„Den Kitas hier­zu­lan­de geht es de­sas­trös“

Freitag, 18. August 2023, FR Deutschland / Wirtschaft

von Ta­ges­stät­ten, feh­len­dem Per­so­nal und un­ver­sorg­ten Kin­dern

Über Jahr­zehn­te hat die Bre­mer Kita-Ex­per­tin Ilse Wehr­mann in der Früh­päd­ago­gik ge­ar­bei­tet. Doch nie sei die Si­tua­ti­on in die­sem Ar­beits­be­reich so schwie­rig ge­we­sen wie jetzt, sagt die 73-jäh­ri­ge.

Frau Wehr­mann, wie geht es den Kitas in Deutsch­land?

De­sas­trös. Es feh­len jede Menge Fach­kräf­te, es feh­len jede Menge Plät­ze. Was ich be­an­stan­de: Das ist kein Über­ra­schungs­ef­fekt. Den Rechts­an­spruch auf einen Kin­der­gar­ten­platz gibt es seit 1996 und seit 2013 den Rechts­an­spruch für Kin­der unter drei Jah­ren. Wir schrei­ben Rechts­an­sprü­che auf und rea­li­sie­ren sie aber nicht, da pas­siert im Grun­de an jedem Tag ein neuer Rechts­bruch. In Bre­men feh­len 5000 Ki­ta­plät­ze, in Mün­chen sind es auch Tau­sen­de. In Bie­le­feld sind El­tern ver­zwei­felt, weil Be­treu­ungs­zei­ten re­du­ziert wur­den wegen feh­len­der Fach­kräf­te. In an­de­ren Städ­ten sieht es ähn­lich aus. In 50 Jah­ren Pra­xis habe ich eine so schwie­ri­ge Si­tua­ti­on noch nicht er­lebt.

Was heißt das für Be­schäf­tig­te, Kin­der und El­tern?

Den Mit­ar­bei­ten­den geht es damit sehr schlecht. Ich be­ob­ach­te viele Krank­mel­dun­gen, Burn-out, Be­schäf­tig­te, die ganz aus­stei­gen. Die El­tern, die in ihren Jobs ja auch unter Druck ste­hen, er­le­ben keine Ver­läss­lich­keit mehr in der Kin­der­be­treu­ung. Die Kin­der wer­den in die­sem Span­nungs­feld auf­ge­rie­ben – zwi­schen der Krise in den Ein­rich­tun­gen und dem Druck, der auf den El­tern las­tet.

Sie schrei­ben im Titel Ihrer Streit­schrift vom Kita-Kol­laps. Haben wir ihn schon?

Ja, wir haben den Kol­laps schon. Und was die Grün­de an­geht: Ich glau­be, wir sind den Kin­dern ge­gen­über gleich­gül­tig ge­wor­den. Wir ver­wal­ten Kin­der nur noch, wir lie­ben sie nicht mehr. Ver­wal­tung und Po­li­tik müss­ten wir die Liebe zu Kin­dern in­tra­ve­nös sprit­zen. Am meis­ten är­gert mich die Lang­sam­keit beim Kita-Aus­bau, wir kom­men mit Ent­schei­dun­gen nicht von der Stel­le. Es hat sich von Jahr zu Jahr ver­schlech­tert, was die Bau­ge­neh­mi­gun­gen be­trifft. Und ich merke: Es ist gar kein Lei­dens­druck da. Aber wenn wir uns nicht be­we­gen mit Ge­neh­mi­gun­gen, haben viele Kin­der keine Chan­ce auf Bil­dung.

Haben Sie Bei­spie­le?

Da gibt es eine Ver­ord­nungs­ver­liebt­heit. Manch­mal schei­tern Be­wil­li­gun­gen an we­ni­gen Qua­drat­me­tern, die in den Grup­pen­räu­men feh­len. Wir sind ver­liebt in Si­cher­heits­auf­la­gen, die fest­le­gen, ob alle Steck­do­sen den rich­ti­gen Ab­stand haben oder ob die Gar­de­ro­ben breit genug oder die Toi­let­ten­wän­de hoch genug sind. Das Wohl des Kin­des ist aber nir­gend­wo mehr ge­fähr­det, als wenn wir sie ohne einen Be­treu­ungs­platz las­sen.

Aber selbst wenn es ge­nü­gend Räume geben würde: Die Fach­kräf­te, die am Ende für einen schnel­le­ren Kita-Aus­bau nötig sind, kann sich ja nie­mand ba­cken.

Das stimmt, aber trotz­dem lässt sich vie­les ma­chen. Kon­tra­pro­duk­tiv sind da je­den­falls Pläne wie im Bre­mer Ko­ali­ti­ons­ver­trag, die Zahl der be­treu­ten Kin­der in einer Grup­pe aus­zu­wei­ten und mit we­ni­ger aus­ge­bil­de­tem Per­so­nal zu ar­bei­ten. Was ist das für ein Si­gnal? Das drückt doch keine Wert­schät­zung aus. Wir brau­chen mul­ti­pro­fes­sio­nel­le Teams, auch gute Hand­wer­ker, die für Werk­statt­pro­jek­te in Ein­rich­tun­gen ein­ge­setzt wer­den kön­nen. Na­tür­lich geht es auch darum, die Aus­bil­dung wei­ter aus­zu­bau­en. Be­rufs­be­glei­tend kann man dann mit den Leu­ten gleich in den Kitas star­ten. Auch Stu­die­ren­de in den letz­ten Se­mes­tern ihres Stu­di­ums und Men­schen, die aus Län­dern wie Bra­si­li­en, Spa­ni­en oder der Ukrai­ne kom­men und deren Ab­schlüs­se wir zügig an­er­ken­nen, kön­nen die Kita-Teams ver­stär­ken. Au­ßer­dem: Wir haben in Deutsch­land 90 Stu­di­en­gän­ge zur Früh­päd­ago­gik. Aber die Ab­sol­ven­ten dür­fen zum Teil nicht in den Ein­rich­tun­gen ar­bei­ten, müs­sen sich nach­qua­li­fi­zie­ren. Das ist ein­fach alles viel zu bü­ro­kra­tisch, das hat doch nichts mit ge­sun­dem Men­schen­ver­stand zu tun. Das sind Bei­spie­le, die meine Haupt­bot­schaft un­ter­stüt­zen: Wir neh­men Kin­der nicht wirk­lich ernst und wich­tig.

Wel­che Stell­schrau­ben sehen Sie noch, um die Si­tua­ti­on zu ver­bes­sern?

Wir brau­chen einen na­tio­na­len Bil­dungs­gip­fel, ganz kurz­fris­tig, in die­sem Herbst. Dazu muss der Bun­des­kanz­ler ein­la­den. Mit En­er­gie­gip­feln krie­gen wir das ja auch hin. Die glei­che Summe, die wir jetzt für Rüs­tung aus­ge­ben, brau­chen wir auch für die Bil­dung. Und den Drive, den Deutsch­land beim Aus­bau der LNG-In­fra­struk­tur hin­ge­legt hat, den wün­sche ich mir für die ge­sam­te Bil­dung, nicht nur für die frühe Bil­dung. Da sind Sach­ver­stand und Lei­den­schaft ge­for­dert. Zen­tral ist für die Kitas vor allem mehr Fle­xi­bi­li­tät und Schnel­lig­keit in der Be­reit­stel­lung von Räu­men. Wenn ich durch die Städ­te gehe und sehe, wie viele freie Räume wir haben, über­all: Da könn­ten wir mor­gen an­fan­gen, mit Kin­dern zu ar­bei­ten. Alles ist bes­ser, als die Kin­der un­ver­sorgt auf der Stra­ße ste­hen­zu­las­sen. Wir brau­chen kurze Wege und schnel­le Ent­schei­dun­gen in den Bau­be­hör­den und auch res­sort­über­grei­fend.

Um den Kita-All­tag für Be­schäf­tig­te und Kin­der zu ver­bes­sern, was ist au­ßer­dem nötig?

Das kön­nen wir nicht in Grup­pen mit 23 Kin­dern ma­chen. Dafür brau­chen wir klei­ne­re Grup­pen. Bei Krip­pen soll­ten es nicht mehr als acht Kin­der sein, bei den äl­te­ren 15, ma­xi­mal 18. Das würde ja auch gleich­zei­tig die Ar­beits­be­din­gun­gen der Be­schäf­tig­ten ver­bes­sern. Dann haben wir auch nicht mehr so eine Ab­wan­de­rungs­wel­le. Mein Ap­pell: Es geht um mehr Ach­tung und Wert­schät­zung – den Kin­dern ge­gen­über, aber auch den Be­schäf­tig­ten ge­gen­über. Ich bin über­zeugt, wir wür­den das hin­krie­gen. Wenn wir wol­len.

Gibt es denn jetzt schon eine Kita, die Ihren Vor­stel­lun­gen ent­spricht?

Die gibt es, an meh­re­ren Stel­len in Deutsch­land. Zu mei­nen Traum-Kitas ge­hört die kom­mu­na­le Ein­rich­tung Heide-Süd in Halle/Saale, die in die­sem Jahr unter an­de­rem für ihr of­fe­nes Kon­zept den Deut­schen Kita-Preis be­kom­men hat. Kin­der und El­tern kön­nen dort den All­tag mit­ge­stal­ten, ihre Wün­sche ste­hen über ge­plan­ten Ab­läu­fen. Es gibt Hand­werks­ta­ge, Pro­jekt­wo­chen und mehr­tä­gi­ge Aus­flü­ge, ein­fach viele Ge­le­gen­hei­ten für neue Aben­teu­er. Da ist jeder Tag span­nend. Wer jetzt denkt, dass es dort keine Re­geln gibt, irrt sich. Das alles funk­tio­niert nur mit einer Struk­tur. Einer Struk­tur, die Frei­räu­me er­öff­net.

In­ter­view: Die­ter Sell, epd

Zur Per­son

Ilse Wehr­mann, 73, ist Di­plom- So­zi­al­päd­ago­gin. Sie gilt als eine der wich­tigs­ten Ex­per­tin­nen der früh­kind­li­chen Bil­dung und hat viel Er­fah­rung im deut­schen Kita-Sys­tem. Im Frei­bur­ger Her­der-Ver­lag hat sie eine Streit­schrift vor­ge­legt unter dem Titel „Der Kita-Kol­laps – Warum Deutsch­land end­lich auf frühe Bil­dung set­zen muss!“. epd/Bild: epd

Vgl.dazu auch: https://www.blaetter.de/ausgabe/2023/august/kita-krise-kollaps