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Der andere Blick auf den Krieg: Ein Schnäppchen namens Ukraine

Lübeck 1942 / heute

Würde ich in einer der Planungsgruppen für geostrategische Planung sitzen, die die überschaubaren nächsten 10 Jahre konstruieren, wäre die Zukunftsaufgabe für die Ukraine aus der nüchternen Sicht des westlichen Kapitals einfach zu beschreiben. Es geht dabei nicht um Werte und Moral.

Der Wiederaufbau des zerstörten Landes wird ein gewaltiges und profitables Billionen-Kapitalgewinnspiel des Westens. Es geht also um wirtschaftliche Interessen. Sonst nichts. Geostrategisch sicherte nur ein erfolgreicher Krieg die Vormachtstellung des westlichen Kapitals in den nächsten 25-30 Jahren. Die Zeitspanne 2025-2050. Es gibt im Westen nur Gewinner. Die Verzögerung der Lieferung schwerer Waffen ist aus dieser Perspektive ein schwerer und teurer Fehler. Sie widerspricht offensichtlich dem geostrategischen Interesse des Westens.

Als Beispiel für den Wiederaufbau mögen entweder die BRD 1945 oder der Wiederaufbau der DDR herhalten.

1. Ausgangslage: In zwei bis fünf Jahren wird die Infrastruktur und ein großer Teil der Städte in der Ukraine überwiegend zerstört sein. Die sofortige militärische Ausrüstung durch den Westens mit schweren Waffen und Flugabwehrsystemen verhindert die völlige Zerstörung durch die Russische Föderation.

2. Der überwiegende Teil der Bevölkerung von ursprünglich rd. 42 Millionen wird das Kriegsende überleben. Ca 100.000 – 200.000 Menschen sind voraussichtlich Kriegsopfer. Die Ausbildungsqualität der ukrainischen Bevölkerung bleibt auf hohem westlichem Niveau. Die Geflüchteten (5-6 Millionen) kehren zurück. 

3. Ein Vergleich mit dem Nachkriegszustand in der BRD ergibt Folgendes: Entscheidend für den Wiederaufbau waren 1945

a) der gute Ausbildungsstand der Bevölkerung, 

b) die vorhandenen intakten Organisationsketten der Verbände, Vereine, Parteien, Firmen.

Der rasche Wiederaufbau der BRD („Wirtschaftswunder“ 1948-1973) gelang wegen der während der Nazizeit und den zwei Weltkriegen hochkonzentrierten und nach Kriegsende noch intakten staatlichen und gesellschaftlichen Struktur. Der Zerstörungsgrad der räumlichen Infrastruktur spielte angesichts des Aufbauprojektes und der damit verbundenen Erwartung einer Modernisierung des gesamten Landes und des damit zu erreichenden internationalen Wettbewerbsvorteils eine untergeordnete Rolle. Die Verwertungsbedingungen des Kapitals wurden langfristig verbessert. Es geht in der Ukraine nicht allein um Zement und Stahl, sondern um das Katapultieren des Landes in das Industriezeitalter 4.0.

4. Die Finanzierung: Die Finanzierung ist angesichts der Billionen freien Kapitals, das nach rentablen (langfristig gesicherten) Verwertungszwecken sucht, bei entsprechendem Angebot kein Problem. Die Hebelwirkung des zu beteiligenden privaten Kapitals bei der Bildung eines internationalen „Ukraine-Reconstruction-Fond“ ist ein erprobtes Finanzierungsinstrument. Es besteht große Nachfrage nach einer langfristigen sicheren Anlagenverzinsung von rd. 3% -4%.

5. Die Organisation des Aufbaus wird sichergestellt von bereitstehenden leistungsfähigen internationalen Bauträgern in einer International anerkannten Rechtsform (GmbH, AG o.ä.) Förderlich wäre die Zusammenarbeit mit örtlichen Kräften.

6.  Die Interessen der Kapitalgeber: Erschließung eines Landes mit enormem Zukunftspotential: 604.000 km², bedeutende Bodenschätze, Landwirtschaftliche Nutzflächen (Kornkammer), dem Zugang zum Schwarzen Meer und ein gut ausgebildetes Humankapital. Oben drauf der politische Gewinn für die Pax Americana:

„[…] weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Rußlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Rußland kein eurasisches Reich mehr. […] Wenn Moskau allerdings die Herrschaft über die Ukraine mit ihren 52 Millionen Menschen, bedeutenden Bodenschätzen und dem Zugang zum Schwarzen Meer wiedergewinnen sollte, erlangte Rußland automatisch die Mittel, ein mächtiges Europa und Asien umspannendes Reich zu werden. Verlöre die Ukraine ihre Unabhängigkeit, so hätte das unmittelbare Folgen für Mitteleuropa und würde Polen zu einem geopolitischen Angelpunkt an der Ostgrenze eines vereinten Europas werden lassen.“ Zbigniew Brzezinski: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft.“ Zitiert nach  https://de.m.wikipedia.org/wiki/Ukraine, abgerufen 12.1.2023)

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Stoppt Selenskyjs Förderung des ukrainischen Faschismus

https://youtu.be/O9F4I0ZbqAg
Nikolai Platoschkin

Stepan Bandera (*01.01.1909 in Staryj Uhrynim, Galizien – †15.10.1959 in München) war ein ukrainisch-nationalistischer Politiker und Anführer der OUN (Organisation Ukrainischer Nationalisten). Bandera ist eine sehr umstrittene historische Figur, die bis heute polarisiert. In Polen, Russland und Israel gilt er als Nazi-Kollaborateur und Kriegsverbrecher. In der Ukraine hingegen, vor allem in der Westukraine, wird er als Unabhängigkeits- und Freiheitskämpfer gefeiert und zum Nationalhelden erhoben.

Das Denkmal wurde 2007 fertig gestellt und befindet sich auf dem Kropyvnyts’koho Platz. Die Statue ist insgesamt sieben Meter hoch und zeigt Stepan Bandera in voller Größe. Die Figur ist vier Meter groß und steht auf einem drei Meter hohen Sockel. Hinter der Statue rangt der sogenannte Triumphbogen 30 Meter in die Höhe. Dieser steht auf vier Säulen. Jede Säule symbolisiert eine Epoche der ukrainischen Geschichte. Die erste Säule steht für die Fürstenzeit, die Zweite für die Zeit der Kosaken, die dritte für die Periode der ukrainischen Volksrepublik und der westukrainischen Volksrepublik, und schließlich die vierte für die Moderne und die unabhängige Ukraine.

Ab dem Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine und bis in das Jahr 2014 wurden 46 Denkmäler und 14 Gedenktafeln zu Ehren von Stepan Bandera errichtet. Es entstanden nach und nach immer mehr Denkmäler, wobei gewisse Hochphasen erkennbar sind. Die erste Hochphase war kurz nach der Unabhängigkeitserklärung, Anfang der 1990er Jahre, die zweite im Zeitraum von 2005-2010, als von staatlicher Seite die OUN/UPA als Unabhängigkeitskämpfer anerkannt worden waren und schließlich 2011 und 2012, was eventuell als Protest gegen das prorussische Janukowitsch-Regime betrachtet werden kann.  

https://www.uni-augsburg.de/de/fakultaet/philhist/professuren/kunst-und-kulturgeschichte/europaische-ethnologie-volkskunde/exkursionen/ukraine-lemberg-czernowitz/stepan-bandera-denkmal/

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Allgemein/Politik/Geschichte

Sind Kriege künftig unausweichlich? 

Syrien

 Russlands Angriff auf die Ukraine zeigt: Wenn wir Frieden als selbstverständlich ansehen, werden wir ihn verlieren.

Von Yuval Noah Harari

Spiegel, Nr.2 7.1.2 023, S.74

Vor einigen Jahren schrieb ich in mei­nem Buch »21 Lektionen für das 21. Jahrhundert« auch über die Kriege der Zukunft. Ich vertrat die Ansicht, dass die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts die friedlichste Ära in der Geschichte der Menschheit gewesen seien und dass das Führen von Kriegen wirtschaftlich und geopolitisch sinnlos geworden sei. Diese Tatsachen böten jedoch keine Garantie für ewigen Frieden, schließlich sei die menschliche Dummheit eine der wichtigs­ ten Kräfte in der Geschichte. Ich schrieb: »Selbst rationale Führer begehen am Ende oft sehr große Dummheiten.«

Gleichwohl war ich schockiert, als Wla­dimir Putin im Februar 2022 den Versuch startete, die Ukraine zu erobern. Die zu erwartenden Folgen, für Russland selbst wie für die gesamte Menschheit, waren so zerstörerisch, dass es selbst für einen kaltherzigen Größenwahnsinnigen ein unwahrscheinlicher Schritt zu sein schien. Dennoch entschied sich der Autokrat, die friedlichste Ära der Geschichte zu beenden und die Menschheit in eine neue Ära des Krieges zu stürzen, die schlimmer sein könnte als alles, was wir bisher erlebt ha­ ben. Sie könnte sogar das Ende unserer Spezies bedeuten.

Dies ist eine Tragödie, zumal die vergan­genen Jahrzehnte gezeigt haben, dass Krieg keine unvermeidliche Naturgewalt ist. Er basiert auf menschlichen Entscheidungen. Seit 1945 gab es keinen direkten Krieg zwi­schen Großmächten mehr und auch keinen Fall, in dem ein international anerkannter Staat durch eine ausländische Eroberung ausgelöscht wurde. Relativ häufig kam es zu begrenzten regionalen und lokalen Konflik­ te; ich lebe in Israel, daher kann ich das gut beurteilen. Doch ungeachtet der israelischen Besetzung des Westjordanlands haben Län­der selten versucht, ihre Grenzen einseitig mit Gewalt zu verschieben.

Das ist der Grund, warum die israelische Besatzung so viel Aufmerksamkeit und Kritik auf sich zieht. Was in Tausenden Jahren imperialer Geschichte normal war, sorgt heutzutage für Empörung. Selbst wenn man Bürgerkriege, Aufstände und Terrorismus berücksichtigt, sind in den letzten Jahrzehnten durch Kriege weitaus weniger Menschen ums Leben gekommen als durch Selbstmord, Verkehrsunfälle oder fettleibigkeitsbedingte Krankheiten.

Doch der Frieden ist nicht nur eine Frage der Zahlen. Die vielleicht wichtigste Ver­änderung der vergangenen Jahrzehnte war psychologischer Natur. Jahrtausendelang bedeutete Frieden »die vorübergehende Abwesenheit von Krieg«. Beispielsweise lagen zwischen den drei Punischen Kriegen, die Rom und Karthago führten, Jahrzehnte des Friedens. Aber alle Römer und Kartha­ger wussten, dass dieser Punische Friede jeden Moment zerbrechen konnte. Politik, Wirtschaft, Kultur waren in ständiger Er­wartung eines Krieges.

Im späten 20. und im frühen 21. Jahr­hundert änderte sich die Bedeutung des Wortes Frieden. Aus dem alten Frieden als »die vorübergehende Abwesenheit von Krieg« wurde der neue Frieden als »die Unwahrscheinlichkeit von Krieg«. In vielen, wenn auch nicht allen Regionen der Welt hatten Staaten keine Angst mehr davor, ihr Nachbar könnte einmarschieren und sie auslöschen.

Woran können wir erkennen, dass sich die Länder über diese Dinge keine Gedan­ken gemacht haben? Indem wir uns ihre Staatshaushalte ansehen. Bis vor Kurzem war das Militär der erwartbar größte Posten im Haushalt eines jeden Empire, Sultanats, Königreichs und einer jeden Republik. Die Regierungen gaben nur wenig für das Ge­sundheits­- und Bildungswesen aus, da die meisten Mittel in die Bezahlung von Solda­ten, den Bau von Mauern und Kriegsschif­fen flossen. 

Das Römische Reich gab etwa 50 bis 75 Prozent seines Haushalts für das Militär aus, im Reich der Song­-Dynastie (960 bis 1279) waren es etwa 80 Prozent und im Osmanischen Reich des späten 17. Jahrhunderts rund 60 Prozent. Von 1685 bis 1813 fiel der Anteil des Militärs an den britischen Staatsausgaben nie unter 55 Pro­ zent und lag im Durchschnitt bei 75 Prozent.

Während der großen Konflikte des 20. Jahrhunderts verschuldeten sich Demo­kratien und totalitäre Regime gleichermaßen, um ihr Militär zu finanzieren. Wenn man befürchten muss, dass die Nachbarn jeden Moment einmarschieren, Städte plündern, Leute versklaven und das Land annektieren könnten, ist es auch das Vernünftigste, was man tun kann.

Russische Soldaten plünderten die ukrai­nische Stadt Cherson und schickten Last­wagen voller Diebesgut, das sie aus ukraini­ schen Häusern gestohlen hatten, nach Russ­land. Das wird Russland nicht reich machen. Und es wird die Russen nicht für die enor­men Kosten des Krieges entschädigen. Aber wie Putins Einmarsch in die Ukraine zeigt, reichten technologische und wirtschaftliche Veränderungen allein doch nicht aus, um den neuen Frieden zu schaffen. Manche Staatsoberhäupter sind so machthungrig und unverantwortlich, dass sie einen Krieg beginnen, selbst wenn er für ihr Land wirt­ schaftlich ruinös ist und die Menschheit in ein nukleares Armageddon treiben könnte.

Die dritte wesentliche Säule des neuen Friedens ist daher kultureller und institutio­neller Natur.Menschliche Gesellschaften wurden lange Zeit von militaristischen Kulturen beherrscht, die den Krieg als unvermeidlich und sogar als wünschens­wert ansahen. Aristokraten sowohl in Rom als auch in Karthago glaubten, dass militä­rischer Ruhm die Krönung des Lebens und der ideale Weg zu Macht und Reichtum sei. Künstler wie Vergil und Horaz stimmten dem zu und widmeten ihre Talente dem Lobgesang auf Waffen und Krieger, der Verherrlichung blutiger Schlachten und der Verewigung brutaler Eroberer.

In der Ära des neuen Friedens nutzten die Künstler ihre Talente, um die Schrecken des Krieges zu zeigen, während die Politiker sich mit Reformen im Gesundheitswesen zu verewigen suchten, anstatt fremde Städte zu plündern. Führende Politiker aus der ganzen Welt schlossen sich zusammen, um eine Weltordnung zu schaffen, die es den Ländern ermöglichte, sich friedlich zu entwickeln und zugleich die gelegentlichen Kriegstreiber zu zügeln. 

Diese Weltordnung basierte auf den liberalen Idealen, nach denen alle Menschen die gleichen Grundrechte haben, keine menschliche Gruppe von Natur aus anderen überlegen ist und alle Menschen gemein­same Erfahrungen, Werte und Interessen teilen. Diese Ideale ermutigten die Staats- ­ und Regierungschefs, Kriege zu vermeiden.

Die liberale Weltordnung verband den Glauben an universelle Werte mit dem friedlichen Funktionieren der globalen Institutionen. Obwohl diese globale Ordnung alles andere als perfekt ist, hat sie das Leben der Menschen nicht nur in den alten imperialen Zentren wie Großbritannien und den Vereinigten Staaten verbessert, sondern auch in vielen anderen Teilen der Welt. Überall haben Staaten von der Zunahme des globalen Handels und der Investitionen profitiert, fast alle Länder kamen in den Genuss einer Friedensdividende. 

Nicht nur Dänemark und Kanada konnten Ressourcen von Panzern auf Lehrer umschichten. Auch Nigeria und Indonesien waren dazu in der Lage. Jeder, der über die Mängel der liberalen Weltordnung schimpft, sollte zunächst eine einfache Frage beant- worten: Können Sie ein Jahrzehnt nennen, in dem es der Menschheit besser ging als in den 2010er-Jah-ren? Welches Jahrzehnt wäre stattdessen Ihr goldenes Zeitalter?

Etwa die 1910er-Jahre mit dem Ersten Weltkrieg, der bolschewistischen Revolution, Rassismus und europäischen Imperien, die große Teile Afrikas und Asiens brutal ausbeuteten? Sind es vielleicht die 1810er-Jahre, als die Napoleonischen Kriege ihren blutigen Höhepunkt erreichten, russische und chinesische Bauern von ihren aristokratischen Herren unterdrückt wurden, die East India Company sich die Kontrolle über Indien sicherte und die Sklaverei in den Vereinigten Staaten, Brasilien und den meisten anderen Teilen der Welt immer noch legal war? Oder träumen Sie vielleicht von den 1710er-Jahren mit dem Spanischen Erbfolgekrieg, dem Großen Nordischen Krieg im Ostseeraum, den Mogulnachfolge- kriegen und den zahlreichen Kindern, die an Unterernährung und Krankheiten starben, bevor sie das Erwachsenenalter erreichten?

Der neue Frieden ist nicht das Ergebnis eines göttlichen Wunders.Er wurde erreicht, weil Menschen eine funktionierende globale Ordnung aufbauten. Leider haben zu viele diese Errungenschaft für selbstverständlich gehalten. Vielleicht gingen sie davon aus, dass der neue Frieden hauptsächlich durch technologische und wirtschaftliche Kräfte garantiert würde und auch ohne seine dritte Säule – die liberale Weltordnung – überleben könnte. 

Folglich wurde diese Ordnung zunächst vernachlässigt und dann mit zunehmender Heftigkeit angegriffen. allein waren nicht stark genug, um den neuen Frieden zu beenden. Was die globale Ord- nung wirklich untergrub, war, dass sowohl die Länder, die am meisten von ihr profitierten (darunter China, Indien, Brasilien, Polen), als auch die Länder, die sie überhaupt erst aufgebaut hatten (vor allem Großbritannien und die USA), ihr den Rücken kehrten. 

Das Brexitvotum und die Wahl Donald Trumps im Jahr 2016 symbolisierten die Wende. Diejenigen, die die globale liberale Ordnung infrage stellten, wollten meist keinen Krieg. Sie wollten durchsetzen, was sie als Interessen ihres Landes verstanden, und sie argumentierten, dass jeder Nationalstaat seine eigene heilige Identität und Traditionen verteidigen und entwickeln solle. Was sie nie erklärten, war, wie all diese Nationen ohne universelle Werte und globale Institutionen miteinander umgehen würden. Die Gegner der globalen Ordnung boten keine Alternative an. 

Sie glaubten, dass die verschiedenen Nationen sich irgendwie arrangieren könnten und die Welt zu einer Ansammlung ummauerter, aber einander freundlich gesinnter Festungen werden würde. Festungen sind jedoch selten freundlich. Jede nationale Burg will in der Regel etwas mehr Land, Sicherheit und Wohlstand für sich selbst – auf Kosten der Nachbarn. 

Ohne universelle Werte und globale Institutionen können sich rivalisierende Festungen kaum auf gemeinsame Regeln einigen. Das Modell der Festungen war ein Rezept für eine Katastrophe. Und die Katastrophe ließ nicht lange auf sich warten. Die Coronapandemie zeigte, dass sich die Menschheit ohne eine wirksame globale Zusammenarbeit nicht gegen gemeinsame Bedrohungen wie Viren schützen kann. Vielleicht hat Putin beobachtet, wie Covid die globale Solidarität weiter aushöhlte, möglicher­ weise kam er so zu dem Schluss, dass er der liberalen Ordnung den Todesstoß geben könnte, indem er das größte Tabu der Ära des neuen Friedens bricht. Putin mag sich gedacht haben, dass einige Länder zwar aufschreien und ihn kritisieren würden, wenn er die Ukraine erobern und sie Russ­ land einverleiben würde, er aber nicht mit wirksamer Gegenwehr rechnen müsse.

Die Behauptung, Putin sei gezwungener­maßen in die Ukraine eingedrungen, um einem westlichen Angriff zuvorzukommen, ist unsinnige Propaganda. Eine vage west­liche Bedrohung ist kein legitimer Vorwand, um ein anderes Land zu zerstören, dessen Städte zu plündern, dessen Bürger zu ver­ gewaltigen und zu foltern und zig Millionen Männern, Frauen und Kindern unsägliches Leid zuzufügen. Jeder, der glaubt, dass Putin keine andere Wahl hatte, möge bitte das Land nennen, das eine Invasion in Russland im Jahr 2022 vorbereitet haben soll.

Die deutsche Armee etwa? Und vergessen Sie nicht, dass Putin bereits 2014 in die Ukraine einmarschiert ist – nicht erst 2022. Putin hat seine Invasion lange Zeit vor­-bereitet. Er hat den Zerfall der Sowjetunion nie akzeptiert, und er hat die Ukraine, Georgien oder eine der anderen postsowje­ tischen Staaten nie als legitime unabhän­ gige Nationen angesehen. Während, wie erwähnt, die durchschnittlichen Militäraus­ gaben weltweit etwa 2,2 Prozent und in den Vereinigten Staaten 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen, sind sie in Russland weitaus höher. Wie hoch genau, ist ein Staatsgeheimnis. In interna­ tionalen Statistiken liegen sie bei 4,1 Pro­ zent. Schätzungen gehen davon aus, dass der Anteil aber auch bei einem Vielfachen liegen könnte.

Sollte Putin den Krieg gewinnen, wäre es der Zusammenbruch der globalen Ordnung und des neuen Friedens. Autokraten in aller Welt kämen zu der Überzeugung, dass Eroberungskriege wie­der möglich sind. Die Demokratien wären gezwungen, sich zu ihrem Schutz zu mili­tarisieren. Schon jetzt erleben wir, wie die russische Aggression Deutschland dazu veranlasst, seinen Verteidigungshaushalt drastisch zu erhöhen, und etwa Schweden die Wehrpflicht wieder einführt.

Geld, das für Lehrer, Krankenschwestern und Sozialarbeiter ausgegeben werden könnte, wird nun in Panzerarmeen, Rake­ ten und Cyberwaffen investiert. Junge Menschen sollen ihren Militärdienst ableis­ ten. Die ganze Welt könnte irgendwann wie heute Russland aussehen – mit einer überdimensionierten Armee und unter­ besetzten Krankenhäusern. Eine neue Ära von Krieg, Armut und Krankheit wird die Folge sein.

Wird Putin jedoch gestoppt und bestraft, wäre die Weltordnung gestärkt. Es wäre eine Ermahnung an alle, die sie nötig haben, dass man nicht tun kann, was Putin getan hat. Welches der beiden Szenarien wird eintreten? Zum Glück war Putin trotz seiner Aufrüstung auf eine entscheidende Sache nicht vorbereitet: den Mut des ukrainischen Volkes. Die Ukrainer haben die Russen in einer Reihe von Siegen bei Kiew, Charkiw und Cherson zurückge­ drängt. 

Doch Putin hat sich bisher geweigert, seinen Fehler einzugestehen; er reagiert auf die Niederlage mit zunehmender Brutalität. Da seine Armee die ukrainischen Soldaten an der Front nicht besiegen kann, setzt Pu­ tin nun darauf, dass die ukrainische Zivilbe­ völkerung in ihren Häusern erfriert. Wie der Krieg enden wird, ist ebenso wenig vorher­ sehbar wie das Schicksal des neuen Friedens.

Geschichte ist niemals deterministisch. Nach dem Ende des Kalten Krieges dachten viele, der Frieden sei unvermeidlich und werde bestehen, auch wenn wir die globale Ordnung vernachlässigten. Seit Russland in die Ukraine einmarschiert ist, vertreten einige plötzlich die gegenteilige Ansicht. Sie behaupten, dass Frieden eine Illusion gewesen, der Krieg hingegen eine unzähm­bare Naturgewalt sei. Und dass Menschen nur die Wahl hätten, ob sie Beute oder Raubtier sein wollen.

Beide Positionen sind falsch. Krieg zu führen oder Frieden zu schließen basiert auf Entscheidungen und ist nichts Unvermeid­bares. Kriege folgen keinem Naturgesetz. Aber Frieden zu schließen ist keine einmalige Ent­scheidung. Es ist eine langfristige Anstrengung, um universelle Normen und Werte zu schüt­zen und kooperative Institutionen aufzubauen.

Der Wiederaufbau der globalen Ord­ nung bedeutet nicht, dass wir zu dem System zurückkehren, das in den 2010er­ Jahren zusammengebrochen ist. Eine neue und bessere Weltordnung sollte den nicht westlichen Staaten, die sich beteiligen wol­len, eine wichtigere Rolle zuweisen. Sie sollte auch die Bedeutung der nationalen Loyalitäten anerkennen.

Die globale Ordnung ist vor allem wegen des Angriffs populistischer Kräfte zerfallen, die argumentierten, patriotische Loyalitäten widersprächen einer globalen Zusammen­arbeit. Populistische Politiker predigten, man müsse als Patriot gegen globale Institutionen und weltweite Zusammenarbeit sein.

Es gibt jedoch keinen inneren Wider­spruch zwischen Patriotismus und Globa­lismus, denn beim Patriotismus geht es nicht darum, Fremde zu hassen. Sondern darum, seine Landsleute zu lieben. Und wenn man im 21. Jahrhundert seine Lands­leute vor Kriegen, Pandemien und ökolo­gischem Kollaps schützen will, gelingt das am besten, indem man mit den anderen zusammenarbeitet.

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Wagenknecht/Masala zum Ukrainekrieg

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Warum der fransigste Rand der G.O.P. jetzt so viel Macht über die Partei hat

NYT

Jan. 5, 2023

Von Richard H. Pildes

Richard H. Pildes ist ein Rechtswissenschaftler, der die Überschneidung von Politik und Recht und deren Auswirkungen auf unsere Demokratie analysiert.

Zum ersten Mal seit fast einem Jahrhundert sind wir Zeuge des atemberaubenden Spektakels einer Republikanischen Partei geworden, die so zerrissen ist, dass sie in mehreren Wahlgängen um die Wahl eines Sprechers des Repräsentantenhauses ringt. Dieses Drama in Washington spiegelt größere strukturelle Kräfte wider, die die amerikanische Demokratie verändern.

Die Revolutionen im Bereich der Kommunikation und der Technologie haben unsere Demokratie in einer Weise verändert, die weit über die bekannten Probleme wie Fehlinformationen, Hassreden und dergleichen hinausgeht. Sie haben es einzelnen Mitgliedern des Kongresses ermöglicht, als freie Akteure zu agieren, ja sogar zu gedeihen. Sie haben die institutionelle Autorität, einschließlich derjenigen der politischen Parteien und ihrer Führer, abgeflacht. Sie haben es Einzelpersonen und Gruppen ermöglicht, leichter Opposition gegen Regierungsmaßnahmen zu mobilisieren und aufrechtzuerhalten, und sie haben dazu beigetragen, heftige Fraktionskonflikte innerhalb der Parteien anzuheizen, die von den Führungen schwerer zu kontrollieren sind als in der Vergangenheit.

Durch Kabelfernsehen und soziale Medien können sogar Politiker in ihren ersten Amtsjahren ein nationales Publikum kultivieren. Als die Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez (https://de.m.wikipedia.org/wiki/Alexandria_Ocasio-Cortez, abgerufen 6.1.2023 12, 8 Mio follower Twitter) in den Kongress einzog, hatte sie bereits neun Millionen Follower auf den wichtigsten Social-Media-Plattformen, mehr als viermal so viele wie die Sprecherin Nancy Pelosi und eine Größenordnung mehr als jeder andere Demokrat im Repräsentantenhaus. Der Abgeordnete Matt Gaetz, Republikaner aus Florida und Provokateur in der Opposition gegen die Kandidatur von Kevin McCarthy, hat die Macht der sozialen Medien erkannt und erklärt, er wolle das A.O.C. der Rechten werden.

Das Internet hat auch zu einer explosionsartigen Zunahme von Kleinspenden geführt, die es Politikern ermöglichen, große Geldbeträge aufzubringen, ohne auf Parteikassen oder Großspender angewiesen zu sein.

Die Abgeordnete Marjorie Taylor Greene, Republikanerin aus Georgia, sammelte im ersten Quartal 2021 mehr als 3 Millionen Dollar an Kleinspenden ein – ein erstaunliches Ergebnis für ein neues Mitglied des Kongresses, obwohl ihr die Ausschussmandate entzogen wurden. Die nationale Aufmerksamkeit im Kabelfernsehen und in den sozialen Medien belohnt das Provokative, das Empörende und die ideologischen Extreme. Die New Yorker Abgeordnete Elise Stefanik wandelte sich von einer gemäßigten Politikerin zu einer „Kämpferin“ für Donald Trump, was zu einer Flut von Kleinspenden führte.

Die Kontrolle über die Ausschusszuweisungen war einst ein mächtiges Instrument der Parteiführer, um Mitglieder zu ermutigen, der Parteilinie zu folgen, und diejenigen zu bestrafen, die dies nicht taten. Heute werden wichtige Gesetze oft in einem zentralisierten Prozess von einer kleinen Gruppe von Parteiführern ausgearbeitet und nicht mehr in den Ausschüssen, was die Ausschusszuweisungen weniger wertvoll gemacht hat.

Außerdem müssen die Mitglieder nicht mehr in wichtigen Ausschüssen mitarbeiten, um sich auf nationaler Ebene zu profilieren oder Wahlkampfgelder zu erhalten, und dank der modernen Kommunikationsmittel, die den einzelnen Mitgliedern leicht zur Verfügung stehen, können sie immer noch mühelos Widerstand gegen Vorschläge mobilisieren. Diejenigen, die Herrn McCarthy als Sprecher herausfordern, wissen, dass sie Gefahr laufen, bei der Besetzung ihrer Ausschüsse bestraft zu werden, sollte er sich schließlich durchsetzen. Aber diese Drohung hat in einer Ära der freien Politiker nicht mehr das Gewicht, das sie einst hatte.

Viele Abgeordnete profitieren auch davon, dass sie zunehmend sichere Sitze innehaben, so dass sie sich keine Sorgen um die Parlamentswahlen machen müssen und die ideologisch engagierteren Vorwahlwähler ansprechen können. Die Möglichkeit, ein nationales Publikum zu erreichen und durch kleine Spenden mehr als genug Geld aufzubringen, hat auch den Aufstieg von Politikern begünstigt, die mehr wegen der Aufmerksamkeit und der Möglichkeiten, die sie bietet, als wegen des Regierens dabei sind. Das Risiko, dass sich die Moderatoren des Kabelfernsehens gegen sie wenden, ist eine viel größere Sorge als die Tatsache, dass sie nicht in bestimmte Ausschüsse berufen werden.

Die Tatsache, dass der einfache erste Akt eines neuen Repräsentantenhauses – die Wahl des Sprechers durch die Mehrheitspartei – so heikel ist, verdeutlicht die Schwierigkeiten, mit denen die politischen Parteien heute konfrontiert sind, wenn es darum geht, sich selbst zu verwalten, geschweige denn zu regieren. Selbst die Zugeständnisse, die McCarthy seinen Gegnern in seiner Partei machte, änderten daran wenig. Entweder aus persönlicher Abneigung und Misstrauen oder weil sie ihre Macht demonstrieren wollten, um einen potenziellen Redner zu Fall zu bringen, hielten sie an ihrer Trotzhaltung fest.

Diese besondere Schlacht ist ein Zeichen für die neue Welt der politischen Fragmentierung, mit der fast alle Demokratien konfrontiert sind. Politische Zersplitterung bedeutet, dass die politische Macht in so viele verschiedene Hände und Machtzentren zersplittert, dass ein effektives Regieren sehr viel schwieriger wird.

Wirtschaftliche und kulturelle Konflikte treiben diese Zersplitterung voran, die jedoch durch die Kommunikationsrevolution begünstigt wurde. In den westeuropäischen Systemen mit Verhältniswahlrecht haben sich die traditionell dominierenden großen politischen Parteien in ein Kaleidoskop kleinerer Parteien aufgespalten. In den Vereinigten Staaten sind die beiden großen Parteien intern gespalten, und die Führungen haben weniger Möglichkeiten, diese Spaltungen zu überwinden.

Die Demokratische Partei zeigt einen Weg auf, wie Parteien diese zersplitternden Kräfte, die sie auseinander zu reißen drohen, überwinden können: das Gespenst einer großen Wahlniederlage. In der gegenwärtigen Phase der Einigkeit vergisst man leicht die erbitterten Konflikte zwischen den gemäßigten und den progressiven Flügeln, die die Partei erst im letzten Jahr überwinden konnte.

Während dieser Monate des parteiinternen Gezänks, der Drohungen und Beschimpfungen sanken die öffentlichen Zustimmungswerte für Präsident Biden und den Kongress rapide. Es bedurfte der Beinahe-Todeserfahrung der Gouverneurswahlen in Virginia und New Jersey im Jahr 2021, damit die Progressiven ihre Forderungen aufgaben und die Verabschiedung des Infrastrukturgesetzes zuließen, dem schließlich ein Gesetz zur Verringerung der Inflation folgte, dessen Umfang erheblich reduziert worden war. Ein Vorteil der Demokraten war die Kontrolle über das Weiße Haus, was zur Disziplinierung der Partei beiträgt, da die Mitglieder ihr Wahlschicksal an den Erfolg des Präsidenten gebunden sehen. Auch scheinen weniger Mitglieder der Demokraten mehr an einer performativen Politik als an der Gesetzgebung interessiert zu sein.

Wie die Kandidatur von McCarthy für das Amt des Parlamentspräsidenten zeigt, haben sich die Anreize für eine Opposition und die Möglichkeiten, diese zu mobilisieren – sowohl für die Politik als auch für die Kontrolle der Partei – verbessert. Die Mobilisierung kollektiver Macht war schon immer schwieriger, aber sie ist nach wie vor die wesentliche Komponente für eine effektive Regierung. Die aufkommenden Kräfte der Zersplitterung werden den Führern beider politischer Parteien weiterhin zu schaffen machen, so wie sie es heute in allen Demokratien tun.

Richard H. Pildes, Professor an der School of Law der New York University, ist der Autor des Fallbuchs „The Law of Democracy: Legal Structure of the Political Process“. 

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Allgemein/Politik/Geschichte

Weimar: Lübeck rot oder schwarz?

Von 1919 bis 6. März 1933 hatte Lübeck zu keinem Zeitpunkt eine „rote“ Regierung. Unter Bürgermeister Fehling (1917-1920) herrschte in Lübeck die national-konservative, unter seinem Nachfolger Dr.Johann Neumann (1921-1926) die national-völkische und unter dem ersten SPD-Bürgermeister, Paul Löwigt (1926-1933), ab November 1926 der „neue Konsens“ mit dem national-völkischen Hanseatischen Volksbund. Die vermittelnde Haltung Löwigts kommt in dessen Würdigung Bürgermeister Neumanns bei der Einführung der Senatoren Eckholt und Dr. Geister am am 18.Juni 1926 zum Ausdruck (Max Knie, 15 Jahre Lübecker Zeitgeschichte,Lübeck 1933, S.54 https://michaelbouteiller.de/wp-content/uploads/2022/01/Knie-52-72.pdf).

In den sechs Bürgerschaftswahlen von 1919 bis 1932 wurde die SPD mit Ausnahme von 1926 bis 1929 zwar jeweils stärkste Fraktion in der Bürgerschaft. Allerdings obsiegte in der Bürgerschaftswahl am 10.2.1924 bis November 1926 nach der vorangegangenen und verlorenen Volksabstimmung über die Auflösung des Senats das bürgerliche Lager gegenüber KPD und SPD mit 42 von 80 Sitzen.

 Julius Leber bringt die Machtverhältnisse in der Weimarer Epoche Lübecks 1923 auf den Punkt: 

„Die bürgerliche Senatsmehrheit regierte und die sozialdemokratische Bürgerschaftsmehrheit bewilligte die Steuern.“ (Lübecker Volksbote vom 7.11.1923 (http://library.fes.de/luebeck/pdf/1923/1923-255.pdf)

Kabinette 1921-1933

Das heißt, die sozialistische Mehrheit in der Bürgerschaft (SPD und KPD), mit Ausnahme der Wahl vom 10.2.1924,  spiegelte sich nicht in einer etwaigen sozialistischen Mehrheit des Senats. Da der Senat nach der Revolution vom 9.11.1918 als einzige Regierung eines der 18 Bundesstaaten unter Bürgermeister Fehling fortbestand (mit 1919 14, nach 1920 12 Mitgliedern) und nur fünf SPD-Senatoren 1919 nachgewählt werden konnten, ein sechster erst 1921, blieb seine  Zusammensetzung bis 1926 mehrheitlich bürgerlich.

Denn nach Art. 4 der  Landesverfassung (LV) vom 29.März 1919 wurden die gegenwärtigen Senatsmitglieder in ihrer Stellung bestätigt, und zwar ab dem 1.4.1919 für die nächsten 12 Jahre (die 7 gelehrten Mitglieder) bzw. für 6 Jahre die sieben übrigen. Mit Art. 5 der Neufassung der LV 1920 wurde die Zahl von 14 auf 12 reduziert und die Wahlzeit sämtlicher Senatoren auf „unbestimmte Zeit“ verändert.

Die SPD hatte jedenfalls zu keinem Zeitpunkt im Senat eine Mehrheit. Das auf Antrag der SPD 1923 eingebrachte Misstrauensvotum gegen den Senat, mit der Absicht, den Senat entsprechend der Mehrheitsverhältnisse in der Bürgerschaft umzubilden, war zwar erfolgreich. Die vom Senat unter Bürgermeister Neumann daraufhin beschlossene Volksabstimmung brachte am 6. Januar 1924 indes eine schwere Niederlage für die Antragsteller. Die bürgerliche Senatsmehrheit blieb erhalten.

Der erbitterte Kampf Lebers gegen den völkischen Bürgermeister führte allerdings am 2. Juni 1926 zum Sturz Neumanns. Dieser trat am 3. Juni 1926 zurück und der Sozialdemokrat Paul Löwigt wurde im Senat zum Regierenden Bürgermeister gewählt. Auch dieser Wechsel im Bürgermeisteramt änderte jedoch nichts an der politischen gegenläufigen Ausrichtung von Bürgerschaft und Senat.

Denn in den Bürgerschaftswahlen vom 14.November 1926 überflügelte zwar der auf Veranlassung Neumanns gegründete nationalistische Hanseatische Volksbund mit 44,4% die SPD mit 42,4%. Zusammen mit der KPD (6,4%) überwog allerdings immer noch eine knappe Mehrheit des sozialistischen Lagers im Landesparlament. Neumann verstarb 1928, die Mitglieder seiner Partei, der Hanseatische Volksbund, gingen in der Folge im Wesentlichen zur NSDAP über. Die Regierung Lübecks (der Senat) verfügte trotz des SPD-Bürgermeisters Löwigt bis 1933 über keine Mehrheit der SPD, d.h. des sozialistischen Lagers.

Lübeck hatte demnach zu keinem Zeitpunkt von 1919 bis 1933 eine rote Regierung

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Allgemein/Politik/Geschichte Lübeck

Alfred Hugenberg, der eigentliche, unsichtbare Herrscher der Freien und Hansestadt Lübeck

Hugenberg-Konzern

 Ohne dass Senat und Bürgerschaft zuhause in Lübeck etwas Näheres von den Berliner Aktivitäten ihres Mitgliedes  mitbekommen hatten, war es dem Regierenden Bürgermeister Lübecks, Dr.Johann Neumann, gelungen, in der Reichshauptstadt eine entscheidende Position auch im Medienimperium seines alldeutschen Verbandsgefährten Hugenberg einzunehmen, den Vorsitz im Verwaltungsrat des Scherl-Verlages. 

Der Scherl-Verlag war das Herzstück des von Alfred Hugenberg aufgebauten Medien- und Zeitungsimperiums. Der Verwaltungsausschuss entspricht dabei dem Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft. Der Scherl-Verlag also, die Spinne im medialen reichsweiten Netzwerk des Propagandisten eines völkischen Nationalstaates (Stern, 26.11.2003, Hugenberg, Hitlers „Steigbügelhalter“, https://www.stern.de/politik/geschichte/alfred-hugenberg-hitlers–steigbuegelhalter–3342658.html, Hugenberg), wurde vom Lübecker Bürgermeister gesteuert.

Hugenberg war nicht nur neben Emil Possehl und dem Kolonialpolitiker Peters, auch „Hänge-Peters“ genannt, der Mitgründer und Organisator des Alldeutschen Verbands. Er hatte noch während seiner Zeit als Vorsitzender im Direktorium der Friedrich Krupp AG (1908-1918) ab 1912 nach und nach den seinerzeit größten Medienkonzern Deutschlands aufgebaut und steuerte ihn im Sinne der Zielsetzungen der Alldeutschen  konsequent in den Nationalsozialismus (vgl. auch  Alfred Hugenberg,/ https://de.wikipedia.org/wiki/Alfred_Hugenberg, abgefragt 16.10.2019).

 Das dargestellte Organisationsschema veranschaulicht die Reichweite der propagandistischen medialen Durchdringungsbreite und -tiefe der Hugenbergschen Firmen. Hervorzuheben ist dabei das mit der Allgemeinen Anzeigen GmbH, später Aktiengesellschaft (ALA), angestrebte Anzeigenmonopol auf dem deutschen Medienmarkt. Darüber steuerte Hugenberg auch Lokalblätter, die nicht in seinem Besitz waren. In Lübeck war das die Ala-Anzeigen-Aktiengesellschaft Zweigniederlassung Lübeck.

Der Lübecker Bürgermeister war als Verwaltungsratsvorsitzender des Scherl-Verlages kein unabhängiger Entscheider. Im Konzerngefüge spielte er vielmehr die Rolle des abhängigen treuhänderischen Auftragnehmers von Hugenberg. Gleichwohl konnte er mit seiner, auch ideologischen, Steuerungsfunktion über den Scherl-Verlag und damit auch der Stärkung seiner Einflussnahme im hugenbergschen Medienkonzern seine Lübecker Position ausbauen. Der Lübecker Generalanzeiger war über die ALA (Lübecker Volksbote, 25.3.1933: ALA Zweigniederlassung in Lübeck) in den Händen Hugenberg – Neumanns. Das hat Julius Leber richtig erkannt, wenn er im Lübecker Volksboten 1926 schrieb:

„… Und doch war e r (Hugenberg, MB) der eigentliche unsichtbare Herrscher dieser Stadt, die er selbst vielleicht nie gesehen. Den S t a a t hatte er in der Hand durch sein Oberhaupt, die Presse durch die größte Inseratenplantage. Sein Wille war maßgebend, beschränkt nur durch den leidenschaftlichen Widerstand der darob täglich beschimpften und begeisterten S o z i a l d e m o k r a t i e (Sperrungen im Original, MB).“( Lübecker Volksbote, 8.6.1926).

Leber beschreibt folgerichtig die tatsächlichen damaligen Verhältnisse im Freistaat. Er bestätigt auch den tiefen Hass der Elite des Bürgertums, die innerhalb und über das völkische Netzwerk des AV immer wieder versuchte, die Macht für die konservative Revolution in den Ländern und im Reich an sich zu reißen.  Dies geschah heimlich und in den seit Ende des 19. Jahrhunderts dafür geschaffenen Netzwerken des AV. Die Akteure traten selten nach außen offen auf. 

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Allgemein/Politik/Geschichte

Das lange Schweigen der Quellen in Lübeck

Jahrhundertwende, Weimar, Kriegs- und Nachkriegszeit

2022 schlägt Lars Frühsorge ein neues Kapitel der Lübecker Kolonialgeschichte auf. Was haben die Sammlungsstücke der Völkerkundesammlung mit der Lübecker Gesellschafts- und Staatsgeschichte zu tun? Welche Lübecker Personen, Familien und Betriebe haben daran verdient?

2013 ermöglicht uns der Lüneburger Historiker Dirk Stegmann mit seinem Skript „Radikalisierung des Lübecker Bürgertums nach rechts – Alldeutscher Verband
und Deutsche Vaterlands-Partei 1912-1918“, Schleswig 2013, (https://www.beirat-fuer-geschichte.de/fileadmin/pdf/band_24/Demokratische_Geschichte_Band_24_Essay_2_Stegmann.pdf) die Sicht auf eine andere Betrachtung der Stadtelite und ihrer Netzwerke.

2011 erschien die große soziologisch- historische Studie „Entjudete“ Kirche: Die Lübecker Landeskirche zwischen christlichem Antijudaismus und völkischem Antisemitismus (1918-1950), Paderborn 2011 von Hansjörg Buss. Darin entdeckte der Autor die langen Zyklen des eliminatorischen Judenhasses in der Stadtrepublik. Wichtiger: er ließ uns erahnen, dass die Ernennung des Lübecker Bischofs Erwin Balzer (1934) mit dessen radikalem Antisemitismus nur die Spitze des Eisbergs des faschistoiden Kirchenregiments der Landeskirche war (https://www.forumgeschichte-nordkirche.de/luebeck, abgerufen 29.12.2022).

Das von Balzer mitgegründete Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben (auch: Eisenacher Institut oder Entjudungsinstitut) war eine antisemitische Einrichtung von elf deutschen evangelischen Landeskirchen in der Zeit des Nationalsozialismus. Es wurde auf Betreiben der Kirchenpartei Deutsche Christen (DC) am 6. Mai 1939 in Eisenach gegründet und bestand bis 1945.

Die Lübecker Stadtgeschichte vom 12.-18. Jahrhundert ist gut erschlossen. Das gilt nicht für die späteren Jahrhunderte. Bisher schweigen die Quellen. Eine Ausnahme bilden die genannten drei Autoren.

Wer sich indes etwas näher auf eine Zentralgestalt des 19. und beginnenden 20.Jahrhunderts einlässt, den Lübecker Regierenden Bürgermeister Dr.Johann Neumann (1865 – 1928), einem frühen deutschen Faschisten des 19. und 20.Jahrhunderts, dem öffnet sich das Kapitel zur Stadtgeschichte der Neuen Zeit.

 

 

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Allgemein/Politik/Geschichte Lübeck

Bürgermeister Dr. Johann Neumann – ein früher Lübecker Faschist

Wikipedia

Acht Jahre lang (1921 bis 1928) waren Julius Leber und Johann Neumann die Gegenpole in der Lübecker Politik und der öffentlichen Meinung.  Am 1. Januar 1921 wurde Johann Neumann Regierender Bürgermeister in Lübeck. Er hatte nicht nur in der Stadt, sondern reichsweit eine hervorgehobene Position. Er war der erste völkische Regierungschef eines Bundesstaates und gehörte mit folgenden 17 Merkmalen zum Führungskader des Alldeutschen Verbandes (AV) und der Völkischen in der Weimarer Republik (vgl. dazu auch https://michaelbouteiller.de/wp-content/uploads/2022/10/Zweimal-Luebeck-221011.pdf).

1. Mitglied der Hauptleitung und des Gesamtvorstandes des AV.

 2. Vorsitzender des Ortsverbandes Lübeck des AV.

3. 1912 Schriftführer des von Possehl in Berlin gegründeten Wehrvereins in Lübeck.

4.  Er unterstützte den „Wirtschaftlichen Generalstab“ (1914) im Sinne Possehls,  eine weitsichtige Vorwegnahme des „Militärisch-Industriellen-Komplexes“ im Sinne Dwight D. Eisenhowers Abschiedsrede von 1961.

5. 1914 beschloss Neumann als Vorstandsmitglied die annexionistischen und rassistischen Kriegszielsvorlage des AV-Vorsitzenden Justizrat Claß.

 6. 1914 ff. organisierte er mit Justizrat Claß die reichsweite Zusammenführung der Wirt-schaftsverbände im Deutschen Kaiserreich zur Unterstützung der Kriegszielpolitik des AV, im Sinne des „Wirtschaftlichen Generalstabes“ des AV-Gründungsmitgliedes Emil Possehl.

7. Er war Vorsitzender des Verwaltungsrates  des Scherl-Verlages, ideologischer Kern im völkischen Medienimperium von Hugenberg, samt Gründung einer Niederlassung der Allgemeinen Anzeigen GmbH Hugenbergs in Lübeck.

8. 1916 spendete er 50.000 Mark für den Erwerb der rassistischen „Deutschen Zeitung“, dem Propagandaorgan des ADV, zusammen mit Senator Possehl, der ebenfalls 50.000 Mark einbrachte.

Er ist Mitgründer der »„Neudeutschen Verlags- und Treuhand-Gesellschaft m.b.H“ mit einem (vorläufigen) Kapital von 2 Millionen DM. Vorstand ist der kaiserliche Geheime Regierungsrat Georg Fritz in Berlin. Gründer sind unter anderem Rechtsanwalt, Heinrich Claus (Mainz), der erste Vorsitzende des altdeutschen Verbandes, Landgerichts, Direktor, Karl Lohmann (Blankenese), Doktor Otto, Helmut Hopfen (Starnberg), Senator Johann Neumann (Lübeck), Oberlandesgerichtssenatspräsident Theodor Thomsen (Charlottenburg). Wie es heißt sollen bereits die großen Berliner neueste Nachrichten und deutsche Zeitung von der Gesellschaft erworben worden seien, oder die Gesellschaft soll sich durch finanzielle Unterstützung einen Einfluss auf diese Blätter gesichert haben« (in Badische Landesbibliothek, Bauländer Bote und Boxberger Anzeiger vom 17.2.1917, https://digital.blb-karlsruhe.de/blbz/periodical/pageview/6539890)

9. Er war Organisator des völkischen „Deutschen Abends“ in Lübeck, einer Querschnittsorganisation der Völkischen Vereine unf Verbände in den AV-Gauen, mit starkem Einfluss auf die Politik der ev.-lutherischen Kirche.

10. 1917 benannte ihn der AV-Vorsitzende Claß bei einem Besuch im Hauptquartier gegenüber General Ludendorff für ein „Kabinett in Feldgrau“, eine Vorbereitungshandlung zum Putsch. 

11. Von 1917-1918 war er „Zivilgouverneur“ in Riga,  einer gegen den Frieden von Brest-Litowsk gerichteten Annexionsregierung im vom Deutschen Reich besetzten Lettland zur Vorbereitung einer dauerhaften deutsch-völkischen Siedlungspolitik.

12. Am 1.Januar 1921 wurde er der erste völkische Regierende Bürgermeister eines Bundesstaates der Weimarer Republik.

13. 1924 ehrte er durch seine Anwesenheit bei einer Gedenkfeier im Lübecker Dom Albert Leo Schlageter (Max Knie, S.40, https://michaelbouteiller.de/max-knie-15-jahre-luebecker-zeitgeschichte/) Schlageter war das Symbol der Republikfeinde für den völkischen Widerstand gegen die Republik. Schlageter war Soldat im Ersten Weltkrieg und Angehöriger verschiedener Freikorps. Schlageter war Mitglied der NSDAP-Tarnorganisation Großdeutsche Arbeiterpartei. Er wurde wegen Spionage und mehrerer Sprengstoffanschläge im besetzten Ruhrgebiet von einem französischen Militärgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet. 

Das öffentliche Auftreten Neumanns für Schlageter war ein deutlicher Kotau des Bürgermeisters   vor den Feinden der Republik und ein Affront des Senatspräsidenten gegen seine  SPD-Kollegen im Senat und den Mehrheitsfraktionen in der Bürgerschaft. Sein Stellvertreter und AV-Mitglied, Senator Dr.Vermehren, war ebenfalls zugegen. Die Bürgerschaft hatte zuvor die Errichtung eines Denkmals abgelehnt. Ein Findling wurde stattdessen von den Völkischen im Garten des Hindenburghauses (Abgerissen für Bau des Landgerichtes) als Denkmal zelebriert. 

 14. Im Mai 1926, beim Putschversuch der Alldeutschen, wurde er als Diktator benannt.

15.  Ebenfalls 1926 verfälschte er das historische Lübeck-Bild. Er drehte es im Sinne seiner alldeutschen Ideologie um. Aus Anlass der 700-Jahrfeier der Reichsfreiheit erfindet er Lübeck neu. Die Freiheitsurkunde sei, so behauptet er, mir nichts, dir nichts von Friedrich II. wegen des heldenhaften Befreiungskampfes der Deutschen gegen die dänische Besetzung Lübecks verliehen worden.

Die reichsfreie Stadt sieht der Alldeutsche als das völkische Symbol für eine zukünftig erfolgreiche Weltmacht-Politik des Deutschen Reiches, auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Der geeinte germanische Widerstand der Stadt Heinrichs des Löwen habe damals die Reichsfeinde besiegt. In diesem Sinne organisierte er auch 1925/26 die Ausrichtung der Reichsfreiheitsfeier. Das alles war Bullshit.

Denn weder war Heinrich der Löwe der erste Gründer Lübecks, noch war Anlass der Verleihung des Freiheitsbriefes durch den Kaiser der Sieg über die Dänen. Der erste Gründer der Stadt hieß Adolf von Schauenburg, der auch im Rathaus, in der Ausschmückung mit den  Wandgemälden des Berliner Malers Max Koch von 1892-94 unterschlagen wird.

Die siegreiche Schlacht von Bornhöved gegen die Dänen schließlich fand 1227 statt, also ein Jahr nach der Verleihung der Urkunde durch den Kaiser im Jahre 1226. Für Neumann war Lübeck fälschlicherweise  „civitas imperii“,  der Brückenkopf zur Ostkolonisation. Diese Ostkolonisation sei im Interesse, aber ohne Zutun des Reiches, seinerzeit von den „weit blickenden Kaufmannsgeschlechtern“ der Hansestadt betrieben worden.

„So spiegelt sich in Lübeck deutscher Unternehmergeist, deutsches Wissen, deutsches Können und deutscher Lebenswille während des ganzen Mittelalters wider!“

16. Im Herbst 1926, also unmittelbar nach seinem Sturz, veranlasste er die Parteigründung des völkischen Hanseatischen Volksbundes. Er blieb aber parteilos.

17. 1933 benannte die NSDAP zu seinen Ehren die ihnen verhasste Rathenaustraße am Stadtpark in Bürgermeister-Neumann-Straße um, nach ihrem 1928 verstorbenen Beschützer. Die Umbenennung wurde 1947 revidiert.

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Allgemein/Politik/Geschichte

1. Existenzrecht des Menschen – 2. Klimakrieg

1. Das Existenzrecht des Menschen

Vor 174 Jahren, am 27. Dezember 1848, verabschiedete die Frankfurter Nationalversammlung die Grundrechte. Zum ersten Mal erlangten damit Menschen- und Bürgerrechte Gesetzescharakter in Deutschland. Zeitgleich kritisierte der radikale Dichter Georg Herwegh im Pariser Exil die Lebensferne des sogenannten Professorenparlaments. 

Denn während die Abgeordneten in der Paulskirche theoretische Debatten führten, formierte sich der Widerstand der monarchisch-restaurativen Kräfte in den deutschen Einzelstaaten.

Am 20.11.2022 diskutierten im Ersten Programm des Fernsehens bei Anne Will Marco Buschmann (FDP, Justizminister), Katrin Göring-Eckardt (Die Grünen), Joachim Herrmann (CSU, Innenminister Bayern), Carla Hinrichs (Letzte Generation) und Petra Pinzler (Die Zeit) das Thema „Straßen blockieren, Kunst attackieren – helfen diese Aktionen beim Kampf“ums Klima? (https://www.ardmediathek.de/video/Y3JpZDovL25kci5kZS80MzJlM2NhYy02ZWQyLTQ1NDMtOTdmNC0xYmJmODM3YmE3Mzg).

Einen Tag später, am 21.11.2022, titelte die taz : “Mit Vollgas Richtung Klimahölle. Der größte Erfolg von Scharm El-Scheich war, dass es keine Rückschritte gab. Das illustriert, wie jämmerlich die Klimapolitik auf globaler Ebene ist“ (Bernhard Pötter).

Am 23.10.2018, also vor vier Jahren, sagte der langjährige Generalsekretär des Club of Rome, der schottische Ökonom Graeme Maxton, es verblieben noch 15 Jahre bis der Kipppunkt von 2 Grad Celsius erreicht und die Existenz der Menschheit in Frage stehe. Das Umdenken und poltische Handeln, das von dem Club of Rome seit 1972 gefordert wurde, fand offenbar nicht statt  (https://youtu.be/c9EK9X597KM).

50 Jahre sind seither vergangen – an der Untätigkeit der Regierung hat sich nichts Entscheidendes verändert. Weitere vier Jahre sind seit 2018 vergangen – die Regierung verbleibt untätig. Der Kipppunkt ist in 11 Jahren: 2034. Er trifft nicht nur unsere Kinder und Enkel. Die Katastrophe trifft uns alle. Was tun?  

Vor 370 Jahren beantwortete Thomas Hobbes im „Leviathan“, diese Frage, was man denn tun müsse, wenn der Gesellschaftsvertrag zwischen Volk und Souverain (Schutz der Bürger und Bürgerinnen) aufgekündigt wurde – was heute anscheinend der Fall ist:  „Als Widerstandsrecht gilt zumal die Befugnis von Einzelnen oder Gruppen, den Gehorsam zu verweigern oder sich aktiv aufzulehnen, wenn die Herrschenden ihre Macht missbrauchen und fundamentale Rechte der Beherrschten verletzen“,  (Rudolf Weber-Fas, Lexikon Politik und Recht: Geschichte und Gegenwart, Stuttgart, S.320).

In der gestrigen Diskussion bei Anne Will wurde deutlich, dass die „Letzte Generation“, zwar in einigen Fällen gesetzeswidrig handelt. Der viel tiefgreifendere Gesetzesverstoß, nämlich gegen das im Grundgesetz verbriefte Recht auf Leben, wird indes durch die führenden Politiker verübt. Wenn allerdings den Menschen das Recht auf Leben entzogen wird, dann muss man sich nicht wundern, dass sie sich wehren. Etliche kommen dafür in den Knast (im Moment 13 in Bayern – verfassungsrechtliche Einschätzung: https://verfassungsblog.de/gewahrsam-als-letztes-mittel-gegen-die-letzte-generation/). Die PolitikerInnen hingegen laufen frei herum und wollen uns ihr Scheitern hier und in Scharm El-Scheich als Erfolg verkaufen. Da kann man nur hoffen, dass sie wenigstens in ihrem Gewissensknast sitzen. 

Die selbstvergessene Gruppe deutscher Parlamentarier ist weit entfernt von dem international erwachenden Kampf um das Existenzrecht der Menschen: dem Klimakrieg. Sie stecken den Kopf in den Sand vor der endzeitlichen Botschaft des früheren Generalsekretärs des Club of Rome, Greame Maxton: The Future of the Human Race: https://youtu.be/8So9n6Y8XX4, dessen Botschaft, dass 2034 das zwei Grad Ziel überschritten und die durch Kohlenstoff erzeugten Veränderungsprozesse unumkehrbar werden.

2. Klimakrieg

Die Abläufe und den Diskurs um den Klimakrieg gibt der im Folgenden zitierte Aufsatz von Tooze wieder: Ökologischer Leninismus: Adam Tooze über die post-pandemische Klimapolitik von Andreas Malm, London Review of Books, Vol.43 No.22 , 18.November 2021

https://www.lrb.co.uk/the-paper/v43/n22/adam-tooze/ecological-leninism

Die Kohlenstoffuhr tickt. Regierungen und offizielle Stellen versichern uns, dass alles gut werden wird, dass sie die Risiken ausgleichen können. Einige bestehen darauf, dass die Technologie uns retten wird. Wir haben schon einmal das Unmögliche geschafft, wir werden es wieder tun. Aber warum sollte man ihnen glauben? Die Fortschritte bei der Dekarbonisierung sind begrenzt.

 Die Interessen der fossilen Brennstoffe sind nach wie vor in globale Machtnetze eingebunden, die direkt aus dem Zeitalter des Imperialismus stammen. Ihre politischen Vorreiter mögen zynische Schreiberlinge sein, aber die öffentliche Unterstützung für den Status quo der fossilen Brennstoffe ist nur allzu real. Die Kohlenstoff-Koalition scheint vom Tod getrieben zu sein und widersetzt sich dem Rat der Experten. 

Liberale der Mitte äußern lautstark ihre Empörung, schrecken aber zurück, wenn es hart auf hart kommt. In regelmäßigen Abständen kommt es zu Protestwellen. Kinder boykottieren die Schule. Es gibt Forderungen nach einem neuen Gesellschaftsvertrag und einem gerechten Übergang. Eine noch winzige Minderheit ruft zur Rebellion auf.

Mit nur geringfügigen Änderungen könnte dies das Porträt einer Nation sein, die in einem großen Krieg auf eine Niederlage zusteuert: unerbittlicher Zeitdruck; begrenzte Ressourcen, die schnell zur Neige gehen; übermütige Technokraten; Versprechungen von Wunderwaffen; zerstrittene Fraktionen der Kriegsbefürworter und -gegner; verzweifelte junge Menschen, die ein Ende des Wahnsinns fordern. 

Krieg ist nach wie vor eine wichtige Denkweise über kollektive Gefahren und über die Handlungsfähigkeit angesichts dieser Gefahren; in der Klimapolitik ist die Rhetorik von Krieg und Kriegsmobilisierung alltäglich. Die amerikanischen Befürworter des Green New Deal forderten eine Wiederholung der schwindelerregenden Industrieproduktion, die während des Zweiten Weltkriegs erreicht wurde. Im Vereinigten Königreich hält die Erinnerung an den Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit an. Es ist die Rede vom Marshall-Plan.

Aber ist das nicht alles etwas zu bequem? Ein „guter Krieg“, geführt von Demokratien, der mit einem spektakulären Sieg endete und ein goldenes Zeitalter des Wirtschaftswachstums und des Wohlfahrtsstaates einläutete. Die jüngste Veröffentlichungswelle – drei Bücher innerhalb eines Jahres – des Historikers und Klimaaktivisten Andreas Malm lässt sich als eine nachhaltige Herausforderung an diese selbstgefällige Geschichtsschreibung unserer Gegenwart verstehen. Die historische Analogie, die er bevorzugt, ist der Erste Weltkrieg und seine Folgen, eine Welt, die von den Umwälzungen der Revolution und der Gewalt des Faschismus geprägt war – der Beginn, nicht das Ende eines Zeitalters der Krise.

Den Zweiten Weltkrieg und die Geburt des modernen interventionistischen Wohlfahrtsstaates vor Augen zu haben, bedeutet, sich an Denkern wie Maynard Keynes zu orientieren, mit seinem Versprechen, dass „alles, was wir tatsächlich tun können, wir uns auch leisten können“. Der Erste Weltkrieg und die Jahre danach erinnern an eine ganz andere Gruppe von Personen. Malms eigener politischer Hintergrund ist der Trotzkismus, und er erklärt sich jetzt als ökologischer Leninist. Seine Mitautoren von White Skin, Black Fuel haben sich nach der deutschen Kommunistin und Feministin Clara Zetkin, deren Interpretation des Faschismus sie aufgreifen und deren Asche 1933 an der Kremlmauer beigesetzt wurde, das Zetkin-Kollektiv genannt.

Manche werden Malm vorwerfen, er spiele die Revolution, während der Planet brennt. Aber seine Position ist eigentlich eine des tragischen Realismus. Wie er und seine Kollegen in White Skin, Black Fuel argumentieren, ist die entscheidende Tatsache des Klimawandels, dass er „ein revolutionäres Problem ohne ein revolutionäres Subjekt“ ist. 

Die Umweltbewegung mag sich mit dem Aktivismus für soziale Gerechtigkeit verbündet haben, aber sie war nicht in der Lage, „den Kapitalismus mit der Kraft herauszufordern, die einst die Dritte Internationale oder die nationalen Befreiungsbewegungen oder sogar die sozialdemokratischen Parteien der Zweiten Internationale an den Tag legten; als lahmer Nachfolger gewann sie keinen Vietnamkrieg und baute kein Äquivalent zum Wohlfahrtsstaat auf.

Die Brücke zwischen unserer Realität und der der Revolutionäre von vor einem Jahrhundert ist das Bewusstsein der drohenden Katastrophe. Die Revolutionäre des frühen 20. Jahrhunderts hatten das Versprechen des 19. Jahrhunderts auf unvermeidlichen Fortschritt als leer oder, wie Walter Benjamin es sah, als katastrophal empfunden. Im Angesicht des totalen Krieges bestand man darauf, dass man handeln müsse, um die Katastrophe zu verhindern.

Wie Marx und Engels im Kommunistischen Manifest gewarnt hatten, würde der Kampf zwischen Unterdrückern und Unterdrückten „entweder in einer revolutionären Umgestaltung der gesamten Gesellschaft oder im gemeinsamen Ruin der streitenden Klassen“ enden – „Sozialismus oder Barbarei“, wie Rosa Luxemburg es ausdrückte. Wie steht es ein Jahrhundert später um unsere Lage? Obwohl die herrschenden Klassen von der Klimakrise sprechen, sagt Malm, verraten ihre Taten sie:

Der Geruch der brennenden Bäume beunruhigt sie nicht. Sie sind nicht beunruhigt beim Anblick untergehender Inseln; sie laufen nicht vor dem Tosen der herannahenden Wirbelstürme davon; ihre Finger brauchen nie die Stängel verdorrter Ernten zu berühren; ihre Münder werden nicht klebrig und trocken nach einem Tag, an dem sie nichts zu trinken hatten … 

Nach den vergangenen drei Jahrzehnten kann kein Zweifel daran bestehen, dass die herrschenden Klassen konstitutionell nicht in der Lage sind, auf die Katastrophe anders zu reagieren, als sie zu beschleunigen; aus eigenem Antrieb, unter ihrem inneren Zwang, können sie nichts anderes tun, als sich bis zum Ende durchzubrennen.

Die Frage, die Malm in seinem Pamphlet Corona, Climate, Chronic Emergency stellt, ist, ob die Pandemie etwas verändert hat. Für viele Linke war die Krise des letzten Jahres verwirrend, aber zumindest anfangs ermutigend. Beim Klima schien es keine Möglichkeit des Fortschritts zu geben, aber im Angesicht der Pandemie schien sich der Staat von den Interessen, denen er normalerweise dient, abgekoppelt zu haben. 

Covid-19 kam als eine augenblickliche und totale Sättigung von allem“, schreibt Malm. Wie ein Windstoß, der die getönten Scheiben eines Wolkenkratzers wegbläst, wurde der Staat bis auf seine geringste relative Autonomie zurückgestutzt. Plötzlich war der Staat frei, unabhängig vom Großkapital zu handeln.

Die Regierungen des Nordens waren in der seltenen Lage, das Wohlergehen ihrer kapitalistischen Volkswirtschaften auch für das Leben ihrer älteren und potenziell jüngeren Jahrgänge zu opfern. Man kann diesen Moment als das Beste der modernen bürgerlichen Demokratien betrachten, als einen Sieg des Respekts vor dem Leben über den Respekt vor dem Eigentum, als einen Sieg der egalitären Prämisse, auf die die Demokratie eingeschworen ist.

Malm spielt kurz mit dem Gedanken, dass ein dramatisches Eingreifen die Klimakrise lösen könnte, verwirft ihn aber gleich wieder: Der Gegensatz zwischen der Wachsamkeit gegenüber dem Coronavirus und der Selbstgefälligkeit gegenüber dem Klima ist illusorisch. Das Problem der Zoonoseübertragung ist seit Jahren bekannt, und die Staaten haben genauso viel dagegen unternommen wie gegen den anthropogenen Klimawandel: nichts. 

Als die Krise ausbrach, so hätte Malm hinzufügen können, waren die Maßnahmen der Regierungen größtenteils darauf ausgerichtet, die bestehenden Eigentumsverhältnisse und die bestehende Verteilung von Vermögen und Einkommen zu stützen. Die Interventionen waren gigantisch, aber in ihren Absichten und Wirkungen überwältigend konservativ.

Welche Art von Regierungsapparat könnte bessere Ergebnisse erzielen? Die Linke fordert einen „Green New Deal“ oder das, was Daniela Gabor den „großen grünen Staat“ genannt hat, aber es gibt keine Garantie dafür, dass eine ehrgeizigere Version staatlicher Interventionen den Wandel vorantreiben würde. Wir sollten es kaum als ermutigend empfinden, dass die Green New Dealers den Zweiten Weltkrieg als Vorbild nehmen. Die keynesianische Makroökonomie mag während des Krieges in den Vordergrund getreten sein, aber der Staatsapparat selbst war zu dieser Zeit zunehmend von Wirtschaftsinteressen besetzt. 

Pläne für eine interventionistische Industriepolitik und eine intensive Regulierung wurden auf Eis gelegt. Wo könnten wir also nach alternativen Modellen für eine Notstandsregierung suchen? Was, wenn, wie Malm vorschlägt, das richtige Modell für einen klimaaktivistischen Staat nicht der New Deal ist, sondern ein Kriegsregime, das viel verzweifelter und strenger war? Was ist, wenn das Modell, das wir brauchen, der Kriegskommunismus ist?

Das ist ein gewagtes Unterfangen. Die kurze Periode des Kriegskommunismus zwischen 1920 und 1921 ist eine der umstrittensten in der russischen Revolutionsgeschichte. Die Meinungen darüber, ob es sich um eine verzweifelte Improvisation oder um einen echten Versuch eines radikalen Wandels handelte, gehen auseinander. 

Unstrittig ist jedoch, dass es sich um eine Zeit schrecklicher Gewalt handelte. Für Historiker wie Sheila Fitzpatrick und Ronald Suny, die der Revolution weitgehend positiv gegenüberstehen, ist es die Phase, in der sich das Regime zu einer autoritären und, wenn nötig, terroristischen Diktatur verhärtete. Der Kriegskommunismus ist das Allerletzte, was man als Modell für eine wirtschaftliche Transformation vorschlagen würde. 

Die Wirtschaft des ehemaligen Zarenreichs lag am Boden, die Gesellschaft deindustrialisierte sich, der Austausch zwischen dem Land und dem, was von den Städten übrig geblieben war, war katastrophal. Die darauf folgende Hungersnot brachte die Bolschewiki an den Rand der Kapitulation.

Wenn wir uns auf den Kriegskommunismus berufen, heißt das nicht, dass wir Exekutionen im Schnellverfahren durchführen, Lebensmittelkommandos aufs Land schicken oder die Arbeit militarisieren sollten, so wie niemand, der den Zweiten Weltkrieg als Vorbild für die Klimamobilisierung betrachtet, eine weitere Atombombe auf Hiroshima abwerfen will. Viele der vermeintlichen Notwendigkeiten, die die Bolschewiki zu Tugenden machten, können wir ohne weiteres als Laster erkennen. Umgekehrt können wir einige der Schwächen, die sie als ihre Schwächen ansahen, als Stärken betrachten.

Malm ist sich all dessen bewusst, bleibt aber unerschrocken: Was Malm am Kriegskommunismus fasziniert, ist das scharfe Korrektiv, das er jeder cornucopischen Zukunftsvision entgegensetzt. In Trotzkis eigenen Worten war die Lage der Revolution im Jahr 1920 „in höchstem Maße tragisch“. Radikale Neuerungen wurden durch harte Notwendigkeiten erzwungen. In der bolschewistischen Zone, die sich auf einen Rest des russischen Reiches beschränkte, herrschte ein verzweifelter Mangel an Lebensmitteln, Kohle und Öl. 

Ein strenges Requisitionssystem ermöglichte die Versorgung der Armee, doch für den verzweifelten Mangel an Kohle war eine innovativere Lösung erforderlich. Da er von fossilen Brennstoffen abgeschnitten war, wandte sich Trotzki dem Holz zu. Die gepanzerten Züge der Roten Armee wurden mit Holzscheiten befeuert. Bis 1921, so Malm, hatte eiimprovisiertes organisches Energieregime über die kombinierten fossil-brennstoffbasierten Kräfte der Reaktion gesiegt.

Gehen wir davon aus, dass Malm nicht so sehr einen Handlungsvorschlag macht, sondern ein radikales Gedankenexperiment unternimmt. Übertragen wir seine historische Analogie auf die reguläre Politik, würde es vermutlich darum gehen, dass jeder ernsthafte Versuch einer Energiewende neben Preisgestaltung und Verhandlungen auch eine Kombination aus Verstaatlichung, Regulierung und Verboten beinhaltet, die nicht nur nach dem Buchstaben des Gesetzes, sondern mit militanter Energie durchgesetzt werden.

Die Frage ist, welche Art von politischer Formation erforderlich wäre, um dies durchzusetzen. Der Kriegskommunismus wurde von einer revolutionären Partei verwaltet, die sich in einem Überlebenskampf auf Leben und Tod befand. Das ist nicht unsere Situation, zumindest noch nicht.

Ein vielversprechenderer Weg wird in White Skin, Black Fuel vorgeschlagen. Eine der organisierenden Unterscheidungen dieses massiven kollektiven Werks ist die zwischen den Wirtschaftssektoren, die irreduzibel von der Gewinnung fossiler Brennstoffe abhängig sind, und denen, die fossile Energie nutzen, aber nicht existenziell damit verwoben sind. Bei den ersteren kann es keinen Kompromiss geben: Ihr Überleben hängt von ihrer Abschaltung ab. Letztere hingegen sind die Akteure, die angeworben werden müssen, wenn eine Strategie des Green New Deal Erfolg haben soll. Die Sorge eines jeden vermeintlichen „großen grünen Staates“ ist, wie sich der Sektor der extraktiven fossilen Brennstoffe verhalten wird.

Das Erstarken rechtsextremer Parteien in ganz Europa und die Präsidentschaften von Donald Trump und Jair Bolsonaro haben eine Welle von Debatten über ein zweites Aufkommen des Faschismus ausgelöst. Trump und Bolsonaro sind auch Klimaleugner. Malm und seine Mitautoren in White Skin, Black Fuel argumentieren, dass dies kein Zufall ist. Zunächst stellen sie fest, dass die Befürworter der Förderung fossiler Brennstoffe in den letzten zwanzig Jahren ihre Taktik geändert haben. 

In den 1990er Jahren war der Klimaleugner eine offensichtliche und eindeutig eigennützige Lüge, eine Verschwörung gegen die Wissenschaft; heute liegt der Schwerpunkt auf breit angelegten Bewegungen, die die Lebensweise mit fossilen Brennstoffen aggressiv verteidigen. Selbst mit beträchtlicher finanzieller Unterstützung durch die Wirtschaft wurde die große Lüge schwer aufrechtzuerhalten; Exxon und BP räumen inzwischen die Existenz des Klimawandels ein.

Als Reaktion darauf hat der Klimawiderstand die indirekteren Mechanismen der Hegemonie übernommen. Trump und Bolsonaro sind Befürworter von Kohle, Öl und Gas, aber anstatt sich auf wissenschaftliche Argumente einzulassen, verbreiten sie einfach nur Schlagworte. Um ihre Wählerschaft anzusprechen, brauchen sie nur Vorurteile gegen die Elite zu wecken, und der Nachhall alter klimaskeptischer Meme wird den Rest erledigen.

Das soll nicht heißen, dass das Klima explizit im Mittelpunkt ihrer Agenda steht; es ist eine Folge ihres Appells an den Anti-Elite- und Arbeiternationalismus. White Skin, Black Fuel versucht darzulegen, auf welche Weise gasfressender Konsum, die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen, Siedlerkolonialismus und rassistische Machtstrukturen historisch miteinander verwoben sind. Es gibt eine ähnliche Verbindung zwischen fossilen Brennstoffen und dem historischen Faschismus.

Die Faschisten in Deutschland waren in einer besseren Position als die Kriegskommunisten. Sie hatten Kohle. Aber sie mussten auch einen Weg finden, den Griff des Öls zu brechen, der Rohstoffbasis der anglo-amerikanischen Macht. Der Chemiekonzern IG Farben fand einen Weg, aus mitteleuropäischer Kohle Öl und Kautschuk zu gewinnen. Nicht zufällig befand sich im Herzen des Lagerkomplexes von Auschwitz eine riesige Fabrik für synthetische Chemikalien.

Die Verbindung zwischen Autoritarismus und fossilen Brennstoffen hat nicht nur eine historische und ideologische Dimension, sondern auch eine tiefere psychologische Ebene, so Malm und das Zetkin-Kollektiv. In Anlehnung an das, was Herbert Marcuse in seiner Lektüre der faschistischen Massenpsychologie als den Wunsch zu attackieren, zu spalten und zu pulverisieren beschrieb, lobte Trump die Arbeiter, die „Felswände durchbrechen, die Tiefen der Erde abbauen und den Meeresboden durchdringen, um jede Unze Energie in unsere Häuser und Geschäfte und in unser Leben zu bringen“. Es ist nicht nur „Drill, baby, drill“, das die Verbindung zementiert.

Die kognitive Dissonanz des liberalen Mainstreams ist eine Schlüsselkomponente im Psychogramm einer sterbenden Zivilisation der fossilen Brennstoffe, das Malm und das Kollektiv skizzieren. In Anlehnung an Clara Zetkins Argument, dass der Faschismus die Rache der Geschichte für das Scheitern einer sozialistischen Revolution ist, sehen sie die Heuchelei und Widersprüchlichkeit der Mainstream-Klimapolitik als Antrieb für die Wähler in Richtung der extremen Rechten. Auf die Klimakrise zu schimpfen, aber nichts dagegen zu tun, ist auf Dauer unerträglich. Das Versagen der Liberalen lässt Trump ehrlich aussehen. Er mag die Wissenschaft leugnen, aber zumindest ist er sich selbst treu.

Die militanten Aktivisten von Ende Gelände waren in den direkten Aktionstechniken der Anti-Atomkraft-Bewegung geschult worden, aber jetzt war es die Mobilisierung von Schulkindern, die von Greta Thunberg und Fridays for Future inspiriert wurde, die den Weg wies. Ein Schulstreik mit 1,4 Millionen Teilnehmern – der größte koordinierte Jugendprotest der Geschichte – fand am 15. März 2019 statt. Darauf folgte eine Reihe von Protesten im gesamten Vereinigten Königreich durch Extinction Rebellion. Im September 2019 zählte die Freitagsstreikbewegung weltweit vier Millionen Demonstranten, ein Drittel davon in Deutschland. 

Doch zur Enttäuschung von Malm und vielen in der Ende Gelände-Bewegung zeigte Fridays for Future kein Interesse an direkten Aktionen. Die protestierenden Schüler hielten sich an die Tradition der lauten Straßendemonstrationen. Wie Malm bemerkt, folgte XR in Großbritannien den jüngsten Mobilisierungen in den USA, indem es sich gegen gewaltsame Aktionen positionierte.

Die Frage, die How to Blow up a Pipeline umtreibt, ist, warum die neuen Protestbewegungen im Jahr 2019 trotz ihres Ausmaßes und ihrer Dynamik nicht die Techniken der physischen Behinderung und Störung anwenden, die Ende Gelände erfolgreich vorgemacht hat. Ein Teil der Antwort ist moralischer Natur. Vor allem die US-Bewegung hat sich gewaltfreien Methoden verschrieben.

Einige argumentierten, dass Angriffe auf Eigentum nur eine schmerzhafte und repressive Gegenreaktion hervorrufen würden, und in der Tat wurde Jessica Reznicek, die zusammen mit Ruby Montoya eine Sabotagekampagne gegen die Dakota Access Pipeline durchführte, in diesem Sommer zu acht Jahren Bundesgefängnis verurteilt.

 Aber, wie Malm argumentiert, wurden diese vertrauten taktischen Bedenken in der aktuellen Phase der Klimabewegung durch eine eigentümliche Lesart der Geschichte verstärkt, in der die Macht der Selbstbeherrschung und Gewaltlosigkeit fetischisiert wird. Die neuen Bewegungen, so schreibt er, berufen sich auf „historische Präzedenzfälle – Menschen, die gegen eine aussichtslose Situation gewinnen, große Übel, die plötzlich ein Ende finden -, die die Macht der Apathie brechen können“:

Wenn sie sich durchsetzen konnten, so die Argumentation, dann können wir das auch. Wenn sie die Welt mit allen Mitteln außer Gewalt verändert haben, dann werden wir sie auch retten. Der Analogismus ist zu einer der wichtigsten Argumentationsweisen und zur Hauptquelle des strategischen Denkens geworden, am deutlichsten bei XR, der seltenen Organisation, die sich als Ergebnis historischer Studien definiert. 

Man beachte, dass das Argument nicht lautet, dass Gewalt zu diesem bestimmten Zeitpunkt schlecht wäre – etwa, weil das Niveau des Klassenkampfes im globalen Norden so niedrig ist, dass abenteuerliche Aktionen ihn nur zurückwerfen und weiter unterdrücken würden: Worte, die nie über die Lippen von XR kommen würden -, noch dass sie nur unter Bedingungen schwerer Unterdrückung sinnvoll sein könnte. Stattdessen vertritt der analogistische strategische Pazifismus die Ansicht, dass Gewalt in allen Situationen schlecht ist, weil die Geschichte dies zeigt. Der Erfolg gehört den Friedlichen. Die Liste der historischen Analogien beginnt mit der Sklaverei.

Aber, wie Malm betont, ist die Aneignung der Geschichte durch die Klimabewegung einseitig gewesen. Wie kann man die Suffragetten-Bewegung ernst nehmen, ohne ihren Einsatz von direkten Aktionen und Sabotage zu betonen? Noch grotesker ist es, die Abschaffung der Sklaverei so darzustellen, als sei sie durch den hohen Moralismus der Quäker-„NGOs“ erreicht worden und nicht durch die Rebellion der Sklaven oder das radikale Beispiel der militanten Abolitionisten.

Indem die Klimabewegung direkte Aktionen ausschließt, beraubt sie sich nach Malms Ansicht ihres einzigen ernsthaften Druckmittels. Was wir brauchen, so Malm, ist nicht die langsame Veränderung der öffentlichen Meinung und Wahlergebnisse, sondern eine umfassendere „Theorie der Veränderung“:

Diese Millionenbewegung sollte zunächst einmal Folgendes tun: Das Verbot verkünden und durchsetzen. Neue CO2-emittierende Geräte beschädigen und zerstören. Setzen Sie sie außer Betrieb, nehmen Sie sie auseinander, demolieren Sie sie, verbrennen Sie sie, sprengen Sie sie. Lassen Sie die Kapitalisten, die weiter in das Feuer investieren, wissen, dass ihre Immobilien zerstört werden. Wir sind das Investitionsrisiko“, lautet ein Slogan von Ende Gelände, aber das Risiko muss eindeutig höher sein als ein oder zwei Tage Produktionsunterbrechung pro Jahr. 

Wenn wir von einem korrupten Kongress keine ernsthafte Kohlenstoffsteuer bekommen können, können wir mit unseren Körpern de facto eine erzwingen“, hat Bill McKibben argumentiert, aber eine Kohlenstoffsteuer ist so 2004. Wenn wir kein Verbot durchsetzen können, können wir ein De-facto-Verbot mit unserem Körper und allen anderen notwendigen Mitteln durchsetzen.

Malm ist sich bewusst, dass eine solche Taktik die Gefahr birgt, Unterstützung zu verprellen, die Medien zur Denunziation einzuladen und massive Repression zu provozieren. Er räumt ein: „Klimamilitanz müsste sich in einer breiteren antikapitalistischen Bewegung artikulieren, ähnlich wie bei früheren Umwälzungen der Produktionsweisen, als physische Angriffe auf die herrschenden Klassen nur einen kleinen Teil der gesamtgesellschaftlichen Umstrukturierung ausmachten. Wie könnte das geschehen? Das kann man nicht im Voraus wissen. Man kann es nur durch das Eintauchen in die Praxis herausfinden“. Dies sind die Worte eines revolutionären Kaders, der auf Nummer sicher gehen will.

Da das Ziel einer umfassenden Dekarbonisierung in weiter Ferne liegt, kommt es weniger auf das Ziel als auf die Art der Politik an. Angesichts der Realität des zugrunde liegenden Konflikts sind Spaltung und Streit nicht zu bedauern, sondern zu begrüßen – eine wesentliche leninistische Lektion. Eine antagonistische Haltung ist nicht mehr als eine angemessene Reaktion auf die Situation. Wie Malm und das Kollektiv in White Skin, Black Fuel schlussfolgern, „sollte die Anti-Klimapolitik der extremen Rechten zumindest jede verbleibende Illusion zerstören, dass fossile Brennstoffe durch eine Art sanften, vernünftigen Übergang aufgegeben werden können …

Ein Übergang wird durch intensive Polarisierung und Konfrontation erfolgen, oder er wird überhaupt nicht stattfinden. Unter diesem Gesichtspunkt stellt sich nicht die Frage, ob liberale Aktivisten Sabotage betreiben wollen oder nicht. Wenn wir unseren derzeitigen Kurs beibehalten, wird es Sabotage geben. Wenn sie nicht von oben gesteuert wird, wird sie von unten heraufsprudeln. Die Frage ist, ob sich die etablierte Klimabewegung auf die bevorstehenden quälenden Dilemmata vorbereiten kann. Kann sie ihren Zusammenhalt und ihre Dynamik angesichts von Krise, Gewalt, Spaltung und – sehr wahrscheinlich – Niederlage aufrechterhalten?

An diesem Punkt kehren die Dramen der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts zurück, um Malms Zukunftsvision heimzusuchen – nicht als Inspiration für eine Revolution, sondern als eine Möglichkeit, dem Widerstand einen Sinn zu geben, der letztlich vergeblich sein könnte. Stellen Sie sich vor, dass wir uns nicht mehr in der Welt der Schulstreiks und UN-Konferenzen befinden. Stellen Sie sich vor, dass nach dem Abschmelzen der Eiskappen und einem dramatischen Zusammenbruch der Zivilisation eine Gruppe von Menschen in nördlichen Breitengraden ihr Dasein fristet. 

Was werden sie ihren Kindern über diese Katastrophe erzählen? Werden sie sagen, dass „die Menschheit das Ende der Welt in perfekter Harmonie herbeigeführt hat? Dass alle bereitwillig vor den Öfen Schlange standen? Oder dass einige Menschen wie Juden gekämpft haben, die wussten, dass sie getötet werden würden?

Die „Juden“, an die Malm denkt, sind die Widerstandskämpfer im Warschauer Ghetto und in den Lagern, die sich heldenhaft, aber zum Scheitern verurteilt gegen die Nazis auflehnten. Und er meint diese außergewöhnliche Analogie ernst: Wenn es zu spät ist, den Widerstand im Rahmen eines unmittelbaren Nützlichkeitskalküls zu führen, ist es an der Zeit, die Grundwerte des Lebens zu verteidigen, auch wenn dies nur bedeutet, zum Himmel zu schreien. Er zitiert Alain Brossat und Sylvie Klingbergs Revolutionäres Jiddischland: 

„Ihr Kampf galt der Geschichte, der Erinnerung … Diese Bejahung des Lebens durch Opfer und Kampf ohne Aussicht auf Sieg ist ein tragisches Paradoxon, das nur als ein Akt des Glaubens an die Geschichte verstanden werden kann“. Lieber bei der Sprengung einer Pipeline sterben“, schließt Malm, „als teilnahmslos zu verbrennen“. So kehrt das Bild der Sprengung einer Pipeline zurück, jetzt nicht mehr als Sabotageakt, sondern als Selbstaufopferung. An diesem Schnittpunkt zwischen einer monumentalen Vergangenheit und einer dunklen Zukunft geraten wir in eine Sackgasse.

Zu Beginn von How to Blow up a Pipeline deutet Malm eine Alternative an. Man stelle sich vor, schreibt er, dass die Massenmobilisierungen des jüngsten Protestzyklus nicht mehr zu ignorieren sind.

Die herrschenden Klassen fühlen sich so unter Druck gesetzt – vielleicht schmilzt ihr Herz sogar ein wenig beim Anblick all dieser Kinder mit handgeschriebenen Plakaten -, dass ihre Verstocktheit nachlässt. Neue Politiker werden ins Amt gewählt, vor allem von grünen Parteien in Europa, die ihre Wahlversprechen einlösen. Der Druck wird von unten aufrechterhalten. Es werden Moratorien für neue Infrastrukturen für fossile Brennstoffe erlassen.

Deutschland leitet den sofortigen Ausstieg aus der Kohleproduktion ein, die Niederlande ebenso für Gas, Norwegen für Öl, die USA für alle oben genannten; es werden Gesetze und Planungen für die Senkung der Emissionen um mindestens 10 Prozent pro Jahr eingeführt; erneuerbare Energien und öffentliche Verkehrsmittel werden ausgebaut, pflanzliche Ernährung gefördert, generelle Verbote fossiler Brennstoffe vorbereitet.

Sollte dies der Fall sein, räumt Malm ein, „sollte die Bewegung die Chance haben, dieses Szenario zu verwirklichen“.

Die Mehrheit der Klimaaktivisten setzt ihre Hoffnung in diese reformistische Vision: Wir sollten in der Tat daran festhalten. Aber wir sollten uns auch eingestehen, dass diese Zeilen, obwohl sie erst vor wenigen Monaten gedruckt wurden, bereits veraltet erscheinen. Und Malm liefert uns bald eine Vision, die der heutigen Welt viel näher kommt. Stellen Sie sich vor, „in ein paar Jahren wachen die Kinder der Thunberg-Generation und der Rest von uns eines Morgens auf und stellen fest, dass es immer noch so weitergeht wie bisher, ungeachtet aller Streiks, der Wissenschaft, der Appelle, der Millionen von Menschen mit bunten Kostümen und Transparenten … Was sollen wir dann tun?‘

Der Zentrist wird zur Geduld raten. Alles, was wir tatsächlich tun können, können wir uns leisten, sagte Keynes. Umgekehrt, so fügte er in einer Radioansprache im Frühjahr 1942 hinzu, können wir uns alles leisten, was wir tatsächlich tun können, sofern wir geduldig bleiben und uns die nötige Zeit nehmen. Das ist eine vielsagende Einschränkung. Wie Malm anmerkt, ist es eine Grundannahme der Sozialdemokratie, dass sie die Geschichte und die Zeit auf ihrer Seite hat.

Aber sich einzubilden, dass dies immer noch der Fall ist, so zu reden, als könnten wir sicher zwischen kurz-, mittel- und langfristig unterscheiden, ist eine der heimtückischsten Formen der sanften Verleugnung, die heute am Werk ist. Wir sollten uns das nicht länger gefallen lassen.

Wie Malm hervorhebt, hat der Neoliberalismus immer wieder Wege gefunden, über seinen eigenen Schatten zu springen, um einer Krise in dem Umfang und Tempo zu begegnen, wie es die Situation erfordert. Die Reaktion auf die Pandemie hat genau diese Flexibilität bewiesen. Doch wenn wir uns auf diese Art von Politik verlassen, wenn es um den Klimawandel geht, ist das ein Rezept für eine planetarische Katastrophe. Malm zwingt uns, uns einer entscheidenden Frage zu stellen: 

Was ist die sozialdemokratische Politik des Notstands? Wenn seine Version des ökologischen Leninismus abzulehnen ist, was ist dann unsere Handlungslogik im Angesicht der Katastrophe? Was sind unsere politischen Optionen, wenn alles darauf hindeutet, dass uns nur noch sehr wenig Zeit bleibt? Wie Daniel Bensaïd in einem von Malm zitierten Aufsatz in Erinnerung ruft, machte Lenin 1914 eine Notiz am Rande von Hegels Die Wissenschaft der Logik: „Brüche in der Gradualität … Allmählichkeit erklärt nichts ohne Sprünge. Sprünge! Sprünge! Sprünge!‘

MB., 22.11.2022

Literatur: z.B. Friedensgutachten: https://www.transcript-verlag.de/media/pdf/71/43/11/oa9783839453810SBGK0JhNcMikh.pdf

https://www.blaetter.de/ausgabe/2023/januar/ukrainekrieg-und-klimakrise-die-geschuerte-polarisierung