

  1. Angesichts des drohenden geistigen und wirtschaftlichen Niederganges des Deutschen Reiches und für den Fortbestand des Deutschen Volkes unerlässlich sei eine einende nationale Erhebung und eine neue nationale Religion. Um den unfruchtbaren Streit der alten Religionsgemeinschaften, die die Nation spalten, zu überwinden, wird eine neue politische Glaubensgemeinschaft zu gründen sein. Nur eine solche führt zur Wiedergeburt des Deutschen Reiches. Das Entstehen dieser nationalen Religion bedarf allerdings eines heldischen Führers. “Nur eines Mannes großer, fester, reiner Wille kann uns helfen, eines Königs-Wille, nicht Parlamente, nicht Gesetze, nicht das Streben machtloser Einzelner“.
  2. Für den Neuaufbau dieses Deutschen Reiches sind die Begriffe „Staat“ und „Nation“ neu zu bestimmen. Anders als nach der überkommenen hegelschen Definition ist der „Staat“ nichts als eine Maschine, die bestimmte Aufgaben zu erfüllen hat. Demgegen-über ist die „Nation“ die eigentliche (mystische) Verkörperung des Volkes. Ein Volk kann nur dann zur Nation werden, wenn es in seiner Gesamtheit die ihm von Gott bestimmte Sendung annimmt. Die so gebildete Nation kennt keine Schranken (und Gesetze). Sie hat nur einen Willen und kennt keinen Zwist. Sie verkörpert die immanente Einheit artgleicher Menschen. Ihr Wille kann nicht angefochten werden.
  3. Den Juden, die neben der Arbeiterbewegung und dem um sich greifenden Liberalismus in Politik und Kultur Grund für Deutschlands Zwietracht und Niedergang sind, müssen ihre Existenzmittel genommen werden (Banken). Sie haben als Artfremde keinen Platz in dem geeinten Deutschen Volk. Mit diesem „wuchernden Ungeziefer“ könne es „keinen Kompromiss geben“. Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt. Trichinen und Bazillen werden auch nicht erzogen. Sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet“. Fritz Stern schreibt dazu: „Nur wenige Menschen haben Hitlers Vernichtungswerk so genau vorhergesagt – und so entschieden im voraus gebilligt“. 
  4. Das Deutsche Reich, das durch seine geografische Lage in Europa ungeschützt seinen Feinden (den Großmächten Russland, Frankreich, England) ausgesetzt sei, muss in „Mitteleuropa“ unbesiegbar werden. Deshalb ist die Kolonisierung Polens unabdingbar. Als erster Schritt ist dazu die Austreibung aller polnischen Juden erforderlich. Dann sollten den Slowenen, Tschechen, Ungarn und allen nicht deutschen Völkern innerhalb der österreichischen Monarchie Gebiete zugewiesen werden, in denen sie leben, sterben und vergessen werden könnten. Damit beherrschten die Deutschen ganz Mitteleuropa und könnten darüber hinaus im Osten Kolonialgebiete erobern. Zu einer wirksamen Verteidigung des Deutschen Reichs solle ferner im Westen des Reiches Elsaß und Lothringen östlich „von den Argonnen“ zu Deutschland gezogen werden.

Mit diesen vier Elementen legt de Lagarde die gedankliche Grundlage des Faschismus eines Adolf Hitler. Von de Lagarde bleibt sein Bemühen um die Konstruktion von Wirklichkeit. Er war nicht nur geistiger Ahnherr der Ideologie des Alldeutschen Verbandes, sondern in erster Linie ein scharfzüngiger Göttinger Gelehrter, der sich beruflich einer kritischen Rekonstruktion des Alten- und Neuen Testaments auf der Grundlage der ersten, auch orientalischen, Texte verschrieben hatte. Seiner entwickelten Methodik und ihrer Anwendung in den zwei Vorträgen von 1853 „Konservativ?“ und „Über die gegenwärtigen Aufgaben der deutschen Politik“, folgt die bürgerliche Denkschule in der Gesellschafts- und Staatsphilosophie bis heute. 

Der Ansatz liegt in der christlichen Glaubensgeschichte. Genauer, in der Lehre von der Auferstehung. Der Gedanke der Auferstehung Jesu in Christus transportiert den Erdenmenschen (Jesus) mit all seinen Schwächen und Stärken in die geistige Wirklichkeit (Christus), in der Niedertracht, Verbrechen, Zwist usw. zurückbleiben. Was Bestand hat, ist ein in sich geschlossenes holistisches System. Eine Verwandlung historisch lebensweltlicher Realität in „geistige Facta“, wie er sagt, die allerdings dauerhaft als Handlungsimperative lebensweltlich bestimmend sind.

Er stellt fest:

„….Iesu tod transponiert diese alten weisen in eine höhere tonart, aus moll in dur. in ihm war seiner zeit eine kraft erschienen, deren äußerungen wenige waren, welche aber alles vorhandene so weit überragte, daß die ihm nahe gekommenen das ende dieses lebens nicht absahen. erlosch es gleichwohl, so wollte es nur andern welten leuchten , so erlag es nicht einer naturnotwendigkeit, sondern gab sich aus ihm bekannten gründen freiwillig dahin, so war sein niedergang geplante verhüllung eines höheren aufgangs.

was ist denn wertvoll in der geschichte? die äußere tatsache oder das vermögen bald hier, bald da zu wirken? für den geist sind es keine facta, daß am 15 März 44 Caesar ermordet, und am 1 September 1870 Napoleon III geschlagen wurde: dem geiste sind das facta, daß ehrliche männer an die alte herrlichkeit Roms glaublen, als sie nicht mehr zu sehen war,….“

Karl Marx und Friedrich Engels haben diesen Dreh, aus der Wirklichkeit des Klassenkampfes in die heile Welt bürgerlicher, „bourgeoiser“ reiner Werte zu entfliehen, 1847/48 erkannt. Im kommunistischen Manifest schreiben sie über die deutschen Philosophen und Literaten:

„Die französische sozialistisch-kommunistische Literatur wurde … förmlich entmannt. Und da sie in der Hand des Deutschen aufhörte, den Kampf einer Klasse gegen die andre auszudrücken, so war …die „französische Einseitigkeit“ überwunden, statt wahrer Bedürfnisse das Bedürfnis der Wahrheit und statt der Interessen des Proletariers die Interessen des menschlichen Wesens, des Menschen überhaupt …, des Menschen, der keiner Klasse, der überhaupt nicht der Wirklichkeit, der nur dem Dunsthimmel der philosophischen Phantasie angehört“.

 Björn Höcke und sein ideologischer Führer, Götz Kubitschek, verwenden in ihren Kampfansagen dieses Gedankengut: 

Björn Höcke, der Parteichef der AfD in Thüringen und dortiger Fraktionschef im Landtag, hat in seiner berüchtigten Dresdner Rede im Januar 2017 „die einschlägigen Argumentations- und Redefiguren der AfD in geradezu mustergültiger Klarheit vorgeführt“. „Unser liebes Volk“, sagt er, – „Unser liebes Volk ist im Inneren tief gespalten und durch den Geburtenrückgang sowie die Masseneinwanderung erstmals in seiner Existenz tatsächlich elementar bedroht.“ Die Feinde – die von ihm so genannten „Altparteien“, auch die Gewerkschaften, vor allen Dingen auch die „Angstkirchen“ und so fort – sie „lösen unser liebes deutsches Vaterland auf wie ein Stück Seife unter einem lauwarmen Wasserstrahl. Aber wir, liebe Freunde, wir Patrioten werden diesen Wasserstrahl jetzt zudrehen, wir werden uns unser Deutschland Stück für Stück zurückholen.“

 In diesen Worten Höckes kommen fünf Zielsetzungen zum Ausdruck, die schon vor 100 Jahren in der Weimarer Republik und in Lübeck dominieren: 

  1. Erstens redet Höcke dem Kulturpessimismus und der Katastrophenlage in Deutschland das Wort, in das uns die Feinde „unseres lieben Vaterlands“ ausweglos führen, wenn die Patrioten, die Feinde des „lieben Vaterlands“, mit ihrer Spaltungsabsicht durch Geburtenrückgang und Masseneinwanderung gewähren lassen. 
  1. Zweitens appelliert er an das „Wir“, d.h. das völkisch geeinte Volk, das sich sein „liebes Vaterland“ nicht wegnehmen lässt. 
  1. Drittens ruft er zum Handeln auf: „Wir werden uns unser Deutschland Stück für Stück zurückholen“. 
  1. Viertens benennt er die Feinde, die Deutschland bedrohen: die Masseneinwanderung (von Volksfremden) und die Libertinage, die die Geburtenzahl der Deutschen Frau senkt, das heißt im Ergebnis das freiheitliche Weltbild der Moderne. Wer die mit diesen Einrichtungen verbundene Weltoffenheit lebt und garantiert, ist mit allen Mitteln zu bekämpfen. Mit allen Mitteln, denn es geht um die Existenz der ja – wie Höcke sagt – zum ersten Mal bedrohten Einheit unseres Volkes. 
  1. Zu bekämpfen sind fünftens vor allem die „Altparteien“ und besonders die „Angstkirchen“. Indem er die „Angstkirchen“ ins Visier nimmt, ruft Höcke, in gleicher Weise wie Lagarde zu einer anderen Art von Religiosität auf, wie sie die Amtskirchen offenbar nicht vertreten: Die „neue“ (alte und uns bekannte) Religion des Völkischen.
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Lügenwandler

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Bikini döst neben Burkini

…“Unsichtbar, so will die CDU die Kids in Neukölln

Normalerweise sehen wir diese Kids nie. Die gesellschaftliche Spaltung ist so weit vorangeschritten, dass ich von einer Prügelei im Prinzenbad so wenig mitbekomme wie Sie von Prenzlauer Berg, von Cloppenburg oder Würzburg aus. Die Welt dieser Kids ist nicht meine Welt, selbst wenn wir eine Wiese teilen. So wie Sie die Welt der armutsgefährdeten Kids Ihrer Stadt vermutlich auch nicht mitbekommen. Deren Sorgen. Nöte. Oder Prügeleien.

Nur wenn es eine Prügelei in Neukölln gibt, dann ja! Dann sieht die Republik sie plötzlich, die Kids. Weil sie zur Chiffre werden für ein Zusammenleben, das so nicht funktionieren soll. Dabei braucht gerade enges Zusammenleben eine gute Infrastruktur. Genug Lehrerinnen, Ärzte, Freizeit-Orte. Aber Neukölln ruft um Hilfe: Aufgrund der Sparpolitik des Berliner Senats fehlen dem Bezirk 22,8 Millionen Euro im Jahr, weshalb der Wachschutz an 12 Schulen gestrichen, die Obdachlosenhilfe reduziert, die aufsuchende Suchthilfe abgeschafft, die Reparatur kaputter Spielplätze gestrichen, Jugendfreizeit- und Familieneinrichtungen geschlossen werden sollen.

Um die Neuköllner Kids kümmert sich jetzt die CDU: mit Ausweiskontrollen und Polizei vor ihrem Sommerbad. Vielleicht bekommt man sie auf diese Weise wieder angenehm unsichtbar für die kühlen Pools der Republik.“

der Freitag, 19.7.2023, S.1

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Warum nicht ein Gedicht über den Haufen Scheiße?

„Warum nicht ein Gedicht über den Haufen Scheiße, wie Gott ihn fallen ließ und Kalkutta nannte. Wie es wimmelt, stinkt, lebt und immer mehr wird.“ (Günter Grass, Butt, S. 235).  

Warum nicht ein solches Gedicht auf Sonnenberg mit seinem AfD-Landrat Robert Sesselmann oder Raguhn-Jeßnitz mit Hannes Loth, dem neuen AfD-Bürgermeister? Warum nicht?

Weil die Scheiße das Nichts verdecken würde, was darunter wimmelt, stinkt  und immer mehr wird. Den Abschaum  geistiger Narren von Paul de Lagarde, Richard Wagner, Alfred Rosenberg, Adolf Hitler, Carl Schmitt, Heinrich Claß bis Götz Kubitchek. 

„Es gibt einen Grund, warum wir nicht zu Faschismus, Autoritarismus, Nationalismus, Theokratie usw. zurückkehren wollen – weil sie nicht funktionieren. Sie bringen nicht viel, außer Macht und Reichtum für diejenigen an der Spitze, und in der Zwischenzeit zerstören sie sich selbst, wobei sie in der Regel ein gutes Stück von allem um sich herum mitnehmen. Das ist nicht die Politik – das ist die empirische Realität, das, was wir wissen – nicht raten, folgern, schätzen, sondern mit eiserner Sicherheit wissen – 🔺aus der Geschichte“ (Umair Haque).

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Can Our Civilization Change… Before It’s Too Late?

Das Overton-Fenster (Overton-Fenster wird der Rahmen an Ideen bezeichnet, die im öffentlichen Diskurs akzeptiert werden, unter dem Gesichtspunkt der öffentlichen Moral, Wikipedia, MB) versus das Aussterbefenster oder die politische Ökonomie des Aussterbens

Dies ist der Sommer, in dem der Klimawandel real wurde, beängstigend, und er geschah unglaublich schnell. Kanada brennt, Hitzedome versengen, Überschwemmungen tosen. Und hier noch ein weiterer Fakt, der zu dieser Liste hinzukommt. Das Wasser vor der Küste Floridas erreichte neulich eine Temperatur von 95 Grad (35 Grad Celsius, MB). Denken Sie mal kurz darüber nach. Eine Hitzewelle im Meer. Die Temperaturen in den Ozeanen steigen ins Unermessliche – und die Auswirkungen reichen von einfach nur erschreckend – dem Aussterben von Meereslebewesen – bis hin zu katastrophalen Folgen wie Versauerung, Sauerstoffmangel und schließlich dem Verlust der Fähigkeit, mehr überschüssige Wärme zu speichern. Sind wir an diesem Punkt angelangt? Sicherlich erreichen wir ihn, und wir wollen es nicht auf die harte Tour herausfinden.

Florida befindet sich also im Fadenkreuz des Klimawandels, und zwar auf geradezu lächerliche Weise. Eine schmale, exponierte Halbinsel, die in die Tropen ragt. Sie ist allen wichtigen Auswirkungen des Klimawandels ausgesetzt, vom Anstieg des Meeresspiegels über Hitzewellen und Hurrikane bis hin zu kochenden Ozeanen und deren Auswirkungen auf die grundlegenden Systeme für Wasser, Landwirtschaft, Versicherungen, Finanzen usw., die alle bereits zu bröckeln beginnen. In Anbetracht all dessen muss man nicht lange nachdenken, um zu verstehen, warum die Tarife für Hausversicherungen in Florida am schnellsten in Amerika steigen – wenn man überhaupt noch welche bekommt.

Doch sehen Sie sich Florida aus einer anderen Perspektive an. Man könnte meinen, dass es auf einige dieser … existenziellen Bedrohungen reagieren würde. LOL (Last one lauhing: Der letzte der da lacht oder wer zuletzt lacht..,MB), da liegen Sie völlig falsch. Floridas Politik ist im Moment ein weltweiter Witz. Da ist Ron DeSantis, der Kinder dämonisiert… Lehrer und Ärzte kriminalisiert… Familien verfolgt… Journalisten angreift. Der Krieg gegen das Woke sein (Die Bedeutung im Duden lautet: „in hohem Maß politisch wach und engagiert gegen (insbesondere rassistische, sexistische, soziale) Diskriminierung“, MB), so nennen sie es.

Aber nicht das Woke sein wird Florida überfluten, versengen, ertränken und verarmen lassen – sondern der Klimawandel. Und zwar schnell. Man kann nur raten, wie lange Florida wirklich noch hat, und wenn ich das sage, dann denken Sie daran, wie die Auswirkungen des Klimawandels in diesem Sommer plötzlich einen neuen Grad an Grausamkeit erreichten, einfach so, und Rekorde brachen, Vorhersagen erschütterten und Modelle übertrafen. So schnell geht das. Florida?

In einer vernünftigen Welt würde es etwas tun, irgendetwas, um zu überleben, was als Nächstes kommt – aber nein, es lehnt sich so fanatisch weit nach rechts, dass… sein neuestes politisches Spektakel darin besteht… was… einen Damm zu bauen?.. seine Infrastruktur zu verstärken…? Nein, es „untersucht“ Besucher aus, wie könnte es anders sein, „woken“ Staaten. LOL.

Aber Floridas Beispiel ist Teil eines größeren globalen Trends, und zwar eines düsteren. Sehen Sie sich an, was gerade in Großbritannien passiert ist. Der Chef der Opposition, der Labour-Partei, und das soll die Seite der Vernunft und des Fortschritts sein, soll gesagt haben… warte mal… schnall dich an… „Ich hasse Baumumarmer!!“ LOL. Ich hasse „Baumumarmer. Was ist das, 1972? Nein, wir schreiben das Jahr 2023. Und sehen Sie sich um, denn der Planet steht in Flammen. Wenn Sie glauben, dass ich übertreibe, sehen Sie sich die Karte der Brände in Amerika und Kanada an, oder schauen Sie sich einfach ein Klimabild des Planeten an. Hier ist also einer der mächtigsten Politiker der Welt, der angeblich auf der Seite des Fortschritts steht und gegen… „Baumumarmer“ wettert… was wirklich eine Art Schimpfwort für Leute ist, die die Kardinalsünde begehen… sich um den Planeten zu kümmern.

Der Himmel bewahre uns davor, das zu tun. Es ist alles in Ordnung. Vergessen Sie die 30 Grad Wassertemperatur vor der Küste Floridas. Vergessen Sie die riesige Rauchwolke aus Kanada, die über London und Paris lag. Vergessen Sie die tödliche Hitze, die die Menschen von Texas bis China unter Hitzekuppeln braten lässt.

Das wahre Problem hier? Es sind die „tree huggers“. Oder, in amerikanischer Sprache, die „Woke“.

Hier sind wir angelangt, meine Freunde, und das ist ein echtes Problem. Lassen Sie mich jetzt formell sagen, warum. Ich werde einen Punkt ansprechen, der politisch klingt, es aber nicht ist. Es ist eine Beobachtung und empirisch, und da gibt es einen Unterschied. In der Politik geht es darum, was man glaubt, und natürlich hat man ein Recht darauf. Aber zu sagen, dass eine bestimmte Form der Politik unter bestimmten Umständen nicht funktionieren kann – das ist keine Politik. Es ist einfach die Realität.

Das ist Pragmatismus, wenn Sie wollen. Es ist kein politischer Standpunkt, zu sagen, dass eine bestimmte Politik überholt ist. Es ist einfach eine Überlegung, eine Bewertung, eine empirische Realität. Wir halten z. B. den Feudalismus nicht wirklich für eine lebensfähige Form der modernen Politik, oder? Abgesehen von den LOL „Moms for Liberty“, nein, das tun wir nicht. Das liegt daran, dass sich die Dinge ändern. Warum sage ich das alles?

Denken Sie an das politische Spektrum der heutigen Welt. Es reicht von neoliberalem Kapitalismus bis hin zu offenem Faschismus in seinen verschiedenen Ausprägungen. Es gibt Theokratie im indischen Stil, Autoritarismus im russischen Stil, chinesischen „Staatskapitalismus“ und, weiter hinten im Spektrum, glühenden Nationalismus im Stil des Brexit. Am äußersten Ende des Spektrums gab es früher ein wenig Sozialdemokratie, vor allem in Europa – aber jetzt ist natürlich die extreme Rechte auf dem Vormarsch und gewinnt scheinbar jeden Tag an Stärke.

Das politische Spektrum der Welt ist also begrenzt. Das bedeutet: Es hat gerade jetzt harte Grenzen. Das sind keine „natürlichen“ oder „wirklichen“ Grenzen – darauf werde ich noch zurückkommen. Es sind einfach … Grenzen. Zonen der Möglichkeit, geschaffen durch eine Reihe von Dingen, die die menschliche Welt heimsuchen: Macht, Trägheit, Propaganda, veraltete Theorien, gescheiterte Ideen. In unserer Welt ist das, was möglich ist… gerade jetzt… die Zone der menschlichen Organisation zwischen Faschismus und Kapitalismus.

Lassen Sie mich hier mühsam meine übliche Warnung darüber einfügen, was Kapitalismus für Amerikaner bedeutet. Nein, es ist nicht Ihre kleine Bäckerei oder Ihre chemische Reinigung. Das ist nur der Handel. 

Kapitalismus ist… multinationale Unternehmen, die Deals mit… Nationen… abschließen, die ärmer sind als sie selbst… um ihre Profite in Nanosekundenschnelle zu maximieren… damit die Aktienkurse jeden Tag steigen… Aktien, die auf abstrakten, schattenhaften „Märkten“ als körperlose Bits gehandelt werden… im Besitz von „Hedge-Fonds“ und „Private Equity-Fonds“. Nichts davon hat etwas damit zu tun, eine Kneipe, eine Bäckerei oder einen kleinen Laden gut zu führen, denn wenn man seine Kunden so behandeln würde, wie der Kapitalismus die Menschen behandelt, LOL, dann hätte man keine. Und das liegt daran, dass der Kapitalismus immense Macht hat, der Durchschnittsbürger aber nicht.

Sie können dies das „Overton-Fenster“ unserer Zivilisation nennen, wenn Sie wollen. Was ist innerhalb dieses Fensters möglich? Möglich bedeutet hier eine ganze Menge. Es bedeutet: gesellschaftlich akzeptabel, gemäß den von der Macht diktierten Normen. Es bedeutet wirtschaftlich akzeptabel, für Systeme und Institutionen, die bereits aus einem bestimmten Grund existieren, in unserem Fall die Maximierung des Profits in Nanosekunden. Es bedeutet, dass es politisch vertretbar ist, d. h. dass es eine Lizenz zum Handeln oder eine Erlaubnis gibt, überhaupt zu existieren.

Denken Sie nun über das Overton-Fenster unserer Zivilisation nach. Was fällt Ihnen daran auf? Nun, es bewegt sich in die falsche Richtung. Früher war es der Kapitalismus mit einem Hauch von Sozialdemokratie. Und jetzt ist es Kapitalismus bis Faschismus. Mit anderen Worten, es bewegt sich in die Richtung, die wir als „rechts“ bezeichnen, und ich werde dieses Wort nicht oft verwenden, weil es die Sache nur verwirrt, und zwar für schwache Gemüter, die ihre eigene Identität als „links“ oder „rechts“ betrachten. Das Overton-Fenster unserer Zivilisation verschiebt sich in die falsche Richtung. Das ist keine politische Wertung. Falsch bedeutet hier einfach Rückschritt.

Es gibt einen Grund, warum wir nicht zu Faschismus, Autoritarismus, Nationalismus, Theokratie usw. zurückkehren wollen – weil sie nicht funktionieren. Sie bringen nicht viel, außer Macht und Reichtum für diejenigen an der Spitze, und in der Zwischenzeit zerstören sie sich selbst, wobei sie in der Regel ein gutes Stück von allem um sich herum mitnehmen. Nicht die Politik – das ist die empirische Realität, das, was wir wissen – nicht raten, folgern, schätzen, sondern mit eiserner Sicherheit wissen – aus der Geschichte.

Sie können sich schon denken, worauf ich hinaus will. Das sind … schlechte Nachrichten. Es ist fast schon komisch, wenn man darüber nachdenkt. Die Ozeane kochen, Megabrände erstrecken sich über die gesamte Breite der Kontinente, die Temperaturen sind sprunghaft angestiegen, wir hatten die heißesten Tage seit 100.000 Jahren… und Politiker sagen Dinge wie „Ich hasse Baumumarmer!“ Oh mein Gott! Machen Sie weiter und lachen Sie sich kaputt.

Ich werde einen weiteren Punkt ansprechen, der politisch klingt, aber überhaupt nicht politisch ist. Politik ist in gewisser Weise eine Lösung für bestimmte Umstände. Haben Sie eine wirtschaftliche Depression? Dann werden Sie besser schnell liberal, wenn Sie nicht noch eine größere Depression wollen. Wollen Sie einen funktionierenden Gesellschaftsvertrag mit Gesundheitsfürsorge und Bildung für alle – nicht die Dystopie Amerikas? Dann werden Sie besser sozialdemokratisch.

Aber auch das Gegenteil ist der Fall: Sie wollen Geld sparen, ein gewisses Maß an Ordnung durchsetzen oder sogar wieder ein gewisses Maß an sozialem Zusammenhalt haben? Dann braucht man ein Stück Konservatismus. Wir sind der Politik verhaftet, unflexibel, und das ist unser größter Fehler. Die Politik ist eine Lösung für die Umstände, und die ändern sich, und so sollten natürlich auch unsere politischen Überzeugungen der Zeit angepasst werden.

Mein Gott! Schließen Sie sich mir an und lachen Sie sich kaputt.

Unser Zeitalter ist jetzt anders. Es ist das Zeitalter der Auslöschung. Stellen Sie sich nun vor, Sie wären ein Außerirdischer, der den Planeten Erde und die menschliche Spezies unvoreingenommen und objektiv, wenn auch ein wenig kalt, betrachtet. Was würde Ihnen an unserer Politik auffallen? Sie ist völlig veraltet. Unser Overton-Fenster reicht vom Kapitalismus bis zum Faschismus – aber keines dieser Systeme kann auch nur ein einziges unserer Probleme jetzt lösen. 

Der Kapitalismus wird keine Systeme für Wasser, Nahrung, saubere Luft, irgendetwas, das ein Jahrtausend überdauert und im Überfluss vorhanden ist, aufbauen – warum nicht? Weil er an Profiten interessiert ist, in dieser Nanosekunde, und an Überfluss? LOL – das heißt, es gibt keine Profite mehr. Daher befinden wir uns jetzt in dieser bizarren Situation, in der wir sehen können, wie der Planet im Grunde genommen schmilzt, und dennoch ist alles, was der Kapitalismus wirklich tut, Profitmacherei – Gierflation, die den Geldbeutel ruiniert.

Der Faschismus wird die Probleme der Gegenwart natürlich auch nicht lösen, auch wenn er sicherlich verlockend ist – man denke nur an das Beispiel des finnischen Wirtschaftsministers, der sagte, die „Lösung“ für den Klimawandel sei die Abtreibung afrikanischer Babys. Ja, genau.

Die Welt hat heute ein Kohlenstoffproblem, weil der reiche Westen riesige Mengen an Produkten konsumiert, die in China und Asien hergestellt werden, die wiederum riesige Mengen an Kohlenstoff ausstoßen, um sie zu versorgen. Und die abstoßende Idee des Tierarztes ist sicherlich für einige verführerisch – tötet die. Afrikaner! Schwule! Juden! Nehmt ihnen ihre Kinder weg! Faschismus ist immer ein Weg, um Knappheit zu rationieren, und natürlich wird der Klimawandel zu historischen Ausmaßen führen.

Bewohnt wieder das außerirdische Raumschiff. Man könnte den Kopf schütteln und sagen: Diese Narren müssen das Overton-Fenster auf der anderen Seite öffnen. Sie brauchen das, was sie „grüne“ Politik nennen. Seltsamerweise denken sie nicht einmal an die Möglichkeit solcher Formen der Politik, selbst wenn ihr Planet schmilzt, die Ozeane kochen, Hitzedome ihren Globus versengen, Megabrände ihn abfackeln… Aber die alten Formen der Politik, vom Kapitalismus bis zum Faschismus – sie haben keinerlei Hoffnung, die Probleme dieses armen, gebeutelten Planeten zu lösen, dank dieser verwirrten, verwirrten Spezies, die ihn zu beherrschen begann.

Das ist nicht nur ein Plädoyer für die Grünen Parteien. Sie sind weder hier noch dort. Das ist Politik, über die wir hier eigentlich nicht reden. Aber es ist eine Botschaft dieser Art: Erinnern Sie sich noch an die alte Sache, die man einen Green New Deal nannte? Erinnern Sie sich noch daran, wie es als … unmöglich … verrückt … wahnhaft … wahrhaft stalinistischer Kommunismus dargestellt wurde, der die Menschen in Gulags stecken würde, LOL?

Schauen Sie sich die Welt ohne Gulags an. Die Faschisten haben die Kontrolle, und sie greifen jeden an, den sie hassen, von der Dämonisierung von LOL-Babys über die Kriminalisierung von Lehrern und Ärzten bis hin zum Sündenbock für Wissenschaftler und Journalisten und zur Zerschlagung von Familien. In der Zwischenzeit erreicht der Planet den Siedepunkt – und wenn jeder Sommer schlimmer ist als dieser, bei diesem Tempo des Abstiegs in Dantes Inferno der Klimahölle … ist es äußerst vernünftig, mit einem Schaudern zu fragen, wie lange wir überhaupt noch Zeit haben?

Denken Sie über all das nach, denn das tue ich, sehr oft. Nochmals, nicht in einem parteipolitischen Sinne. Sondern einfach so, wie es ein nachdenklicher Mensch tun sollte. Ein Planet am Siedepunkt. Das ist der Punkt, an dem neue Formen der Politik, die sich um Erneuerung und Verantwortung drehen, mit einem Urknall möglich werden sollten. Stattdessen sind wir in einem Overton-Fenster gefangen, das sich schnell in die falsche Richtung bewegt – wie ich gestern erörtert habe, können wir als Welt nicht einmal eine Kohlenstoffsteuer einführen, bevor der Planet im nächsten Sommer noch heißer und heftiger brennt.

Das Aussterbefenster schließt sich, meine Freunde.

Und obwohl es durchaus möglich ist, dass es eine neue Aufklärung gibt – der Durchschnittsbürger, der im Moment den Demagogen der Welt zujubelt und den Rausch des Dopaminrausches des Hasses spürt, findet schließlich heraus: Moment, wenn wir das alles richtig machen, das Ergebnis ist Überfluss, für mich, für alle von mir, und das bedeutet, warte, ich bin reich, viel reicher, als ich es mir jemals vorgestellt habe, mein Lebensstandard steigt in die Höhe, und ich muss nicht bis zum Umfallen arbeiten, um mein ganzes Leben lang „Schulden“ bei Milliardären zu begleichen. und dann ändert sich die Welt. Sicher, das könnte passieren. Aber wenn es passiert, genau dann, wenn sich das Fenster zu schließen beginnt? Dann wird es zu spät sein.

Dies ist also die größte Prüfung für die Menschheit und die gefährlichste Überquerung von allen. Wer sind wir? Werden wir unser besseres Selbst entdecken, bevor es zu spät ist? Oder werden uns Macht, Gier und Hass zum Narren halten, so wie sie es seit Jahrtausenden tun, indem sie jeden gegen jeden ausspielen, in einem Spiel, bei dem jeder verliert und nur die Puppenspieler gewinnen? Gemeinsam werden wir es herausfinden, und zwar schneller, als es irgendjemand von uns wirklich wissen will, denke ich.

Umair

July 2023

Umair Haque ist einer der führenden Denker der Welt. Er ist Mitglied der Thinkers50-, der maßgeblichen Rangliste der weltweit führenden Managementexperten, und hat zwei Bücher bei Harvard Business Publishing veröffentlicht, wo er auch mehrere Jahre lang den Top-Blog der Harvard Business Review zu Themen wie Wirtschaft, Führung, Innovation, Finanzen und Karriere verfasst hat. Umair war in leitenden Positionen im Finanz- und Strategiebereich tätig und verfügt über Abschlüsse der McGill University und der London Business School.  Er hat das Buch The New Capitalist Manifesto: Building a Disruptively Better Business (2011) und Betterness: Economics for Humans (Harvard Business Review). Als beliebte Medienfigur hat er über zweihunderttausend Follower auf Twitter, erscheint in allen großen globalen Nachrichtensendern, wurde in fast allen großen Zeitungen der Welt veröffentlicht oder zitiert, veröffentlicht auf Medium, HBR und Twitter und spricht regelmäßig vor öffentlichem und privatem Publikum in aller Welt.

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In Texas, Dead Fish and Red-Faced Desperation Are Signs of Things to Come

July 8, 2023

Jeff Goodell

Mr. Goodell is the author of the forthcoming book, “The Heat Will Kill You First: Life and Death on a Scorched Planet.”

Im Jahr 2019 besuchte ich Phoenix an einem Tag mit 115 Grad (46,1 Grad Celsius,MB). An einem Nachmittag hatte ich einen Termin, der nur 10 Blocks von meinem Hotel in der Innenstadt entfernt war. Ich nahm mir vor, der Hitze zu trotzen und zu Fuß zu gehen. Wie schlimm konnte die Hitze wirklich sein? Ich bin in Kalifornien aufgewachsen, nicht in der Arktis. Ich dachte, ich kenne Hitze. Ich hatte mich geirrt. Nach drei Häuserblocks war mir schwindlig. Nach sieben Blocks klopfte mein Herz. Nach 10 Blocks dachte ich, ich sei erledigt.

Diese Erfahrung veranlasste mich, die nächsten drei Jahre mit Recherchen zu verbringen und ein Buch über die Gefahren extremer Hitze zu schreiben und darüber, wie die steigenden Temperaturen unsere Welt verändern. Ich sprach mit Ärzten darüber, wie sich die Proteine in unseren Zellen aufzulösen beginnen, wenn die Kerntemperatur unseres Körpers zu hoch ansteigt. Ich bin in die Antarktis gesegelt, um zu sehen, wie Veränderungen der Meerestemperatur das Schmelzen der Gletscher beschleunigen, wodurch die Meere ansteigen und Küstenstädte auf der ganzen Welt überfluten. Ich sprach mit Menschen in den Slums von Indien, in ofenähnlichen Wohnungen in Arizona und in erstickend heißen Dachböden in Paris. Ich habe in Houston Moskitos gefangen und erfahren, wie die Ausbreitung von Dengue-Fieber und Malaria durch höhere Temperaturen beeinflusst wird. Ich sprach mit Ingenieuren darüber, wie Hitze Eisenbahnschienen verbiegt und Brücken schwächt. Kurzum, ich dachte, ich hätte eine ziemlich gute Vorstellung von den Auswirkungen extremer Hitze in unserer Welt

Um mich herum spielten sich in Echtzeit Ereignisse ab, die denen, über die ich einige Jahre zuvor an anderen Orten berichtet hatte, auf beunruhigende Weise ähnelten: Wanderer, die an einem Hitzschlag starben, und Tausende von toten Fischen, die an den Stränden der Golfküste angeschwemmt wurden (heißeres Wasser enthält weniger Sauerstoff, was es den Fischen erschwert zu atmen). Die rotgesichtige Verzweiflung auf den Gesichtern der Obdachlosen, die unter einer Überführung in meiner Nähe lebten, erinnerte mich auf erschreckende Weise an die rotgesichtige Verzweiflung, die ich auf den Gesichtern der Menschen in Indien und Pakistan gesehen hatte.

Man kann argumentieren, dass Texas sich das selbst angetan hat. Der Planet wird durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe immer heißer. Das ist eine einfache Wahrheit, so klar wie der Mond am Nachthimmel. Kein Staat hat mehr von fossilen Brennstoffen profitiert als Texas. Die Einnahmen aus der Öl- und Gasförderung sind seit langem von zentraler Bedeutung für die texanische Wirtschaft und sind zumindest teilweise für den für 2024-25 prognostizierten Überschuss von mehr als 32 Milliarden Dollar im Staatshaushalt verantwortlich. Texas ist außerdem für den Ausstoß von mehr als 600 Millionen Tonnen Treibhausgasen pro Jahr verantwortlich, mehr als doppelt so viel wie jeder andere Bundesstaat.

Die Hitzekuppel machte die Barbarei der politischen Führung des Bundesstaates sichtbar. In Texas sterben mehr Arbeiter an den hohen Temperaturen als irgendwo sonst im Lande. Dennoch hat Gouverneur Greg Abbott ausgerechnet an dem Tag, an dem es so heiß war, dass ich erst nach Einbruch der Dunkelheit nach draußen gehen wollte, um die Post zu kontrollieren, ein Gesetz verabschiedet, das lokale Verordnungen, die Wasserpausen vorschreiben, abschafft. 

Wenn Sie Glück haben und es Ihnen gut geht, haben Sie vielleicht nicht das Gefühl, dass eine lebensbedrohliche Macht in Ihre Welt eingedrungen ist. In der vergangenen Woche wurden an vier aufeinanderfolgenden Tagen Rekorde für die heißesten jemals auf der Erde gemessenen Tage aufgestellt oder gebrochen. Am Montag saß ich zufällig in einem klimatisierten Café in Austin. Um mich herum tranken die Leute Eiskaffee und Wasser in Flaschen, scheinbar unbekümmert, während draußen die Hitze erbarmungslos auf sie einschlug. In meiner Nachbarschaft, wo ein Ehepaar ein bescheidenes Haus abriss, große schattenspendende Bäume fällte und ein Herrenhaus mit schwarzem Dach errichtete, das die Wärme aufsaugt, hängen riesige Kompressoren für die Klimaanlage an der Seite des Hauses wie taktische Waffen im Klimakrieg.

In gewisser Weise ist die Gleichgültigkeit von Herrn Abbott nicht überraschend. Viele Texaner sehen in der extremen Hitze einen schwachen Feind. Auf dem Höhepunkt der texanischen Hitzewelle wurde auf dem offiziellen Twitter-Account eines texanischen Universitäts-Footballteams ein Video gezeigt, in dem ein Spieler in voller Montur Sprints absolviert, während er eine schwere Kette schleppt. „Arbeiten in der texanischen Hitze“, hieß es in dem Tweet, gefolgt von einem Feuer-Emoji. Als ob man ein echter Cowboy ist, wenn man sein Leben in der Hitze riskiert.

Nicht weit von meinem Haus entfernt gibt es ein Fitnessstudio namens „HEAT Bootcamp“ (das Marketing des Fitnessstudios lautet: „Join the heat wave“). Hier ist das Aushalten von Hitze ein Zeichen innerer Stärke (vielleicht ein Rückgriff auf das Mittelalter, als Hitze durch das, was der Philosoph Thomas von Aquin „die elementare Hitze des Samens“ nannte, mit Männlichkeit verbunden war).

Glücklicherweise hat sich das texanische Stromnetz trotz der hohen Nachfrage nach Strom durch alle, die ihre Klimaanlage anwerfen, stabil gehalten, was vor allem an der enormen Anzahl von Solaranlagen liegt, die in den letzten Jahren in Texas ans Netz gegangen sind. Die Menschen strömen in Scharen in die Grünanlagen von Austin, vor allem in den quellgespeisten Barton Springs Pool, was den Wert kühler öffentlicher Räume beweist. Im Blanton Museum of Art in Austin (wo meine Frau Direktorin ist) wurde ein heißer, lebloser Innenhof in einen schattigen, einladenden Innenhof verwandelt, indem ein Dutzend eleganter, 40 Fuß hoher Strukturen in Form von Blumenblättern installiert wurden – ein Beweis, falls es eines solchen Beweises bedarf, dass eine kühle Stadt eine schöne Stadt sein kann

Unter Klimaaktivisten und anderen, die sich Sorgen um die Zukunft unseres Planeten machen, wird derzeit viel über den Bedarf an inspirierenden Geschichten und hoffnungsvollen Lösungen gesprochen. Ich stimme dem zu. Wir sind nicht dem Untergang geweiht. Ich glaube sogar, dass die Klimakrise vor allem eine Chance ist, unser Verhältnis zur Natur zu ändern und eine glücklichere, gesündere und gerechtere Welt zu schaffen.

Aber das Leben unter der texanischen Hitzekuppel hat mich in meiner Ansicht bestärkt, dass wir uns über den Umfang und das Ausmaß dessen, womit wir konfrontiert sind, im Klaren sein müssen. Die extreme Hitze, die in diesem Sommer in vielen Teilen der Welt herrscht, ist kein außergewöhnliches Ereignis – sie ist ein weiterer Schritt in unsere brennende Zukunft. Die Waldbrände in Kanada, der orangefarbene Blade-Runner-Himmel an der Ostküste, der heiße Ozean, die rasch schmelzenden Gletscher in Grönland, der Antarktis und im Himalaya, die hohen Lebensmittelpreise, die Ausbreitung von durch Vektoren übertragenen Krankheiten an unerwarteten Orten – all das hängt zusammen und wird durch die zunehmende Hitze verursacht.

Wir müssen anfangen, heiße Tage als mehr als nur eine Einladung zum Strand oder zum Abhängen am See zu sehen. Extreme Hitze ist der Motor des planetarischen Chaos. Wir ignorieren sie auf eigene Gefahr. Denn wenn es eine Sache gibt, die wir über die Risiken extremer Hitze verstehen sollten, dann ist es diese: Alle Lebewesen, vom Menschen bis zum Kolibri, teilen ein einfaches Schicksal. Wenn die Temperatur, an die sie gewöhnt sind – was Wissenschaftler manchmal ihre Goldlöckchen-Zone nennen – zu weit und zu schnell ansteigt, sterben sie.

Katharina Meyer zu Eppendorf ,»Die Hitze verschlimmert alles«,https://epaper.zeit.de/article/5ee8d411e79b38b423609cf01381bd48ad216b8da1600f53c60cce81e25d2190

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Allgemein/Politik/Geschichte

„Wer nicht wahrgenommen wird, ist ein Nichts“

Gewaltforscher Wilhelm Heitmeyer erklärt, warum die AfD im Osten so stark ist und welche Rolle Kultur- und Klassenkämpfe bei ihrem Erfolg spielen. Ein Interview von Baha Kirlidokme

Wikipedia

Wo man hinsieht, nichts: Die AfD ist besonders in Ostdeutschland erfolgreich. Die Wende hat dort wirtschaftlich wenig hinterlassen, man fühlt sich abgehängt. dpa

Herr Heitmeyer, die AfD stellt seit Sonntag ihren ersten Bürgermeister in Sachsen-Anhalt, seit einer Woche ihren ersten Landrat in Thüringen. Je nach Umfrage ist sie bundesweit zweitstärkste Partei und könnte in Thüringen sogar die Landtagswahl gewinnen. Hätten die Alarmglocken nicht schon gestern läuten müssen?

Man muss sich schon große Sorgen machen, vor allem mit Blick auf die Landtagswahlen. Die Wahl des Bürgermeisters und des Landrates sind Symptome einer Normalisierung. Es ist deshalb notwendig, dass man die AfD nochmal genauer in das gesamte rechte Spektrum einordnet. Es ist verwunderlich und nachlässig, wie Leitmedien die AfD immer noch verharmlosend als rechtspopulistisch bezeichnen. 

Die Partei ist keine klassisch rechtsextremistische, denn Rechtsextremismus operiert immer mit Gewalt. Ich identifiziere die Partei als „Autoritären Nationalradikalismus“. Das Autoritäre findet sich als erstes Kriterium im Ordnungsmodell einer Gesellschaft mit traditionellen Lebensweisen, starker Führung und dichotomischen Weltbildern. Das zweite Kriterium ist das Nationalistische, das auf die Überlegenheitsfantasien der deutschen Kultur zielt, mit der Formel „Deutschland zuerst“ hantiert und „Deutsch-Sein“ als Identitätsanker. Das dritte Kriterium, das Radikale, zeigt sich in einem rabiaten Kommunikations- und Mobilisierungsstil, der durchzogen ist von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.

Wie sollte der richtige Umgang von Medien mit der AfD aussehen?

Wir müssen die gesellschaftliche Entwicklung einbetten in den Kontext von Krisen, Kontrollverlusten und Konfliktstrategien der AfD. Die traditionellen Instrumente in der Politik, um Krisen zu bewältigen, funktionieren an vielen Stellen nicht mehr. Zudem sind die Zustände vor den Krisen nicht wiederherstellbar. Teile der Bevölkerung erleben deshalb Kontrollverluste über ihre Biografie. An der Stelle setzt dann die AfD an mit dem Slogan: „Wir stellen die Kontrolle wieder her“. Insofern müssen Medien genauer einordnen und die Mechanismen beschreiben.

Also war es ein Fehler des „Stern“-Magazins, Alice Weidel auf das Cover zu heben?

Ich halte das gesamte Interview gelinde gesagt für eine Home-Story, die da vom „Stern“ produziert wurde. Die Journalisten haben an keiner Stelle nachgehakt. Wenn man so an der Oberfläche herumturnt, ist es ein großer Gewinn für die AfD und Frau Weidel. 

Wer sind eigentlich die Wähler und Wählerinnen der AfD? Das werden ja wohl kaum alles Neonazis sein, wie manche meinen.

Nein, auch deshalb insistiere ich, den Begriff des „Autoritären Nationalradikalismus“ stark zu machen. Dahinter verbergen sich nicht Neonazis, das ist eine andere Gruppierung. Es gibt vier Gruppen, die man hier besonders nennen muss. Die AfD gewinnt gerade in Ostdeutschland bei den autoritär sozialisierten Menschen, die in einen Kontext des Kontrollverlustes hineingeraten sind. Das sind Menschen, die aufgrund der Wende viele Brüche in ihrer Lebensbiografie und oft Anerkennungsverluste erfahren haben. Für diese Menschen ist es attraktiv, wenn die Wiederherstellung von Kontrolle propagiert wird. Die zweite Gruppe sind ehemalige Nichtwähler, denen das Vertrauen in die Demokratie fehlt. Die AfD hat es geschafft, viele von ihnen aus der wutgetränkten Apathie zu holen. Hier hat die AfD mit ihrem rabiaten Kommunikations- und Mobilisierungsstil angesetzt. Zur dritten Gruppe zählt die Arbeiterschaft, bis hin zu Gewerkschaftsmitgliedern. Die vierte Gruppe ist eine, die einem besonders Sorgen machen muss, die rohe Bürgerlichkeit. Hinter einer glatten bürgerlichen Fassade verbirgt sich ein Jargon der Verachtung. Diese rohe Bürgerlichkeit ist in der Mitte der Gesellschaft angesiedelt und ist in Westdeutschland noch nicht als Potenzial ausgeschöpft. Bei diesen vier Gruppen erfahren die etablierten Parteien nicht ausreichend Resonanz, weil diese Gruppen den Eindruck haben, dass sie nicht hinreichend wahrgenommen werden. Wer nicht wahrgenommen wird, ist ein Nichts. 

Bleiben wir bei der ersten Gruppe, die Ostdeutschland betrifft. Sie benennen die Wende als Grund, aber auch eine autoritäre Sozialisierung. Ist die Wende hier aber, alleine mit Blick auf das Treuhand-Trauma, nicht der zentrale Punkt? 

Ja, hinter den Kontrollverlusten stecken auch sozio-ökonomische Gründe. Hier spielt Statusabstieg eine große Rolle. Der Punkt ist, dass die Identitätsfrage, also das Deutschsein, dadurch bedeutend wird. Es kann in der Lebensbiografie alles verloren gehen, der Job, die Familie, aber eins kann einem nicht genommen werden: das Deutschsein. Hier setzt die AfD mit ihrer rabiaten Identitätspolitik an. Ein weiterer Grund, warum sie in Ostdeutschland erfolgreich ist, ist aber auch die sozialgeografische Struktur mit Kleinstädten und Dörfern. Das wird in der Debatte noch unterschätzt. Die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist dort aufgrund der sozial-kulturellen Homogenität höher, als in großen Städten, die heterogen sind. 

Die Partei schafft es also, die soziale Frage an das Völkisch-Identitäre zu knüpfen.

Ja, das ist ein wichtiger Punkt. Es gibt einen ziemlich deutlichen Zusammenhang, dass dieser Mobilisierungsstil damit arbeitet, die soziale Frage zu emotionalisieren, statt rationale Strategien zu präsentieren. Dann ist schnell die Rede vom Untergang des deutschen Volkes, wie Herr Höcke sagt, oder auch Begriffe wie „Umvolkung“ oder „Bevölkerungsaustausch“ werden auf die Agenda gehoben. Somit werden Identitätsfragen in den Vordergrund gestellt.

Ist es immer noch zutreffend zu sagen, dass ein Teil der AfD-Wählerinnen und Wähler Protest artikulieren? Immerhin geben laut Infratest dimap 76 Prozent der Befragten an, die Partei aus Enttäuschung zu wählen und nicht aus Überzeugung.

Der Begriff „Protestwähler“ ist seit der Gründung der AfD eine ständige politische Beruhigungsformel, nichts anderes. Diese Beruhigungsstrategie, nach dem Motto: „Wenn wir einfach die Sprache der AfD übernehmen und die Renten ein wenig erhöhen, wird sich alles legen“, die von Anfang an verfolgt wird, halte ich nicht für stichhaltig. Dass die Menschen aus Enttäuschung gegenüber anderen politischen Parteien die AfD wählen, muss nicht unbedingt Protest heißen. Vielmehr läuft da ein Normalisierungsprozess. Den Leuten wird signalisiert, dass inzwischen jede Stimme für die AfD keine verlorene Stimme mehr ist.

Aber soll der Begriff der Protestwahl nicht eher darauf aufmerksam machen, dass die etablierten Parteien mangelhafte Arbeit leisten?

Das sollte unbestritten sein. Aber diese Beruhigungsformel, dieser Begriff, stammt aus den etablierten Parteien, in der Hoffnung, die Wähler würden schon zurückkommen. Nur passiert das nicht. Man muss endlich mal erkennen, dass die Einstufung der AfD als rechtsextremistische Partei nicht mehr abschreckt und gleichzeitig der „Autoritäre Nationalradikalismus“ mit dem Versprechen der Wiederherstellung von Kontrolle attraktiv ist. 

Also wäre es auch nicht verkürzt zu sagen, dass sich die anderen Parteien auf dem Irrglauben ausgeruht haben, ihre Wähler und Wählerinnen würden schon wieder zurückkehren? Das wäre ja arrogant von der Politik.

Die Parteien haben sich natürlich ausgeruht. Zum Teil hat es in der Vergangenheit ja den Eindruck gehabt, dass sich die AfD von innen zerlegt. Das ist aber vorbei und dadurch gewinnt die Partei an Zuspruch. Obwohl sie ja in keiner Weise inhaltliche Lösungskompetenz nachgewiesen hat.

Opposition und Regierung werfen sich gegenseitig vor, Schuld am AfD-Zulauf zu haben. 

Das sind sehr oberflächliche und hilflose Schuldverschiebungen in beide Richtungen. Aber die Positionierung der CDU hat einen Anteil. Die berühmte Brandmauer gegen rechts bröckelt von unten, also kommunal. Das sieht man auf Landesebene, wenn in der CDU Stimmen aufkommen, dass man das Soziale mit dem Nationalen versöhnen sollte. Hinzu kommen auch die zahlreichen Übereinstimmungen der CDU in Sachsen mit AfD-Positionen zu Russland. Das ist sehr viel schwerwiegender, als die Auseinandersetzung innerhalb der Ampel-Regierung, wobei dieses autoritäre Durchsetzen-Wollen des Heizungsgesetzes zum Beispiel schon seinen Beitrag geleistet haben kann.

Die Merz-CDU fährt einen konservativeren Kurs als die Merkel-CDU. Die These ist, dass die Partei der AfD mit einem Rechtsruck Stimmen abnehmen möchte. Geht diese Strategie wirklich auf?

Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Merz hat ja seine Uraltformel, dass er die AfD-Stimmen halbieren möchte, nicht mehr ausgesprochen. Die AfD hat inzwischen eine stabile Wählerschaft und ist keine Eintagsfliege. 

Nun sind die Konservativen das eine. Welche Rolle am Erfolg der AfD spielt denn eine moralisierende individualistische Identitätspolitik linksliberaler Milieus?

Identitätspolitiken sind immer problematisch. Das gilt teilweise auch links, weil Identitätspolitik immer Grenzen hart macht. Wer gehört dazu, wer nicht? Wer darf was sagen, wer sollte schweigen? Insofern muss man in der Tat dort, wo solche Identitätspolitiken von links aufgebaut werden, kritisch sein. 

Sind diese Identitätspolitiken also Teil von Kulturkämpfen, die von Klassenkämpfen ablenken?

Ja. Insofern sind wir da auch in einer gefährlichen Situation, weil Identitätspolitiken hoch emotionalisiert werden. Mit ihrem rabiaten Kommunikations- und Mobilisierungsstil hat die AfD diesen Kampfplatz prominent besetzt. Sie propagieren den Konflikt-Typus des „Entweder-Oder“.

Hat es die gesellschaftliche und vor allem parlamentarische Linke also verlernt, soziale Fragen adäquat zu thematisieren, indem sie sich durch Identitätspolitiken ablenken lässt?

Das kann man mit Sicherheit so sagen und das gilt nicht nur für die Linke. Wir haben es seit den 90er Jahren mit einer Entwicklung zu tun, in der sich ein autoritärer Kapitalismus entwickelt hat, der riesige Kontrollgewinne aufweist, ob nun bei Standortfragen, sozialen Standards oder Wohlfahrtsfragen. Im Gegenzug hat die nationalstaatliche Politik in diesen Feldern riesige Kontrollverluste erlitten. Die Politik verlor also die Kraft oder auch den Willen, die soziale Ungleichheit zu bekämpfen und das wird in der Bevölkerung natürlich wahrgenommen. Dem haben zurückliegende Regierungen und durchaus auch die parlamentarische Linke nichts entgegengesetzt. Schon vor der Gründung der AfD 2013 waren diese Muster vorhanden, die sich in einer „Demokratieentleerung“ gezeigt hat: Der Apparat funktioniert, das Vertrauen erodiert. 

Wenn man die AfD erfolgreich bekämpfen möchte, muss man also den Kapitalismus bekämpfen?

Man muss sich selbstverständlich dieser gesellschaftlichen Grundstruktur des Kapitalismus zuwenden. Wenn man die AfD bekämpfen will, müssten beispielsweise auch die Wirtschaftsverbände endlich mal ihre Stimme erheben, aber da existiert ja offensichtlich ein ziemlich kalkulatorisches Verhältnis. Es ist kaum zu fassen, dass sie ihre Stimme nicht erheben.

Aber ist das wirklich kaum zu fassen? Historisch stand die Industrie autoritären, nationalistischen, faschistischen Regimen doch in der Regel nahe.

Genau das ist ja das Problem. Die Wirtschaftseliten bestimmen ja an vielen Stellen die politische Richtung einer Gesellschaft. Es ist völlig unverständlich, dass dort nicht andere Stimmen zu hören sind.

Weil es am Ende für die Wirtschaftseliten keinen großen Unterschied macht, ob die AfD regiert oder eine große Koalition?

Naja, die Wirtschaft kann auf der einen Seite nicht um Fachkräfte werben und der AfD auf der anderen Seite ahnungslos begegnen, die dagegen vorgehen will. Wie soll dieser Widerspruch aufgelöst werden? Oder nehmen Eliten das gar nicht wahr? Das ist entweder Gedankenlosigkeit oder Kalkül. 

Warum schaffen es die etablierten Parteien nicht, die soziale Frage adäquat zu beantworten? Sind sie untätig?

Untätig sind sie nicht. Die Frage ist, warum die Bekämpfung der sozialen Ungleichheit sich nicht in den Vordergrund stellt. Das wird wohl daran liegen, dass die großen Versäumnisse der Parteien in der Vergangenheit zum Vorschein kommen würden.

Aber die Linkspartei könnte doch mit einem starken Fokus auf die soziale Frage aus der Krise kommen, statt wie Sahra Wagenknecht am rechten Rand zu fischen.

Die parlamentarische Linke hat den Zeitpunkt verpasst, vor allem jetzt, wo Frau Wagenknechts Links-Konservatismus die Runde macht. Also eine linke Wirtschaftspolitik mit konservativer Gesellschaftspolitik. Wenn so eine Wagenknecht-Partei zustande kommt, könnte das durchaus für AfD-Sympathisanten attraktiv sein.

Aber eine vermeintlich linke AfD kann ja auch nicht die Lösung sein. Welche Akteure müssen jetzt also was tun, um der AfD Luft aus den Segeln zu nehmen?

Ich kann auf jeden Fall sagen, dass der Schrei nach einem Parteienverbot, der an verschiedenen Stellen positioniert wird, nach hinten losgehen würde. Daneben haben wir unterschiedliche Felder. Wie die De-Industrialisierung am Horizont in verschiedenen Landstrichen, die für viele Menschen einen biografischen Umbruch bedeuten könnte. Aber was können wir unternehmen, mit Blick auf die Kulturkämpfe? Dafür habe ich derzeit keine Lösung. Neben dem ökonomischen ist nämlich wichtig, wie man mit der Identitätsfrage umgeht. Mit einer reinen Erhöhung der Renten sind die Anerkennungsverluste vor allem im Osten nicht aufzuheben, das geht sehr viel tiefer.

Wenn die Erhöhung der Renten nicht ausreicht, was dann?

Aus meiner Sicht muss die Politik die Menschen anders wahrnehmen und sicherstellen, dass ihre Stimmen gehört werden. Teile der Bevölkerung lassen es sich nicht mehr bieten, wenn sie sich von demokratischen Parteien nicht wahrgenommen fühlen. Dann suchen sie sich andere Sprachrohre. Da kommt der „Autoritäre Nationalradikalismus“ gerade recht.

„Wir haben es seit den 90er Jahren mit einer Entwicklung zu tun, in der sich ein autoritärer Kapitalismus entwickelt hat, der riesige Kontrollgewinne aufweist, ob nun bei Standortfragen, sozialen Standards oder Wohlfahrtsfragen“

„Identitätspolitiken sind immer problematisch. Das gilt teilweise auch links, weil Identitätspolitik immer Grenzen hart macht. Wer gehört dazu, wer nicht?“

Zur Person

Wilhelm Heitmeyer, 78, war Gründer und von 1996 bis 2013 Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld. Aktuell arbeitet er dort noch als Senior-Professor. 

Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen zu Rechtsextremismus, Menschenfeindlichkeit und sozialer Desintegration.

Quellenangabe: FR Deutschland vom 05.07.2023, Seite 22

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Allgemein/Politik/Geschichte Kunst Lübeck

Die Zerstörung der kulturellen Identität Lübecks



Mit den Bürgerschaftsbeschlüssen vom 20.3.2023 und vom 27.6.2023 und dem Beschluss des Hauptausschusses vom 10.8.2023 zum Buddenbrookhaus findet die kulturelle Identität der Stadt nach dem 2.Mai 1945 ein Ende. 

Lübeck gründete nach der Katastrophe des Bürgerlichen Zeitalters des 19.und 20. Jahrhunderts mit seinen weltweit rund 187 Millionen Toten (Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, München Wien 1995, S.26) seine geistige Identität maßgeblich auf  die Botschaft von Persönlichkeiten wie Hans Blumenberg, Willy Brandt, Arnold Brecht, Edmund Fülscher, Erich Klann, Erika Klann, Minna Klann, Hermann Lange, Julius Leber, Heinrich und Thomas Mann, Erich Mühsam, Eduard Müller, Werner Puchmüller, Johannes Prassek, Gustav Radbruch, Karl Friedrich Stellbrink, Fritz Solmitz.

Das Museumsprojekt Buddenbrookhaus, das die Bürgerschaft 2022 mehrheitlich beschlossen hatte, symbolisierte den zukunftsgerichteten Willen und das Bekenntnis der Stadt zum europäischen geistigen Neubeginn nach den vom Deutschen Reich und seiner Bürgergesellschaft verursachten Menschheitsverbrechen.

Dieses Bekenntnis zu einem Neubeginn war bisher über Partei-, Religions-, Klassen- und Vermögensgrenzen hinweg in Lübeck unstreitig. Kern des Denkens dieser Lübecker Widerständler und Widerständlerinnen war die von Hannah Arendt in ihrem 1951 erschienenen Buch „Die Ursprünge des Totalitarismus“ herausgearbeitete grundlegende Unterscheidung von wahr und falsch:

„Eine Mischung aus Leichtgläubigkeit und Zynismus ist in allen Rängen totalitärer Bewegungen verbreitet, und je höher der Rang, desto mehr wiegt der Zynismus die Leichtgläubigkeit auf“. Das heißt, bei denjenigen, die die Öffentlichkeit täuschen, ist der Zynismus stärker, bei denjenigen, die getäuscht werden, ist es die Leichtgläubigkeit, aber die beiden sind nicht so getrennt, wie es scheinen mag. 

Die Unterscheidung zwischen glaubhaft und unglaubwürdig, wahr und falsch ist für Menschen, die empörende und widerlegbare Ideen als Eintrittskarte in eine Gemeinschaft oder eine Identität ansehen, nicht relevant.  Ohne das Joch der Wahrhaftigkeit um den Hals können sie Überzeugungen wählen, die ihrem Weltbild schmeicheln oder ihre Aggression rechtfertigen. Ich betrachte dieses Abgleiten in die Fiktion manchmal als eine Art Amoklauf des Libertarismus – früher sagten wir: „Du hast ein Recht auf deine eigene Meinung, aber nicht auf deine eigenen Fakten.“ 

Wer die Bürgerschaftssitzungen vom 20.3. und 27.6.2023 und die Sitzung des Hauptausschusses vom 10.8.2023 verfolgt hat, bleibt sprachlos zurück. Die Folgen dieser dort offensichtlich gewordenen im falschen Mittelalter steckengebliebenen widerwärtigen und verlogenen Weltsicht der Bürgerschaftsmehrheit für die Identität der Stadt, deren Haushalt, die nationalen und internationalen Nutzer und Nutzerinnen und die Beschäftigten des Museumsprojektes sind heute absehbar: Es ist die Inkaufnahme der Zerstörung der kulturellen Identität des Gemeinwesens Lübeck der Nachkriegszeit.

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Allgemein/Politik/Geschichte

Das Dilemma der Grünen und die blockierte Republik

Blätter, AUSGABE JULI 2023

Das Dilemma der Grünen und die blockierte Republik

von Stefan Grönebaum Die Grünen als die – verhinderte – Reformpartei

„…Auch die Grünen teilten die Auffassung vieler, dass Deutschland „im Ganzen“ eigentlich gut aufgestellt und nur in der Energie- und Klimapolitik noch viel zu tun sei. Die weiter aufklaffende soziale Schere, die Vernachlässigung der Infrastruktur, der Bildung, der Mangel an Zukunftstechnologien – so sie nicht rein grün waren – all das beschwerte die meist jüngeren sozialen Aufsteiger:innen in ihrer städtisch-grünen Blase wenig. Parallel zu deren Aufstieg vollzog sich jener der Realos an der Grünenspitze: 

Ob Robert Habeck oder Annalena Baerbock oder in der Landesliga Tarek Al Wazir und Winfried Kretschmann – sie alle waren eher pragmatisch als links, glaubten an das langsame Hineinwachsen in die Regierungen und teilten die energiepolitische Überzeugung, dass man in dieser fossilen Gesellschaft Gas und Hybride als Übergangstechnologien brauche. Ausgearbeitete Reformkonzepte für alle Sektoren unserer Gesellschaft waren dagegen auch bei den Grünen Mangelware. 

Die scheinbar ewige GroKo ersparte es ihnen ja auch, auf Bundesebene durchgerechnete Alternativen vorzulegen, die die Problemgruppen differenziert berücksichtigten. Bereits nach dem Dürresommer 2018 ließ der Hype um die Europawahl 2019 viele Grüne glauben, sie würden mit ihren populären Spitzenkandidaten – angesichts der schwächelnden GroKo – quasi von selbst an die Spitze kommen. Faktisch waren sie jedoch überhaupt nicht vorbereitet auf die Ereignisse, geschweige denn auf eine „Machtübernahme“.

Das zeigte schon der Wahlkampf 2021: Erst stritten sich die Grünen um die Poleposition. Als diese dann im Frühjahr durch Baerbock für Baerbock entschieden war, erwies diese sich als praktisch und konzeptionell derart unvorbereitet, dass die Kanzlerkandidatur schon kurz danach „gelaufen“ war. Als im Juli die Ahrtalflut kam, setzten die Grünen nicht nach, präsentierten keine Klimasofortprogramme – die es nicht gab –, sondern hielten still, weil sie wohl zu Recht dachten, dass die wenig reformbereiten Wählerinnen und Wähler gerade nach dieser Katastrophe nicht überfordert werden dürften. 

Die Lücke zwischen gelähmten Grünen und einem denkbar schwachen Unionskandidaten nutzte Olaf Scholz nach dem Motto „Wenn zwei schwach sind, siegt am Ende der am wenigsten Schwache“. Und die erschöpften Grünen, die erst ganz am Ende des Wahlkampfs voller Angst plötzlich wieder die Klimakarte zogen, behielten nur knapp die Nase vorn vor einer FDP, die alte Besitzstandswahrer sowie junge Gegner von Regulierungen wie Tempolimit hinter sich versammelte.

Schon damals galt, was Springer-Chef Döpfner der „Bild“ ins Stammbuch schrieb: Wenn schon die Ampel drohte, sollte wenigstens die FDP gestärkt werden, um rot-grüne Inhalte zu verhindern, damit diese später mit „Jamaika“ endgültig erledigt werden könnten. Genau diese Agenda läuft jetzt en gros, mit freundlicher Assistenz der SPD, die ihre Klimakanzler-Plakate schnell wieder eingerollt hatte.

Von Beginn an zeigten sich die inhaltlich verkehrten Rollen der angeblichen Reformkoalition: Die vieles blockierende FDP galt als Gewinner des Koalitionsvertrags, die reformwilligen Grünen als Verlierer. Und die strukturkonservative SPD stellte sich alsbald auf die Seite der FDP. Für einen breit gefächerten Reformdiskurs eine denkbar ungünstige Voraussetzung. Zudem ergaben sich die Grünen willig dem progressiven Gesäusel der FDP – anstatt die Bürger oder wenigstens ihre Klientel der Umwelt- und Klimaschützer auf unvermeidliche Verteilungskonflikte einzustimmen, die bei ernsthafter Klimapolitik unweigerlich anstehen. 

Als sie öffentlich bei den „Verbrennern“ und deren fossiler Lobby auf Granit bissen, ließen sich die Grünen darauf ein, die Klimasektorziele aufzuweichen und die FDP damit aus ihrer Verantwortung für die CO2-Emissionen zu entlassen. Ohne Not opferten sie damit ihr Alleinstellungsmerkmal und erlaubten es so der Union, heuchlerisch als die Partei wahren Klimaschutzes aufzutreten. Hier zeigt sich: Letztlich fehlt es den Grünen an Konzepten, wie man auf eine derart brutale Verhinderungskampagne der fossilen Lobbys und reaktionären Kräfte antwortet. Sie suchten zu sehr die Nähe der Wirtschaft, um – was nötig gewesen wäre – zwischen Freunden und Gegnern eines Green Deal zu differenzieren. Denn spätestens seit den erhöhten Energiepreisen ist die Begeisterung vieler angeblich so progressiver Manager für grüne Klimapolitik verflogen.

Nun wäre es eigentlich aufzuzeigen gewesen, dass nur grüne Technologien der Wirtschaft ihre langfristige Wettbewerbsfähigkeit sichern können. Stattdessen musste der grüne Wirtschaftsminister mit Beginn des russischen Angriffskrieges die jahrzehntelangen Versäumnisse seiner Vorgänger ausbügeln, um die deutsche Energieversorgung zu sichern, dafür antichambrierte er im Wechsel zwischen Ölscheichs und Gaslieferanten.

Dabei hätte er die argumentative Kraft und Zeit auch dafür aufwenden müssen, die anstehende große Energiewende zu erklären. Stattdessen kamen noch handwerkliche Fehler dazu, die auch damit zu tun haben, dass die soziale Flankierung grüner Klimapolitik nie das Herzensprojekt der ökologischen Agenda-Strategen war. Auch deshalb haben die Grünen bis heute keine Antwort auf ihre Schwäche in ländlichen Räumen – da sie nicht den Mut aufbringen, dem Finanzminister die erforderlichen Milliarden für Programme abzufordern, die die Kluft zwischen Land und Stadt verringern könnten. 

Last but not least rächt es sich für die Grünen, dass die erneuerbaren Energien lange eine Nischentechnologie geblieben sind, die nur durch Subventionen gepusht wurden und um die sich ein kleines Expertennetzwerk gebildet hat, das lange unter Luftabschluss gedieh. Wer sich genau anschaut, wie ein Patrick Graichen als Referent von Rainer Baake – und der wiederum als Diener Jürgen Trittins – groß geworden ist, der erkennt, wie schmal auch bei den Grünen der Grat zwischen produktivem Netzwerken und familiär-freundschaftlichem Lobbyfilz inzwischen ist.

Es gilt, die unvermeidlichen Verteilungskämpfe auch auszutragen

Dies führt zum letzten und gravierendsten Problem. Dass die Grünen irgendwann mit ihren Plänen für den beschleunigten Ausbau der Erneuerbaren mit den Natur- und Umweltschützern aneinandergeraten mussten, war eigentlich klar. Doch die Grünen haben durch ihre real-pragmatische Brille nicht gesehen, dass sie neben bürgerlichen Wechselwählern auch ihre ureigene Klientel bedienen müssen. Heute, da die Wechselwähler massenhaft von der Fahne gehen, sind viele Umweltschützer – zu Recht – enttäuscht.

Das ist das Dilemma der Grünen: Sie sind inzwischen bis zur Handlungsunfähigkeit eingeklemmt – zwischen den „Partnern“ SPD und FDP, die mit echter Klimapolitik nie viel am Hut hatten, einer Opposition aus Union, AfD und „Bild“, die immer neue Wutwellen gegen die Grünen rollen lässt, und ihrer Kernklientel, die sich von den Grünen verraten und verkauft fühlt. Dabei haben sie selbst kein Konzept, wie dieser Zwickmühle zu entkommen wäre, und können im laufenden Geschäftsgang nur verlieren.

Deshalb sehen heute viele Experten die Grünen als politisch verbrannt an. Damit aber, so die fatale Folge, fallen auch die Aktien für eine echte Energiewende. Deutschland und sein politisches System scheinen in einer Politikfalle zu stecken: nicht, weil man wie in Frankreich zu sehr auf den Staat setzt, sondern weil man den Staat erst hat ausbluten lassen und ihm nun nicht mehr zutraut, Auswege aus der historischen Krise zu finden.

Die Grünen sind damit in ihrer derzeitigen desolaten Lage nur der Ausdruck einer Gesellschaft, die sich in ihren ökonomischen und politischen Strukturen heillos verhakt hat. Der Missmut bei den sogenannten kleinen Leuten, die nun für die Folgeschäden und -kosten der jahrzehntelangen Versäumnisse aufkommen sollen, ist vorprogrammiert – und damit wohl auch das Scheitern der politischen Eliten wie der weitere Aufstieg der Populisten.

Sollte die Ampelregierung daher doch noch einen zweiten Anlauf nehmen (wollen), braucht es dafür endlich glaubhafte Reformer, die radikale, aber realistische, das heißt umsetzbare, und wenigstens halbwegs gerechte und nachhaltige Reformkonzepte entschlossen vertreten.

Die Unionsposition, man könne mit Belastungen noch ein paar Jahre warten, ist hingegen schlichter Unfug – ökologisch wie ökonomisch. Die deutsche Wirtschaft hat schon einmal enorm an Wettbewerbsfähigkeit verloren, weil sie ihre Vorreiterposition bei der Energiewende – dank Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) – in den Merkel-Scholz-Jahren gegen billiges Gas aus Russland verschleuderte. Zehntausende modernster Jobs wanderten deshalb nach Asien und die USA ab. Seither hat sich die ökologische Situation um ein Vielfaches verschärft. Unsere Lage gebietet daher rasches Handeln. Ansonsten ist die – wohl leider realistischere – Alternative eine auf Jahre gesellschaftlich und politisch blockierte Republik.“

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Das Grundgesetz neutralisieren