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Allgemein/Politik/Geschichte

Oh, Europa

Es ist zur Zeit nichts da außer Geld. So scheint es. Das ist vielleicht der kleinste gemeinsame Nenner der sogenannten Europäischen „Union“. Ich nenne sie so in Anführungszeichen, weil es eine Union, die Einstimmigkeit bei der Abstimmung über eine Änderung ihrer Verfassung fordert, in keiner Verfassung eines Staatenbundes auf der Welt gibt und geben kann. 

Zu Recht. Denn Einstimmigkeit und Einheit schließen sich aus. Das Prinzip der Einstimmigkeit war aber das einzige europäische Signal, was die „großen“ Politiker meiner Generation bisher vollbrachten. Die Einstimmigkeit jeder Vertragsänderung ist festgemauert, und zwar in folgenden Bereichen:

1. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (mit Ausnahme einiger eindeutig festgelegter Fälle, in denen eine qualifizierte Mehrheit erforderlich ist, etwa die Ernennung eines Sonderbeauftragten)

2. Bürgerrechte (Gewährung neuer Rechte für EU-Bürger)

3. EU-Mitgliedschaft Harmonisierung nationaler Rechtsvorschriften über indirekte Besteuerung

4. EU-Finanzen (Eigenmittel, mehrjähriger Finanzrahmen)

5. Einige Bestimmungen im Bereich Justiz und Inneres (europäischer Staatsanwalt, Familienrecht, operative polizeiliche Zusammenarbeit, usw.)

6. Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften im Bereich soziale Sicherheit und Sozialschutz .

Der 2009 in Kraft getretene (zeitlich letzte) europäische Vertrag (Lissabon) reduzierte zwar die Zahl der in der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 vorgesehenen Bereiche der Einstimmigkeit auf die oben genannten. Die EU bleibt aber politisch wegen des verbliebenen Einstimmigkeits-Erfordernis einer Vertragsänderung eine „Lame Duck“.

Deshalb liegt ihr Schicksal auch -am Ende- in den Händen u.a. der Autokraten (Ungarn, Polen, Tschechien usw.). Diese pfeifen auf den Rechtsstaat. Wer sie (außer ihrer eigenen Bevölkerung) zur Räson bringen will, dem wird (etwa) mit der Weigerung gedroht, dem Finanzpaket oder dem EU-Haushalt usw. nicht zuzustimmen. Geld heiligt offenbar jeden Zweck. Eine Änderung des Europäischen Vertragswerks ist deshalb dringend geboten. Es ist jetzt so, wie es ist, einfach zum Verzweifeln!

Gleichwohl ist der Wert der bestehenden Europäischen Ordnung, auch so, wie sie ist, unbestreitbar. Ihr nicht zu überschätzender Vorteil, den wir bei den augenblicklichen Konflikten der jetzigen EU leicht übersehen, liegt für die BürgerInnen im Netzwerk des europäischen Rechts. In der Letztentscheidungsbefugnis des EU-Gerichtshofs.

Die außerordentliche soziale Stabilität, die dieser rechtliche Rahmen den politisch so volatilen Gebilden der europäischen Nationalstaaten verleiht, bemerkt man vielleicht nicht im Alltag. Er verhindert indes, dass es zum Äußersten kommt. Ein Blick in die zurückliegende Katastrophen-Geschichte unseres Landes klärt darüber auf. Die Weimarer Verfassung kannte keinen Verfassungsgerichtshof, der die Grundrechte der BürgerInnen und die soziale und föderale Struktur des Landes geschützt hätte. Sie bot gegen den politischen Extremismus keinen Schutz. Dieses rechtsstaatliche Loch ermöglichte in den Finanzkrisen legale Gewalt, Terror, Massenmord und Krieg.

Die ungeheuren Vorzüge eines Rechtsstaates EU gegenüber einer (reinen) Demokratie lehrt uns übrigens die fast 2000 Jahre alte Geschichte des Neuen Testaments, worauf uns Hans Kelsens kluges Buch über „Wesen und Wert der Demokratie“ hinweist. Im 18.Kapitel des Evangelium Johannis wird eine Volksabstimmung geschildert: „Wollt ihr nun, dass ich Euch den König der Juden freigebe“, fragt Pilatus. Da schrien alle: „Nicht diesen, sondern Barabas“.

Das Risiko reiner Demokratie ist es, dass man in Kauf nimmt, das Wertvollste zu zerstören. Deshalb harren wir lieber aus im jetzigen Rechtsstaat Europa und hoffen auf die Wahl engagierter PolitikerInnen für ein zukünftiges Europa, das Sich bewähren kann in dem Dreieck US, Europa, China.

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„Schuldenphobie“- So ändern sich die Ansichten zu Staatsschulden

Sieh an, sieh an Timotheus….so ändern sich die Ansichten! 

„Abschied von der Schuldenphobie

 (Handelsblatt v.8.6.2020 S.12)

Das Konjunkturpaket ist überzeugend. Es reicht aber nicht aus, um Deutschland in die Zukunft zu führen, meint Bert Rürup.

…Das Wichtigste wäre aber eine realistische Einschätzung darüber, wer künftig die zuverlässigen (Handels-)Partner und Freunde sein werden. So mag die deutsche Exportwirtschaft im Chinageschäft zuletzt hohe Wachstumsraten erzielt haben. Doch die deutschen Exporte in die Staaten Europas waren im Jahr 2019 rund viermal so hoch wie die gesamte Ausfuhr nach Asien. Ein stabiles und prosperierendes Europa ist also gerade in einer protektionistischer werdenden Welt im ureigenen Interesse Deutschlands. Daher ist es richtig, jetzt mit einem gemeinsamen solidarischen „Wiederaufbauprogramm“ die Wirtschaft Europas nachhaltig zu stärken.

Die damit verbundenen Staatsschulden müssen von den nachfolgenden Generationen bedient werden, sind aber kein Problem, wenn das Wirtschaftswachstum höher ist als der Zinssatz für die Schulden. Da aber eine Rückkehr der Inflation auf absehbare Zeit nicht zu erwarten ist, kann die EZB ihre Nullzinspolitik noch länger fortsetzen, um die Währungsunion zusammenzuhalten und zu stabilisieren.

Es wäre also an der Zeit, dass auch die Deutschen ihre Schuldenphobie kritisch hinterfragen. Denn Staatsschulden sind per se ebenso wenig schlecht, wie Haushaltsüberschüsse zwangsläufig gut sind. Denn es spricht nichts dagegen, zukunftsträchtige und damit vorrangig den künftigen Generationen zugutekommende Investitionen auf Kredit zu finanzieren. Anders als oft behauptet ist das „Wiederaufbaupaket“ der EU keineswegs ein Programm zulasten künftiger Generationen, sondern eher eines zu deren Gunsten. Wenn die Deutschen und nicht wenige ihrer Politiker zudem noch erkennen würden, dass die Länder Südeuropas nicht nur als sonnige Urlaubsziele für sie von Interesse sind, sondern dass die eigene ökonomische Zukunft von Befindlichkeit, Zusammenhalt und Zukunftsperspektiven der gesamten EU abhängt, dann hätte die Pandemie langfristig womöglich auch etwas Gutes bewirkt. (Hervorhebung, M.B.)

Bekanntlich steckt in jeder Krise auch stets eine Chance, die es nun zu nutzen gilt.

Der Autor ist Chefökonom des Handelsblatts und Präsident des Handelsblatt Research Institute.Sie erreichen ihn unter: rürup@handelsblatt.com.“

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Corona und der Rechtsstaat

Corona: Rechtsstaat auf dem Prüfstand

21. April 2020

Peter Vonnahme

Kommen die Grundrechte unter die Räder? Zwischenruf eines Richters

Corona hat die Welt verändert wie kein Ereignis seit dem Zweiten Weltkrieg. Das gilt unabhängig davon, wie man die Gefährlichkeit des Virus und die zu seiner Abwehr getroffenen Maßnahmen einstuft. Auch wer diese für unangemessen und schädlich hält, kommt an der Einsicht nicht vorbei, dass das Virus die halbe Welt lahmgelegt hat und schon jetzt volkswirtschaftliche Schäden in Billionenhöhe verursacht hat.

Es ist nicht einfach, in dem heftigen Meinungskampf zwischen Corona-Verängstigten und Corona- Beschwichtigern einen verlässlichen Standort für die eigene Position zu finden.

Bestandsaufnahme

Auffällig ist: Noch nie in der für mich überschaubaren Zeit waren sich die für mein Wohl zuständigen politischen Instanzen so einig wie jetzt. Bürgermeister, Landrat, Ministerpräsident, Bundeskanzlerin, EU- Kommissionspräsidentin und UN-Generalsekretär stimmen in ihren Corona Bedrohungsanalysen überein und rufen zu entschiedenem Handeln auf. Wie ist diese Einigkeit zu erklären? Verfolgen sie gemeinsame Interessen und wenn ja – welche?

Meine Lebenserfahrung sagt mir, es ist wenig wahrscheinlich, dass all diese ehrenwerten Personen ausnahmslos gewissenlose Erfüllungsgehilfen von Big Pharma sind. Andere Profiteure des globalen Shutdowns vermag ich nicht zu erkennen. Nicht einmal das immer in Verdacht stehende Großkapital taugt als überzeugendes Erklärungsmuster. Denn soweit erkennbar, sind am Ende alle Verlierer, der Bettler ebenso wie der Konzernbesitzer.

Abgesehen davon, was hätten die Staatsführer dieser Welt – von Xi Jinping über Putin, Bolsonaro, Macron und Merkel bis hin zu Papst Franziskus und zur Queen – davon, wenn sie die ihrer Fürsorge anvertrauten Menschen im Gleichschritt in den wirtschaftlichen und sozialen Ruin führen? Das legt den Schluss nahe, dass die Mächtigen dieser Welt bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Persönlichkeiten und ihrer politischen Heimat eine gemeinsame politische Agenda verfolgen, nämlich die Bekämpfung einer höchst bedrohlichen Pandemie.

Selbst der tiefgründigste politische Denker der Gegenwart, Donald J. Trump, hat angesichts der Horrorszenarien von NY zwar nicht seine Großmäuligkeit aufgegeben, sich aber widerwillig den Notwendigkeiten einer Seuchenbekämpfung gebeugt.

Kurzum: Ich kann mir trotz einer über Jahrzehnte gewachsenen Politikskepsis nicht vorstellen, dass alle Verantwortungsträger dieser Welt Mitglieder eines globalen Verschwörungssyndikats sind. Noch weniger kann ich mir vorstellen, dass sie alle Opfer von neurotischen Zwangsvorstellungen sind und eine Seuche bekämpfen, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt.

Das hauptsächliche Gegenargument der Corona-Verharmloser, die Zahl der Erkrankten und Verstorbenen liege unter den langjährigen statistischen Mittelwerten, taugt nicht wirklich als Beruhigungspille. Denn zum einen stehen wir noch am Anfang eines Jahres. Zum anderen sprechen gute Gründe dafür, dass die von der Politik verordneten Abwehrmaßnahmen zu einer Verlangsamung der Virusausbreitung geführt haben. Außerdem sind die Horrorbilder von Bergamo, Brescia und NY nicht dazu angetan, die Letalität des Corona Virus in Zweifel zu ziehen. Doch noch wissen wir nicht genau, wer Recht hat und wer falsch liegt. Am Jahresende werden wir klarer sehen.

Neue Fragestellungen

Es zeichnet sich bereits ab, dass zumindest vorübergehend der Streit über die Gefährlichkeit des Corona Virus in den Hintergrund tritt. Dafür gewinnt die Frage an Gewicht, was die angeordneten Verbote für das gesellschaftliche Leben bedeuten.

Mehrere Anrufer beklagen, dass die verfassungsrechtlich verbrieften Grund- und Freiheitsrechte unter die Räder gekommen seien. Einer moniert, dass wir gerade Zeugen des Übergangs einer Demokratie in einen autoritären Staat sind. Ein weiterer äußert die Sorge, dass der Deutsche Bundestag ein Ermächtigungsgesetz für die Regierung erlassen habe. Eine Heidelberger Anwältin hat Rechtsschutz durch das Bundesverfassungsgericht beantragt. Nach ihrer Meinung drohen die „vollständige Beseitigung des Bestands der Bundesrepublik Deutschland“ und eine „beispiellose Beschränkung fast aller Grundrechte von 83 Millionen Bürgern“ und die „Errichtung eines diktatorischen Polizeistaats“. Auch wenn man diese Lagebeurteilung nicht teilt, gemeinsam ist allen Fragen die Sorge, dass der Rechtsstaat durch Corona in Gefahr ist.

Beengte Freiräume

Richtig an den aufgeworfenen Fragen ist, dass in den letzten Wochen rigoros in unsere Freiräume eingegriffen worden ist. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik sind Grundrechte so flächendeckend und so radikal eingeschränkt worden.

Als sie in das Grundgesetz geschrieben worden sind, lag Deutschland in Schutt und Asche. Heute, 70 Jahre später, stehen sie – jedenfalls nach Meinung vieler umtriebiger Blogger – nur noch auf dem Papier. Die Wohnung darf nur noch verlassen werden, wenn triftige Gründe vorliegen. Der Besuch von Kindergärten, Schulen, Unis, Gottesdiensten, Kinos, Theatern, Sportplätzen, Veranstaltungen, Gaststätten – bis auf weiteres ausgesetzt. Kein Spaziergang mehr mit Freunden, auch kein Gang zum Friseur. Nicht einmal die kranke Großmutter im Altenheim darf besucht werden. Nur gestorben werden darf noch wie bisher, aber bei der Beerdigung gelten starke Restriktionen. Heribert Prantl meint, das Virus habe nicht nur Menschen befallen, sondern auch den Rechtsstaat.

Grenzen der Grundrechte

Man muss kein Jurist sein, um zu erkennen, dass die genannten Verbote u. a. das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG), das Recht auf ungestörte Religionsausübung (Art. 4 Abs. 2 GG), die Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) und die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) einschränken.

Das besagt aber nicht, dass die Beschränkungen schlechthin unzulässig sind. Denn entgegen einem verbreiteten Missverständnis sind Grundrechte keine absoluten Rechte in dem Sinne, dass jede Einschränkung verfassungswidrig wäre.

Diese Erkenntnis ist im Grunde banal, aber sie ist kaum im Bewusstsein der Menschen. Das ist verwunderlich, denn wir kennen aus unserem Alltagsleben viele massive Begrenzungen unserer Freiheitsrechte. Kein Autofahrer darf unter Berufung auf das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit auf der linken Fahrbahnhälfte oder mit 100 km/h durch einen Ort fahren. Der Gesetzgeber hat der individuellen Freiheit durch das StVG und die StVO Beschränkungen (Verkehrsregeln) auferlegt.

Das ist kein Verfassungsverstoß. Denn die Beschränkungen sind durch das Grundgesetz gedeckt. Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG sagt wörtlich: „In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“ Weiteres Beispiel: Art. 8 Abs. 2 GG besagt: „Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.“ Auch die Eigentumsgarantie ist nicht unbeschränkt. Denn Art 14 Abs. 1 GG lautet: „Inhalt und Schranken [des Eigentums] werden durch die Gesetze bestimmt.“ Das ist der rechtliche Grund, warum wir Steuern bezahlen müssen.

Zwischenergebnis: Die genannten Grundrechte stehen unter einem verfassungsmäßigen „Gesetzesvorbehalt“. Sie dürfen vom einfachen Gesetzgeber beschränkt werden. Will der Gesetzgeber hiervon Gebrauch machen, dann muss er bestimmte im GG geregelte Schranken beachten, wie etwa das Zitiergebot, d. h. das einzuschränkende Grundrecht muss benannt werden (vgl. Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG), die Wesensgehaltsgarantie, d. h. das Grundrecht darf in seinem Kern nicht angetastet werden (vgl. Art. 19 Abs. 2 GG) oder das Übermaßverbot (Verhältnismäßigkeitsprinzip).

Bundesinfektionsschutzgesetz

Nach Ausbruch der Corona-Pandemie hat der Bundesgesetzgeber das seit 2000 geltende Infektionsschutzgesetz (IfSG) durch das „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ vom 27. März 2020 umfassend geändert. Zweck des mit „heißer Nadel“ gestrickten Gesetzes ist es, übertragbaren Krankheiten beim Menschen vorzubeugen, Infektionen frühzeitig zu erkennen und ihre Weiterverbreitung zu verhindern.

Das IfSG umfasst auf 58 Seiten zahlreiche Regelungen und Ermächtigungen der Gesundheitsbehörden zum Erlass von Einzelanordnungen (sog. Verwaltungsakte). Ferner werden die Landesregierungen zum Erlass von Rechtsverordnungen ermächtigt. § 32 IfSG regelt für diesen Fall ausdrücklich, dass die Grundrechte der Freiheit der Person (Artikel 2 Abs. 2 Satz 2 GG), der Freizügigkeit (Artikel 11 Abs. 1 GG), der Versammlungsfreiheit (Artikel 8 GG), der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Abs. 1 GG) und des Brief- und Postgeheimnisses (Artikel 10 GG) eingeschränkt werden können. Damit ist dem Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG Folge geleistet; insoweit bestehen gegen die formelle Verfassungsmäßigkeit der Beschränkungen keine Bedenken.

Landesgesetzgebung

Gestützt auf die Ermächtigung im IfSG haben die Bundesländer ergänzende Rechtsverordnungen erlassen. Daneben bestehen noch Infektionsschutzgesetze der Bundesländer, z. B. das Bayerische Infektionsschutzgesetz (BayIfSG) vom 25. März 2020. In der Zusammenschau all dieser Rechtsgrundlagen zeigt sich, dass Bund und Länder den Gesundheitsverwaltungen ein breites Instrumentarium zur Bekämpfung von Seuchengefahren zur Verfügung gestellt haben.

Die entscheidende Frage der Zukunft wird sein, ob die vielen in den Gesetzen und Verordnungen enthaltenen Regelungen auch materiellrechtlich den strengen Anforderungen des Grundgesetzes gerecht werden. Dies erfordert genaue Überprüfungen im Einzelfall. Es ist jetzt schon absehbar, dass diese Verfahren die Verwaltungsgerichtsbarkeit und das Bundesverfassungsgericht über Jahre hinaus auslasten werden.

Schwierige Abwägungen

Die Politik hatte in den letzten Wochen schwierige Abwägungsentscheidungen zwischen Gesundheitsschutz, Freiheitswunsch der Menschen, den Interessen der Wirtschaft und der Arbeitnehmer, der Schulen, der Glaubensgemeinschaften, der Kultur und des Sports sowie der öffentlichen Finanzen zu treffen. Erschwert wurde das durch den enormen Zeitdruck, unter dem angesichts der Pandemie gehandelt werden musste. Vertiefte verfassungsrechtliche Vorabprüfungen waren kaum möglich.

Bemerkenswert ist, dass die Verbote in der Gesellschaft auf große Zustimmung stießen. Oft hatte ich den Eindruck, dass die Akzeptanz umso größer war, je tiefer die Einschnitte in das Alltagsleben waren. Motto: Viel hilft viel. Aufbegehren gab es nur, als das Handy-Tracking ins Gesetz geschrieben werden sollte. Die Schriftstellerin Juli Zeh bemerkte hierzu, offensichtlich sei den Menschen ihr Handy wichtiger als ihre Bewegungsfreiheit.

Es wäre vermessen, im Rahmen dieses Artikels Aussagen zur Rechtmäßigkeit einzelner Maßnahmen zu machen. Dies schließt jedoch nicht aus, einige Prüfkriterien zu benennen:

Es besteht allseits Einigkeit, dass die Folgen der Virusbekämpfung nicht schlimmer sein dürfen als die zu bekämpfende Ursache (das Virus).

Es muss immer das mildestmögliche Mittel angewandt werden. Außerdem muss jede Einschränkung von Grundrechten geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sein. Dies wäre dann nicht der Fall, wenn ein bestimmtes Verbot nicht geeignet wäre, die Virusausbreitung zu verhindern oder wenn ein weniger stark eingreifendes Mittel denselben Zweck erfüllen würde. Besondere Wachsamkeit ist immer dann geboten, wenn die Politik ihre Maßnahmen als alternativlos bezeichnet und Zweifel mit dem lapidaren Hinweis auf die Verhältnisse in Italien oder Spanien abtut.

Eine offene Flanke der Corona-Maßnahmepakete besteht darin, dass es bei ihrem Erlass „nur“ ein paar hundert Corona-Tote in Deutschland gab. Die Grippewelle von 2017/2018 hat nach amtlichen Angaben (RKI) ca. 25.000 Menschenleben gefordert, ohne dass der Staat besondere Maßnahmen ergriffen hat. Das bedeutet, dass die jetzigen rigorosen Verbote nur dann eine innere Rechtfertigung haben, wenn die Politik in einer Prognoseentscheidung (worst case Einschätzung) mit einem dramatischen Verlauf der Corona Pandemie rechnen musste. Hierbei ist nicht der heutige Kenntnisstand maßgeblich. Vielmehr kommt es allein auf die damalige Sicht der Politik unter maßgeblicher Einbeziehung der Expertise von anerkannten Virologen und Epidemiologen an. Entscheidendes Kriterium war die Wertordnung des Grundgesetzes: im Zweifel zugunsten des Lebens und der Gesundheit.

Ein wesentliches Kriterium für die Rechtmäßigkeit von Grundrechtsbeschränkungen ist deren zeitliche Dauer. Je länger ein Versammlungs- oder Demonstrationsverbot andauert, desto gewichtiger müssen die Gründe für seine Beibehaltung sein. Denn hierbei handelt es sich um ein elementares Grundrecht, das auch oder gerade in Krisenzeiten von allergrößter Bedeutung ist. Ähnliches gilt für Beschränkungen von Gottesdienstbesuchen und Besuchen naher Angehöriger in Pflegeheimen. Es ist stets abzuwägen, ob das Ziel des Lebens- und Gesundheitsschutzes auch durch andere Maßnahmen wie etwa Besuchs- und Teilnahmebegrenzungen, Abstandsgebote und Maskenpflicht erreicht werden kann.

Der Politik ist zugute zu halten, dass sie sich von Anfang an des Spannungsverhältnisses zwischen Grundrechtsbeschränkungen und deren Dauer bewusst war. Das zeigt sich an den eng begrenzten Laufzeiten der erlassenen Verbotsregelungen. Ergänzend wird in kurzen Zeitabständen überprüft, ob und welche Verbote gelockert werden können. Das ist ein Indiz dafür, dass die Verantwortlichen an einer schnellen Beendigung des Ausnahmezustands interessiert sind. Die Gefahr eines autoritären Umbaus von Rechtsstaat und Demokratie sehe ich derzeit nicht.

Ausblick

Ich vermute, dass die Gerichte demnächst die Frage beschäftigen wird, welche rechtlichen Folgen es hat, wenn der Gesetzgeber weiterhin mögliche Schutzvorkehrungen wie etwa Masken und Tracking-App verzögert. Es ist offensichtlich, dass die Politik eine ausreichende Ausstattung des Gesundheitssystems mit Atemmasken, Desinfektionsmitteln und Geräten der medizinischen Intensivpflege verschlafen hat. China und Südkorea haben schon vor Monaten bewiesen, dass sich die Ausbreitung der Pandemie durch solche Schutzmaßnahmen entscheidend eindämmen lässt. Spätestens Ende Februar war auch hierzulande absehbar, dass Corona auf ein schlecht vorbereitetes Gesundheitssystem treffen wird.

Die Politik wird auf lange Zeit gefordert sein, eine Balance zwischen Leben und Gesundheit einerseits und Wirtschaft und Wohlstand andererseits zu finden. In einer Mail stand in größter Verdichtung, es sei die Entscheidung zwischen Opa und Bruttosozialprodukt. Das Dilemma besteht darin, dass jede Entscheidung für das Leben (etwa durch Verlängerung von Ausgangsbeschränkungen) ebendieses Schutzgut Leben auf andere Weise gefährden kann (Existenzverlust, Hunger, Gewaltexzesse, Suizide).

Lockerungen

Seit sich die Corona Ansteckungskurve etwas abgeflacht hat, werden aus bestimmten Kreisen des Handels und der Wirtschaft Lockerungsübungen gefordert. Fatal ist, je mehr darüber geredet wird, desto stärker wird der Druck auf die Entscheidungsträger. Es ist beobachtbar, dass Personen, die sich derzeit um Posten und Ämter bemühen, diesem Erwartungsdruck immer mehr nachgeben.

Gleichzeitig warnen ernst zu nehmende Wissenschaftler vor Leichtsinn in der jetzigen Phase. Eine verfrühte Öffnung der Schleusen könne zu neuen, schwer kontrollierbaren Infektionswellen führen und begleitend dazu zu Motivationsverlusten der Menschen. Deshalb empfehlen besorgte Stimmen, die Restriktionen noch ein paar Wochen beizubehalten, zumindest solange bis ein Dreierpack aus genügend Schutzausrüstung, Tracking-App und Laborkapazitäten für verlässliche Testverfahren zur Verfügung stehen. So vorbereitet lasse sich die Zeit bis zum Vorhandensein wirksamer Medikamente oder einer Schutzimpfung ohne das Risiko großer Rückschläge überbrücken.

Schlusswort

Es ist verantwortungslos zu behaupten, dass wir jetzt in grundrechtsfreien Zeiten leben. Diese vermeintlichen „Schutzpatrone der Grundrechte“ haben entweder nicht begriffen, wie Grundrechte funktionieren, oder es liegt ihnen daran, Verunsicherung zu erzeugen.

Wo Menschen handeln, geschehen Fehler. Die meisten der jetzt sichtbar gewordenen Fehler liegen ursächlich in der Vergangenheit. Neue Fehler dürften vorwiegend auf Fehleinschätzungen der aktuellen Lage oder auf juristischen Abwägungsdefiziten beruhen. Ein Hauptproblem der nächsten Zeit wird die Abgrenzung sein, was wieder erlaubt wird und was nicht. Jede Öffnung eines Teilbereichs wird Unverständnis bei denen auslösen, deren Betrieb weiterhin geschlossen bleibt.

Die Erfahrung lehrt, dass eine Befreiung von einem Verbot zehn weitere Befreiungsanträge („Bezugsfälle“) nach sich zieht, eine ertragreiche Nährwiese für Anwaltskanzleien. Das Bundesverfassungsgericht und die Verwaltungsgerichte haben inzwischen die ersten Korrekturen – vorwiegend im Bereich des Versammlungsrechts – vorgenommen. Hunderte werden folgen.

Das Frühjahr 2020 hat uns vor schwere Herausforderungen gestellt. Auch im Sommer wird es noch bedrückende soziale Abstürze geben. Und viele Menschen werden noch Opfer des Corona Virus werden. Es wird vermutlich lange dauern, bis wieder normale Verhältnisse herrschen. Mehr als das: Wahrscheinlich wird das neue Normale anders sein als es das alte war.

Aber ich bin zuversichtlich, dass der Rechtsstaat die Prüfung bestehen wird.

Peter Vonnahme war bis zu seiner Penionierung Richter am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in München. Er ist Mitglied der deutschen Sektion der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA). Von 1995 bis 2001 war er Mitglied des Bundesvorstandes der Neuen Richtervereinigung (NRV).

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Der große amerikanische Selbstbetrug

Stefan-Goetz Richter

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Habermas spricht über Corona: „So viel Wissen über unser Nichtwissen gab es noch nie“ |

FR v.10.4.2020 Habermas spricht über Corona: „So viel Wissen über unser Nichtwissen gab es noch nie“

„Jeder für Literatur anfällige Adoleszente wird seinen Nietzsche einmal laut deklamiert haben, ich auch“, sagt Jürgen Habermas.
10.04.20 11:52

Jürgen Habermas über Corona: „So viel Wissen über unser Nichtwissen gab es noch nie“

vonMarkus Schwering


Philosoph Jürgen Habermas über den aktuellen Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, und über seine frühe Impfung gegen den Sog von Nietzsches Prosa.

  • Jürgen Habermas äußert sich im Interview zur Corona-Krise
  • Er gilt als einer der bedeutendsten Philosophen der Gegenwart
  • Gesellschaftliche Folgen der Corona-Pandemie aus seiner Sicht noch nicht absehbar

Jürgen Habermas, geboren am 18. Juni 1929 in Düsseldorf, aufgewachsen in Gummersbach, hat an der Universität in Frankfurt gelehrt und lebt heute in Starnberg. Epoche machte seine diskurstheoretische Weiterführung der marxistischen Kritischen Theorie, die in eine anspruchsvolle Begründung des demokratischen Rechtsstaats mündete.


Professor Habermas, wie leben Sie persönlich in der, wie erleben Sie die Corona-Krise?

Ich kann nur sagen, was mir in diesen Tagen durch den Kopf geht. Unsere komplexen Gesellschaften begegnen ja ständig großen Unsicherheiten, aber diese treten lokal und ungleichzeitig auf und werden mehr oder weniger unauffällig in dem einen oder anderen Teilsystem der Gesellschaft von den zuständigen Fachleuten abgearbeitet. Demgegenüber verbreitet sich jetzt existentielle Unsicherheit global und gleichzeitig, und zwar in den Köpfen der medial vernetzten Individuen selbst.


Jürgen Habermas zu Corona: Gesellschaftliche Folgen nicht absehbar

Jeder Einzelne wird über die Risiken aufgeklärt, weil für die Bekämpfung der Pandemie die Selbstisolierung der einzelnen Person mit Rücksicht auf die überforderten Gesundheitssysteme die wichtigste einzelne Variable ist. Zudem bezieht sich die Unsicherheit nicht nur auf die Bewältigung der epidemischen Gefahren, sondern auf die völlig unabsehbaren wirtschaftlichen und sozialen Folgen. In dieser Hinsicht – so viel kann man wissen – gibt es, anders als beim Virus, einstweilen keinen Experten, der diese Folgen sicher abschätzen könnte. Die wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Experten sollten sich mit unvorsichtigen Prognosen zurückhalten. Eines kann man sagen: So viel Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie.


Ihr neues Buch „Auch eine Geschichte der Philosophie“ erscheint bereits in der dritten Auflage. Dabei ist Ihr Thema – das Verhältnis von Glauben und Wissen in der abendländischen Denktradition – alles andere als einfach. Haben Sie mit diesem Erfolg gerechnet?


Daran denkt man, wenn man so ein Buch schreibt, nicht. Man hat nur Angst, Fehler zu machen – man denkt bei jedem Kapitel an den möglichen Widerspruch der Experten, die ja über die Details jeweils besser Bescheid wissen.


Mir selbst ist ein didaktischer Zug aufgefallen – Wiederholungen, Rückblenden, Abstand nehmende Zusammenfassungen strukturieren das Ganze und sorgen für Atempausen. Sie wollen, wie es aussieht, dem interessierten Laien den Zugang erleichtern.


Bisher befanden sich die Leser meiner Bücher wohl meistens unter akademischen Kollegen und Studenten verschiedener Fächer, auch und vor allem unter Lehrern, von denen manche Ethik und Sozialkunde unterrichten. Aber dieses Mal ist mir während dieser ersten Monate seit dem Erscheinen im Echo der Zuschriften ein ganz anderes Leserpublikum begegnet – natürlich diejenigen, die am Thema Glauben und Wissen interessiert sind, aber auch ganz allgemein nachdenkliche und Rat suchende Personen, darunter Ärzte, Manager, Rechtsanwälte usw.. Sie trauen anscheinend der Philosophie noch ein bisschen Selbstverständigungsarbeit zu. Das befriedigt mich, weil ja eine gewisse Überspezialisierung, die dem Blick des Philosophen und dem Fach als solchem in besonderer Weise schadet, eines meiner Motive zu diesem Unternehmen war.
Jürgen Habermas: Was wir aus dem Diskurs über Glauben und Wissen lernen können

Im – auf Herder zurückgehenden – Titel Ihres Werkes irritiert mich das Wörtchen „auch“…


Das „auch“ im Titel macht den Leser darauf aufmerksam, dass dies nur eine, wenn auch neue Deutung der Philosophiegeschichte ist – neben anderen möglichen Deutungen. Diese Bescheidenheitsgeste warnt den Leser vor dem Missverständnis, eine erschöpfende oder gar definitive Geschichte der Philosophie in die Hand zu nehmen. Ich selbst folge der Interpretationslinie, wonach sich diese Geschichte aus der Perspektive eines bestimmten Verständnisses von nachmetaphysischem Denken als ein Lernprozess verstehen lässt. Kein einzelner Autor kann eine bestimmte Perspektive vermeiden; und in dieser spiegelt sich natürlich immer auch etwas von dessen theoretischen Überzeugungen. Aber das ist nur der Ausdruck eines fallibilistischen Bewusstseins und soll keineswegs den Wahrheitsanspruch meiner Aussagen relativieren.


Das „auch“ im Titel legt die Frage nahe, in welchem Verhältnis Philosophiegeschichte und die Glauben/Wissen-Thematik hier zueinander stehen. Ich habe den Eindruck, dass dieses Verhältnis nicht ganz spannungsfrei ist.


Ich bin als Philosoph an der Frage interessiert, was wir aus dem Diskurs über Glauben und Wissen lernen können. Das zwischen Kant und Hegel anhängige Problem des Verhältnisses von Moralität und Sittlichkeit nimmt gerade deshalb breiten Raum ein; denn dieses Problem hat sich aus der zugleich säkularisierenden und radikalisierenden Aneignung des universalistischen Kerns der christlichen Liebesethik herausgeschält. Der Prozess der begrifflichen Übersetzung von zentralen Gehalten der religiösen Überlieferung ist mein Thema – in diesem Fall also die nachmetaphysische Aneignung der Idee, dass alle Gläubigen eine universale und doch geschwisterliche Gemeinde bilden und dass jedes einzelne Mitglied unter Berücksichtigung seiner unvertretbaren und unverwechselbaren Individualität eine gerechte Behandlung verdient. Diese Gleichberechtigung einer Jeden ist kein triviales Thema, wie wir heute auch in der Corona-Krise sehen.


Jürgen Habermas zur Corona-Krise: Die verschiedenen Umgangsweisen der Staaten

Inwiefern?


Im bisherigen Verlauf der Krise konnte man und kann man in manchen Ländern Politiker beobachten, die zögern, ihre Strategie an dem Grundsatz auszurichten, dass die Anstrengung des Staates, jedes einzelne Menschenleben zu retten, absoluten Vorrang haben muss vor einer utilitaristischen Verrechnung mit den unerwünschten ökonomischen Kosten, die dieses Ziel zur Folge haben kann. Wenn der Staat der Epidemie freien Lauf ließe, um schnell eine hinreichende Immunität in der gesamten Bevölkerung zu erreichen, nähme er das vermeidbare Risiko des voraussehbaren Zusammenbruchs des Gesundheitssystems und damit einer relativ höheren Anteil an Toten billigend in Kauf. Meine „Geschichte“ wirft auch ein Licht auf den moralphilosophischen Hintergrund von aktuellen Strategien im Umgang mit solchen Krisen.


Zur Person
Jürgen Habermas‘ Werk „Auch eine Geschichte der Philosophie“ kam im vergangenen Herbst heraus (FR vom 12.11.2019). In zwei Bänden schildert Habermas hier die Geschichte der abendländischen Philosophie als Weg vom Glauben zum Wissen: Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, Band 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen.


Der Entwicklungspfad abendländischer Philosophie scheint bei Ihnen über alle Brüche und Neuansätze hinweg doch ein relativ konsequenter zu sein. Wird diese Folgerichtigkeit aber nicht auch mit Verlusten erkauft?

Eine konventionelle Geschichte der Philosophie ohne das irritierende „Auch“ strebt eine Vollständigkeit an, die sich, wie gesagt, ein einzelner Autor gar nicht vornehmen kann. Allerdings verrät der Anspruch, nach „Lernprozessen“ zu fahnden, so als handle es sich um eine Geschichte der Wissenschaften, eine ganz unübliche Perspektive. Diese verstößt einerseits gegen die platonistische Überzeugung, dass alle großen Philosophen auf verschiedene Weise immer nur dasselbe denken, aber andererseits auch gegen die heute vorherrschende, angeblich historisch aufgeklärte Skepsis gegenüber jedem Begriff von Fortschritt. Auch mir liegt ein geschichtsphilosophisches Fortschrittsdenken fern. Wenn man „Lernen“ im Sinne von pfadabhängigen, also Kontinuität stiftenden Problemlösungen als Leitfaden wählt, bedeutet das ja nicht, dass man der Philosophiegeschichte eine Teleologie unterschiebt. Es gibt kein Telos, das man mit einem „Blick von Nirgendwo“ erkennen könnte, sondern nur jeweils „unseren“ Blick zurück auf den Pfad von mehr oder weniger guten Gründen, aus denen die vorläufigen und dann historisch immer wieder herausgeforderten Lösungen einer bestimmten Art von Problemen aufeinander folgen.


Jürgen Habermas: Die alten Philosophen haben uns immer noch etwas zu sagen

Aber legt Ihr Buch nicht die Frage nahe, ob es im philosophischen Denken einen „Fortschritt“ gibt. Platt gefragt: Ist Kant „besser“ als Aristoteles?


Natürlich nicht – so wenig wie Einstein „besser“ war als Newton. Ich will die erheblichen Unterschiede zwischen dem philosophischen und dem wissenschaftlichen Denken nicht verwischen und möchte auch nicht im selben Sinne von „Fortschritten“ sprechen. In beiden Fällen „veralten“ nämlich theoretische Ansätze und Paradigmen auf eine andere Weise. Aber die erwähnten Autoren sind im Hinblick auf die Probleme, die sie zu ihrer Zeit im Lichte der jeweils aktuellen Fragestellungen und damals verfügbaren Informationen und Gründe gelöst haben, zu Pionieren geworden. Sie haben bisher gültige Auffassungen umgestürzt. Und sind zu klassischen Denkern geworden – wobei „klassisch“ heißt: Sie haben uns immer noch etwas zu sagen. Auch die moderne Wissenschaftstheorie knüpft noch an Einsichten der Zweiten Analytik des Aristoteles an und die moderne Ethik an Kants Begriffe von Autonomie und Gerechtigkeit – wenn auch im Rahmen veränderter theoretischer Sprachen.


Ich bemerke bei Ihnen eine – so vorderhand nicht vermutete – starke Sympathie mit den philosophischen Denkleistungen des christlichen Mittelalters. Ist diese Sympathie vielleicht das Ergebnis eines auch für Sie selbst überraschenden Lernprozesses?


Ich hatte mich in meiner letzten Vorlesung vor der Emeritierung, das ist lange her, schon einmal mit Thomas befasst. Damals war ich schon fasziniert von der konstruktiven Kraft und inneren Konsistenz dieses großartigen Systems. Nun hat mich die Lektüre von Dun Scotus und Wilhelm von Ockham ähnlich beeindruckt. Ja, das sind nachgeholte Lernprozesse, mit denen ich mich aber, wenn ich recht beobachte, nur in einen schon länger bestehenden Forschungstrend der erneuten Aufwertung des hohen, an die Moderne näher herangerückten Mittelalters einfädele.


Dennoch würde ich auf die Frage, welche Gestalt der Philosophiegeschichte in Ihrer Darstellung für Sie selbst das größte Identifikationspotenzial bereithält, antworten: Spinoza. Es gibt im Spinoza-Kapitel Strecken, bei denen ich spontan sagen würde: Da beschreibt Habermas sich selbst.


Das überrascht mich ein bisschen. Aber der Interpret kann einen Autor besser verstehen als der sich selbst. Etwas habe ich jetzt erst bei der Spinoza-Lektüre begriffen. Vor dem Hintergrund der Geschichte der Maranen – jener verfolgten, unter dem Zwang des spanischen Königs äußerlich zum katholischen Glauben konvertierten spanischen Juden – habe ich verstanden, warum Spinoza in den bürgerlichen deutsch-jüdischen Elternhäusern so vieler Intellektueller des 20. Jahrhunderts eine fast noch größere Verehrung genossen hat als Kant. Leo Strauß hat in der Einleitung zur englischen Übersetzung seines Spinoza-Buches darüber berichtet: Spinoza war eben nicht der Abtrünnige und plane Atheist, als der er zu seiner Zeit verfolgt wurde, sondern der redliche Aufklärer, der die Substanz seiner religiösen Herkunft, solange es gute Gründe dafür gibt, nicht verleugnet, sondern im Hegelschen Sinne „aufgehoben“ hat. Dafür habe ich tatsächlich Sympathien. Wirkungsgeschichtlich betrachtet, ist ja Spinozas Denken vor allem über die Naturphilosophie des jungen Schelling auch in die Anfänge der großen spekulativen Bewegung des deutschen Idealismus eingegangen.

Jürgen Habermas: Die Kirchen verlieren in der westlichen Welt an Bindung

Ausgerechnet Nietzsche, der doch gerade im Kontext der „Gott ist tot“-Theologie ausgezeichnet zum Zentralthema „Glauben und Wissen“ gepasst hätte, lassen Sie aus. Warum?


Jeder für Literatur anfällige Adoleszente wird seinen Nietzsche einmal laut deklamiert haben, ich auch. Aber nach dem Kriege war der Nietzsche, der in der NS-Zeit mit seinem sozialdarwinistisch interpretierten „Willen zur Macht“ als Staatsphilosoph gefeiert worden war, noch zu nah. Aus diesem politischen Grund war ich gegen einen andauernden Sog dieser Prosa geimpft. Auch nachdem ich seine urbanen Seiten aus der französischen Perspektive besser kennen gelernt hatte, habe ich zu diesem Autor Abstand gehalten – bis auf seine erkenntnisanthropologischen Gedanken. Auch aus sachlichen Gründen überzeugt mich die „Genealogie des Christentums“ nicht, nicht einmal als Gedankenanstoß – Nietzsche offenbart darin ein zu unfreies Verhältnis zu seinem Gegenstand. Ich interessiere mich eigentlich nur noch für einen bestimmten Aspekt seiner Wirkungsgeschichte, der aber nicht in den zeitlichen Rahmen meines Projekts gepasst hätte – und zwar für die fatale Neigung mancher Philosophen, verdrängte religiöse Erfahrungen ins Ästhetische gewissermaßen zu sublimieren.


Sie benutzen mehrmals die Formel vom „Massen-Atheismus“ in den modernen westlichen Gesellschaften. Das klingt despektierlich und könnte Ihre generelle Neigung bestätigen, sich quer zum Zeitgeist zu positionieren – also entschieden „weltlich“, als das noch nicht so beliebt war, und mit genauso entschiedener Kritik, wenn das „Weltliche“ zum unreflektierten Mainstream wird.


Damit fühle ich mich missverstanden. Mit dem soziologischen Begriff „Massenatheismus“ will ich allein auf den im ersten Kapitel behandelten quantitativen Aspekt der nachlassenden Bindungskraft der Kirchen hinweisen, den wir heute vor allem in den west- und mitteleuropäischen Gesellschaften beobachten. Sie spießen aber eine Einstellung auf, die ich selbst mit dem kritisch gebrauchten Ausdruck „säkularistisch“ bezeichnen würde.
Die Corona-Krise hat in Deutschland ihren Höhepunkt noch nicht erreicht. Trotzdem werden bereits Exit-Maßnahmen diskutiert.
Euro-Bonds, Corona-Bonds oder Anleihen? Wichtiger ist für EU-Staaten, dass sie in der Corona-Krise gemeinsame Sache machen.


Interview: Markus Schwering

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Allgemein/Politik/Geschichte

Medienliste 26.5.20

Aufsätze

Peter Bofinger, Was immer es braucht, https://www.ipg-journal.de/regionen/global/artikel/detail/was-immer-es-braucht-4219/?utm_campaign=de_40_20200403&utm_medium=email&utm_source=newsletter

Heinz Bude, Werden eine Rückkehr des Staates erleben, https://www.deutschlandfunk.de/soziologe-zu-coronakrise-werden-eine-rueckkehr-des-staates.694.de.html?dram:article_id=473427

Arne Heise, Die wirtschaftliche Entwicklung in Zeiten von Corona, https://www.spw.de/data/die_wirtschaftliche_entwicklung_in_zeiten_von_coronarev1_final.p

Dierk Hirschel, Twitter Account, https://twitter.com/dierkhirschel/status/1242725831618842624?s=21

Dirk Hirschel, Politische Lehren aus der Corona-Pandemie, https://www.spw.de/data/spw_corona_2020_final.pdf

Marc Saxer, Epochenbruch, https://www.ipg-journal.de/regionen/global/artikel/detail/epochenbruch-4170/

Stephan Schulmeister, Abschied vom Frieden, https://digital.freitag.de/1220/abschied-vom-frieden/

Daniel Stelter, Die Krise ist erst in Phase 2, ,https://www.manager-magazin.de/politik/weltwirtschaft/coronavirus-die-krise-ist-erst-in-phase-2-auf-finanzkrise-folgt-deflation-a-1305433.html

Exitstrategie

https://www.tagesspiegel.de/politik/ausstieg-aus-den-corona-beschraenkungen-forscherteam-legt-plan-fuer-ende-des-stillstands-vor/25713670.htmlAusstieg aus den Corona-Beschränkungen,

Diese Menschen haben Corona überstanden – ihre Immunität ist unser großer Schatz, https://www.stern.de/p/plus/gesundheit-wissenschaft/diese-menschen-haben-corona-ueberstanden—ihre-immunitaet-ist-unser-grosser-Schatz-9212550.html

Slow Exit, http://l.spiegel.de/LoB9riaX

So wollen Topökonomen Deutschland wieder hochfahren,https://www.spiegel.de/wirtschaft/corona-krise-so-wollen-oekonomen-deutschland-wieder-hochfahren-a-caa0cd83-87fb-4f9f-b89b-e11d68d61a15?sara_ecid=soci_upd_KsBF0AFjflf0DZCxpPYDCQgO1dEMph

Politische Einordnungen, Journalisten, Politiker, Wissenschaftler

Giogio Agamben, Wir sollten uns weniger sorgen und mehr denken, https://www.nzz.ch/feuilleton/giorgio-agamben-zur-coronakrise-wir-sollten-uns-weniger-sorgen-und-mehr-nachdenken-ld.1550672

Ruth Berschens,Ein Schub für die Integration, Handelsblatt, 20.5.20, https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-die-corona-pandemie-schweisst-die-eu-zusammen-und-eroeffnet-zukunftschancen/25842598.html

Klaus Brinkbäumer, USA:Eine ohnmächtige Nation https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-04/corona-usa-donald-trump-krise-strategie-wahrheit

Chinesische Botschaft: Offener Brief der Chinesischen Botschaft an die Bild-Chefredaktion bezüglich der Berichterstattung vom 15.4.2020, https://www.evernote.com/shard/s340/sh/62370c2e-84e9-413e-9acb-4c8eb7faa49c/fb1d4ece8fa78da9d7f354319322d2f2

ifo Institut, Die volkswirtschaftlichen Kosten des Corona-Shutdown für Deutschland: Eine Szenarienrechnung https://www.ifo.de/publikationen/2020/aufsatz-zeitschrift/die-volkswirtschaftlichen-kosten-des-corona-shutdown|

Wir sind doch nicht in Ungarn!« /»Vielleicht müssen wir sogar verschärfen« –  Die stellvertretende FDP-Chefin Katja Suding streitet sich mit dem SPD-Abgeordneten Karl Lauterbach um das richtige Maß an Einschränkungen.https://l.spiegel.de/EjxOPXPT

Benjamin Bitter, Was darf ein Leben kosten?, https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/corona-und-die-wirtschaft-was-darf-ein-leben-kosten-a-29353c88-18f7-4677-9b6a-210aed574386?sara_ecid=soci_upd_KsBF0AFjflf0DZCxpPYDCQgO1dEMph

Forscherteam legt Plan für Ende des Stillstands vor, https://www.tagesspiegel.de/politik/ausstieg-aus-den-corona-beschraenkungen-forscherteam-legt-plan-fuer-ende-des-stillstands-vor/25713670.html

Jürgen Habermas, Soviel Wissen über das Nichtwissen gab es noch nie, https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/juergen-habermas-coronavirus-krise-covid19-interview-13642491.html?utm_source=pocket-newtab

Kritische Denker dringend gebraucht, https://www.deutschlandfunk.de/corona-politik-kritische-denker-dringend-gebraucht.720.de.html?dram%3Aarticle_id=473522

Die Grenzen des Nachbaren, https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8231/

Wilhelm Heitmeyer, Solidarität verändert keine Strukturen, https://www.deutschlandfunk.de/corona-pandemie-soziologe-solidaritaet-veraendert-keine.694.de.html?dram:article_id=474121

Jung,Alexander, Schießl, Michaela,Was kommt, wenn Corona geht? Nie war die Gelegenheit günstiger, die Wirtschaft radikal umzubauen, behaupten die Bestsellerautorin Maja Göpel und der Politologe Christian Felber. Das sind ihre Konzepte.

https://www.spiegel.de/wirtschaft/corona-krise-als-chance-weniger-wachstum-mehr-gemeinwohl-a-00000000-0002-0001-0000-000171037333

Oliver Kalkofen, Virale Worte zum Virus, https://www.youtube.com/watch?v=dSF9KNW4qfc&fbclid=IwAR3p1VJ2FyEeABYpmJBOhK7KYViJ7xlh62931CshNq4z54K4Xrda3-VHL1I

Gabriel Leung, Dies ist ein Marathon, https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/corona-epidemiologe-leung-warnt-vor-lockerung-sie-muessen-den-vorschlaghammer-einsetzen-a-00000000-0002-0001-0000-000170518605

Julia Merlot, Flirt mit einer vermeintlich einfachen Lösung, https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/coronavirus-ist-eine-kontaktsperre-nur-fuer-risikogruppen-eine-alternative-a-0f25ccea-780b-47ce-a06f-f76e98e6924d

Armin Nasehi, Es passiert gerade etwas, von dem wir immer gesagt haben:Das geht nicht. https://www.spiegel.de/kultur/soziologe-ueber-corona-ich-freue-mich-wenn-die-normalen-krisen-wieder-da-sind-a-72abdc71-b2a3-4bdf-9964-c34ff33e24b8

Stefan Reinecke, TAZ v.29.3.20, Was wir aus der Corona-Krise lernen können, https://taz.de/Stefan-Reinecke/!a46/

Stefan-Goetz Richter, Der große amerikanische Selbstbetrug, https://www.handelsblatt.com/meinung/gastbeitraege/gastkommentar-der-grosse-amerikanische-selbstbetrug/25748480.html

Olaf Scholz, Keine Lockerungen der Restriktionen aus wirtschaftlichen Gründen, https://www.rnd.de/wirtschaft/scholz-zu-corona-keine-lockerungen-der-einschrankungen-aus-wirtschaftlichen-grunden FJH4ZN2KYZE7BAEEV3SMVPPIGA.html#Echobox=1585469834

Siemons, Mark, Die Zweiteilung der Welt, FAZ.Net,v.23.5.2020,https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/welche-bedrohung-die-abkopplung-des-westens-von-china-birgt-16782728.html

Thomas Straubhaar, Lässt sich die Weltwirtschaft einfrieren?, https://www.google.com/url?sa=t&source=web&cd=6&ved=2ahUKEwihpsK48cXoAhVR4qQKHdPHDJEQFjAFegQIBBAB&url=https%3A%2F%2Fwww.rnd.de%2Fwirtschaft%2Fcoronakrise-lasst-sich-die-weltwirtschaft-einfrieren-2WMOKU2BWNAGBNXOQE7ONM7P6A.html&usg=AOvVaw07ig45hlOJ02i79ZGc7BMk

Heiko Werning, Wo Alte sterben sollen, https://www.taz.de/!5671164

Heinrich August Winkler, Plädoyer für einen neuen Lastenausgleich, https://m.tagesspiegel.de/kultur/plaedoyer-fuer-einen-neuen-lastenausgleich-der-historiker-heinrich-august-winkler-fordert-corona-soli/25692726.html?utm_referrer=http%3A%2F%2Fm.facebook.com

Wirtschaftlich Implikationen der Corona-Krise und wirtschaftspolitische Maßnahmen, https://www.iwkoeln.de/fileadmin/user_upload/Studien/policy_papers/PDF/2020/IW-Policy-Paper_2020-COVID.pdf

Verfassungspolitik/Verfassungsrecht

BVerfG: Gottesdienstverbot bedarf als überaus schwerwiegender Eingriff in die Glaubensfreiheit einer fortlaufenden strengen Prüfung seiner Verhältnismäßigkeit anhand der jeweils aktuellen Erkenntnisse, https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/bvg20-024.html

BVerfG: Erfolglose Eilanträge Covid-19, https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/bvg20-023.html

Christian Ernst, Zwei Schritte vor, einer zurück, Der lange Weg zur Versammlungsfreiheit in Corona-Zeiten, Zwei Schritte vor, einer zurück | Verfassungsblog

Zwei Schritte vor, einer zurück, Der lange Weg zur Versammlungsfreiheit in Corona-Zeiten, Zwei Schritte vor, einer zurück | Verfassungsblog

Thorsten Kingreen, Vom Schutz der Gesundheit, https://www.ipg-journal.de/regionen/global/artikel/detail/was-immer-es-braucht-4219/?utm_campaign=de_40_20200403&utm_medium=email&utm_source=newsletter

Gertrude Lübbe-Wolff, Ausgangssperre für Ältere, https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/coronakrise-ehemalige-verfassungsrichterin-plaediert-fuer-eine-ausgangssperre-nur-fuer-aeltere/25672168.html?share=fb

Peter Vonnahme, Corona und der Rechtsstaat, https://www.heise.de/tp/features/Corona-Rechtsstaat-auf-dem-Pruefstand-4706155.html?seite=all

Uwe Volkmann, Ausnahmezustand, https://www.printfriendly.com/p/g/Y6ta8L6

Regierunginformationen

Innenministerium, Wie wir Covid-19 unter Kontrolle bringen, https://media.frag-den-staat.de/files/docs/b9/ff/df/b9ffdff48c024677bfc805854953ccec/bmi-corona-strategiepapier.pdf

Zukunft-Szenarien

Hans-Jürgen Burchardt, Vom Wert der Zeit, https://www.google.com/url?sa=t&source=web&cd=1&ved=2ahUKEwiQtqCC-OnoAhXGC-wKHeILDR4QFjAAegQIARAB&url=https%3A%2F%2Fwww.fr.de%2Fwirtschaft%2Fwert-zeit-13651398.html&usg=AOvVaw3dAw5YOwkNzSqEXrpxzif4

Marco Buschmann (MdB FDP):Droht eine Revolution der Mittelschicht, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/corona-krise-droht-eine-revolution-der-mittelschicht-a-b900b343-fa69-4fb6-98e2-bb0fe4e3615c

Christian Bangel, Zu Marco Buschmann, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-03/marco-buschmann-fdp-coronavirus-arbeitsplatz-mittelschicht-sozialer-status-folgen-radikalisierung/komplettansicht

Jule Govrin, Der Markt regelt das nicht, https://www.zeit.de/kultur/2020-04/pandemie-coronavirus-kapitalismus-wirtschaft-wachstum-deutschland/komplettansicht

Barbara Haas, nach Corona: Wir werden nicht langsamer sondern noch schneller leben, https://wienerin.at/die-welt-nach-corona-wir-werden-nicht-langsamer-sondern-noch-schneller-leben?fbclid=IwAR3PM6QRENP2j0Y9LapdujTBj8BDkvkj9xsW7INbViASJFN0e7j93fS3JNM

Henrik Müller, Vom Shutdown zum Shitstorm, https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/corona-krise-und-wirtschaft-vom-shutdown-zum-shitstorm-kolumne-a-f7d85e9c-0a8c-435e-9bfe-0825b1c04443?

Matthias Horx, Die Welt nach Corona, https://www.horx.com/48-die-welt-nach-corona/

Horst Opaschowski, „Der Solitär wird zum Solidär“, https://www.fr.de/panorama/solitaer-wird-solidaer-13635382.html

David Runciman, Wir können unsere gute alte Demokratie nicht retten, https://www.spiegel.de/Politik/ausland/coronavirus-david-runciman-wir-koennen-unsere-gute-alte-demokratie-nicht-retten-a-39d74f96-c9ea-4a92-b211-1fb14ff76248?sara_ecid=soci_upd_KsBF0AFjflf0DZCxpPYDCQgO1dEMph

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Warum stehen Politiker auf dem Kopf und nicht auf dem Boden. Und warum schauen diejenigen, die auf dem Boden stehen, mit so verzerrten Weltsichten auf die Menschen?

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Allgemein/Politik/Geschichte Lübeck

Lübecks Weg in die Diktatur

 

 

 

Lübecks Weg in die Diktatur

Curtius – Possehl Briefe 1 (187-197)

Curtius – Possehl Briefe 2 (198-214)

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Allgemein/Politik/Geschichte

Geld oder Leben Teil 1: Geld

 

Geld oder Leben
1.Teil: Geld [*]

Exit-Strategie. Unter diesem Begriff wird die Frage erörtert, ob, wann und wie die Regierenden in Bund und Ländern die zur Zeit beschlossenen einschränkenden staatlichen Maßnahmen zu Covid-19 aufheben sollen.

Die Verfassungsrechtlerin Gertrude Lübbe-Wolff hat keinen Zweifel am baldigen Ausstieg aus der gegenwärtigen Covid-19 Schutzstrategie der Bundesregierung. Sie hält für diesen Fall gezielte Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen für die Risikogruppen, insbesondere die Älteren BürgerInnen, für vernünftig. „Es gibt die günstigste Kombination von Vorbeugung gegen eine Überlastung des Gesundheitssystems und Vermeidung sonstiger unter anderem wirtschaftlicher existenzieller Schäden.“ (https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/coronakrise-ehemalige-verfassungsrichterin-plaediert-fuer-eine-ausgangssperre-nur-fuer-aeltere/25672168.html?share=fb).

Aus zwei Gründen kommt es auf die Meinungsbildung der Verfassunsjuristen an: Erstens wird am Ende des parteipolitischen Diskurses über die Maßnahmen zu Covid-19 das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Frage der Arrestierung einer bestimmten Menschengruppe von Staats wegen zu entscheiden haben. Zweitens wird das BVerfG keine Entscheidung im luftleeren Raum treffen. Das Gericht wird vielmehr „vernünftig“ entscheiden.

Eine juristische Entscheidung ist nach Auffassung der Zunft der Verfassungsjuristen im allgemeinen dann vernünftig, d.h.richtig , wenn die Zunft die Entscheidung für richtig oder vernünftig hält. Unter Juristen nennt man diese Art der juristischen Entscheidungs-findung das Urteilen im Sinne der herrschenden Meinung (h.M.). Diese h.M. hat als verfassungsrechtlicher Maßstab in den Ministerien bei der Entscheidungsvorbereitung erheblichen Einfluss.

Unabhängig von der Prognose auf ein verfassungsgerichtliches Entscheiden, steht die Frage, ob denn die Annahmen zutreffen, die aus Sicht der Befürworter einer Arrestierung der Risikogruppen, diese rechtfertigen würden. Deren Argument für solche Eingriffe ist recht schlicht: „Wo es der Gesundheit und Sicherheit aller nützt, sollte die Einschränkung der Grundrechte einer Teilgruppe kein Tabu sein.“ Oder noch einfacher „Not kennt in diesem Fall kein Gebot.“

Entscheidend ist danach zunächst die Einschätzung der EntscheiderInnen zur Lage des „Gesundheitssystems“ und des Standes der „in der BRD wirtschaftlich existenziellen Schäden“, also des hinzunehmenden Maßes der „bundesdeutschen Not“.

Der Ökonom Hans-Joachim Voth hat die Frage, wie lange die Volkswirtschaft der Bundesrepublik den sogenannten Lockdown durchhalten kann, so beantwortet: „ Alles hängt davon ab, wie lange der Ausnahmezustand dauert. Ich würde schätzen, zwei oder drei Monate vielleicht, aber bei sechs bin ich mir nicht mehr so sicher. Irgendwann kann der Staat nicht mehr jeder von Pleite bedrohten Firma eine Garantie geben. Das würde auch die Wirtschaftskraft der Bundesrepublik übersteigen.“ (https://www.google.com/url?sa=t&source=web&cd=1&ved=2ahUKEwicqLCMmcnoAhWMCwKHcbzBu8QFjAAegQIBhAB&url=https%3A%2F%2Fwww.spiegel.de%2Fwirtschaft%2Fcorona-pandemie-oekonom-hans-joachim-voth-wir-koennten-eine-virtuelle-pestmauer-bauen-a-acd3a316-c77a-4654-9538c30228a4462f&usg=AOvVaw3SDKkZlPnaNy5JP37Kjp-T)

Wir werden also – folgen wir Hans-Joachim Voth – spätestens im August oder September 2020 mit dieser ökonomischen „Notlage“ rechnen müssen. Warum diese dringende Lage von den Regierenden nicht schon jetzt (d.h. noch rechtzeitig) vorbeugend erörtert wird, hat seinen Grund offenbar in der Logik der politischen Verhältnisse. Eine Ausgangssperre für über 65jährige bedarf bei der Größe und Bedeutung dieser Wählergruppe (16,5 Millionen oder 21% der Gesamtbevölkerung) gezielter sozialpsychologischer Vorbereitung.

Die Bereitschaft zum freiwilligen Verzicht auf die Grundrechte, so hofft man nicht zu Unrecht, werde sich bei den SeniorInnen im Laufe der nächsten Monate über den ansteigenden politischen Handlungsdruck ergeben, gewissermaßen als Einsicht in das Unvermeidliche.

Vielleicht glaubt man auch, ein breites Lostreten der Exit-Strategie führe zur Zeit bei den Jüngeren zu unvernünftigem Verhalten und der Prozess werde dann gesellschafts-politisch nicht mehr steuerbar. Vielleicht glaubt die politische Elite aber auch an etwas völlig Anderes.

Jeder oder jedem, der gestern Abend (1.4.2020 nach der Tagesschau) Sandra Maischberger angeschaltet hat, wird die wiederholte Weigerung des niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil auf die Frage der Moderatorin zu antworten, warum die Bundeskanzlerin die Erörterung der Exitstrategie heute und jetzt strikt ablehnt, aufgefallen sein.

Stephan Weil, bekannt für seine geschmeidigen sprachlichen Wendungen, wenn er eine Thematik umgehen will, beharrte ungewöhnlich penetrant und einsilbig auf dem Satz, die Frage stelle sich nicht. Es gehe jetzt darum, sich voll und ganz auf die Maßnahmen zu konzentrieren, die der Abflachung der Todesrate dienten.

Dieses penetrante Schweigen der Regierungen, lässt indes etwas anderes vermuten. Es scheint so, als bereite das Maßnahme-Kabinett, d.h. die Gesamtregierung aus Bund und Ländern (Bundesregierung und Ministerpräsidenten der Bundesländer), längst den Showdown vor. Warum der Showdown allerdings als geheime Verschlusssache gehandelt wird, oder behandelt werden muss, liegt möglicherweise an der prekären (geheimen) Informationslage der Regierenden. Denn anders lässt sich nicht erklären, warum die Bundeskanzlerin befürchtet, bei einer verfrühten Erörterung der Schicksalsfrage „Geld oder Leben“, nicht mehr Herrin des dadurch ausgelösten medialen Feuerwerks zu sein.

Hinzu kommt Folgendes. Der Innenminister, der sich zur Zeit auffallend zurückhält, musste vor kurzem einen Strategiewechsel im Bundesamt für Verfassungsschutz vornehmen, von Hans-Georg Maaßen zu Thomas Haldenwang. Abgekürzt gesagt, von Rechts außen zur politischen Mitte. wiederum warnt als eine der ersten seiner bemerkenswerten strategischen Äußerungen vor der rechtsrextremistischen und gewaltaffinen Szene in der Bundesrepublik, vom Höcke-Flügel, d.h. der AfD bis zu den völkischen Reichsbürgern. Deren eine Gruppierung, wurde, was noch mit Maaßen nicht machbar gewesen wäre, wenn auch mehr als 10 Jahre zu spät, endlich gerade verboten.

Folgt man diesen Argumenten, steht uns aus Sicht der Elite ein Horrorszenario aus vier Faktoren bevor:

1. Eine nicht beherrschbare Medienlage,
2. eine gewaltbereite Szene, die in ihren Netzwerken die Machtübernahme im bevorstehenden Endkampf um um die völkische Einheit Deutschlands durchspielt,
3. eine ökonomische Lage, die aus Sicht der staatlichen und gesellschaftlichen Elite „alternativlos“ ist und
4. die Bevölkerungsgruppe der Senioren, die mit 16,5 Millionen oder 21,5% der Gesamtbevölkerung auch noch als maßgebliche Wählerschaft der GROKO vom Showdown maßgeblich betroffen sein wird.

Die beschriebene Lage wird aus Sicht der maßgeblichen und verunsicherten politökonomischen Elite nur in ihrem Sinne entscheidbar sein, wenn die ihr zur Verfügung stehenden Kräfte geeint und auf das Äußerste vorbereitet sind. Das betrifft nicht nur das Gesundheitswesen. Das bezieht die Träger der konstitutionellen Gewalt, Verwaltung, Polizei und Bundeswehr mit ein. Deshalb braucht die Vorbereitung dieser Entscheidungslage vor allem zwei Dinge Zeit und Geheimhaltung.

Beides ist indes nur zu haben, wenn im Dazwischen für hinreichende Ablenkung gesorgt ist: die scheinbare Herrschaft der Virologen über das kaputtgesparte Gesundheitssystem. Nur weil alltäglich die bedrückende Corona-Todeslage lokal, national und international die gesamte mediale Öffentlichkeit bestimmt, und nur so lange das der Fall ist, kann man in der nötigen Ruhe die Vorbereitungen treffen. Deshalb darf da nichts anderes dazwischen kommen.

Das ist der nicht unwahrscheinliche Grund für das gesammelte Corona-Schweigen. Die voraussehbare Entscheidung der politikökonomischen Elite über das Ob und Wie dürfte im Grundsatz längst gefallen sein. Es geht ums Geld und nicht ums Leben. Die dazugehörigen Maßnahmen stehen in dem Artikel „Die Grenzen des Machbaren“ (https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8231/). Sie brauchen die knappe Resource Zeit. Und die verfassungsrechtliche Einordnung ist eingangs hinreichend beschrieben.

Die Aussage des früheren Präsidenten des BVerfGs  Hans-Jürgen Papier, selbst in Kriegszeiten werden die Grundrechte nicht angetastet (https://sz.de/1.4864792) wirkt eher als Beschwörung denn als Urteil. Angesichts einer Notlage wie derjenigen in New York ist diese Ratlosigkeit verständlich, aber nutzlos (https://www.spiegel.de/politik/ausland/coronakrise-new-york-city-wird-zum-epizentrum-a-2f0391f6-386a-4d1c-bdb1-9e55633bf8ef).

Das gilt auch für den sehr differenzierten Beitrag zu einzelnen Maßnahmen nach dem IfSG von Thorsten Kingreen, dem die grundsätzliche verfassungsrechtliche Einordnung fehlt (https://verfassungsblog.de/whatever-it-takes/). Diese wird dann von Uwe Volkmann in letzter Konsequenz ganz im Sinne des Vorranges des Geldes vor dem Leben, getroffen (https://www.printfriendly.com/p/g/Y6ta8L).

[*] Der Artikel beruht auf Szenarien, die hoffentlich nicht eintreten werden. Die Orbanisierung einzelner europäischer Staaten hätte allerdings vor 30 Jahren auch niemand für möglich gehalten.

Michael Bouteiller
5.4.2020

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Allgemein/Politik/Geschichte

Warum wird trotz alledem Trump gewählt?

Trotz des Corona-Desasters

FR 6.4.2020, S.5

Trotz der offensichtlichen Korruption des gesamten gesellschaftlichen und politischen Systems durch das System der Milliardäre

Weshalb sagt die WählerIn nicht