
Kategorie: Lübeck

Die LN freuen sich, dass „endlich“ etwas los ist in Lübeck. OK! Skandal, Skandal. Die LN waren immer auch ein Aktionsblatt, das – wie die Bildzeitung – nicht von der neutralen Analyse des Stadtgeschehens, sondern von der Aktion lebte, die sie selbst lostritt.
Rückblick: Am 17.7. 2021 griff die Politikredakteurin der LN, Josephine von Zastrow, in den LN (S.10) das Thema Kommunalverfassungsreform auf und erzählte das Märchen von einer Reform der Kommunalverfassung, die die kommunale Demokratie auf den Kopf stelle.
Der Artikel stänkerte gegen eine allmächtige Verwaltung, die die Aufträge der Bürgerschaft missachte und damit der Demokratie schade. Das war kein Zufall und nicht dem 25jährigen Jubiläum der Kommunalverfassung vom 19.3.1997 geschuldet, sondern ein Angriff auf Bürgermeister Jan Lindenau.
Denn anders als dessen Vorgänger straffte der am 1.Mai 2018 angetretene Bürgermeister die Lübecker Verwaltung, machte sie handlungsfähiger und verstand sich – anders als seine damalige Kontrahentin und von den LN im Wahlkampf deutlich bevorzugte Senatorin Kathrin Weiher – schon in seinem knapp erfolgreichen Wahlkampf -auf Internet basierte Kommunikationsmittel. Er bediente die „sozialen Medien“, und wurde dadurch in gewissem Maß unabhängig von dem Lübecker Monopolblatt.
Ein Jahr nach diesem Artikel vom 17.7.2021, am 29. Oktober 2022, S.12, brachte die unermüdliche Kämpferin gegen die sinkende Auflage der LN dann erneut ihre Sturmgeschütze in Stellung. Sie degradierte in einem Artikel erst den Lübecker Bürgermeister zum Senator. Dann hob sie die Senator:innen zu Senator:innen nach altem Recht an.
Diese sollten endlich die von der Lokalredakteurin neu erdachte alte Rolle, als mit dem Bürgermeister gleichberechtigte Senator:innen im (abgeschafften) Senat wahrnehmen. Denn sie seien dem Bürgermeister nicht untergeordnet, sondern ihm gleichgestellt und alleine für ihr Dezernat zuständig. Der Bürgermeister sei – wie das bis 1997 geltendes Recht war – nur „primus inter pares“.
Diese falsche Darstellung des geltenden Kommunalrechts musste die LN zwar offiziell widerrufen. Die Politik-Redakteurin ließ aber nicht locker. Sie erkor nun Jörg Sellerbeck zu ihrem Zielobjekt, da dieser sich immer schon gegen die herrschende Baupolitik gewandt hatte und von dem man sich als zukünftigem Bausenator versprach, auch gegen den Bürgermeister die Puppen zum Tanzen zu bringen.
Der Zeitpunkt schien günstig. Die Bausenator:innen-Wahl stand an und der Lübecker und CDU-Mann war zu dieser Führungsrolle bereit. Allerdings lief die Wahlvorbereitung durch seine Partei derart dilettantisch, dass auch seine Promotoren der LN eingestehen mussten: „Lübecks Senatorenwahl – eine Farce“ (LN 17.12.2022, S.9). Und so kam es dann auch.
Entgegen des Zugriffsrechts der CDU, das die Voten der SPD für den CDU-Kandidaten vertraglich zusicherte, gewann die bisherige Bausenatorin, Joanna Hagen, am 26.1.2023 die Wahl. Damit war die sogenannte GroKo aus SPD und CDU zu Ende. Der Krug der beiden Parteien war zerbrochen.
Aus Sicht der LN beginnt jetzt ein Festmahl für die Demokratie. Denn wie titelte der ebenfalls für Politik zuständige Redakteur der LN, Kai Dordowsky, am 25.2.2023, S.9:
„,.. Die GroKo aus SPD und CDU, die Mehltau über die Kommunalpolitik gelegt hatte, ist zerbrochen. Endlich wird in der Bürgerschatt wieder leidenschaftlich über Inhalte gestritten, ohne dass der Ausgang der Debatte von vorneherein feststeht. Politiker und Burger wehren sich erfolgreich gegen eine Verwaltung, die sich zu lange ihrer Sache zu gewiss war, die die kritischen Hinweise zu lange ignoriert hat und die grandios unterschätzt hat, wie wichtig Bürgern ihre Stadt ist.“
Jubel, Jubel aller Orten? Mumpitz. Denn die angeblich neu erwachte Leidenschaft in der Bürgerschaft brachte Beschlüsse zum Bau des Literaturmuseums (BBH) und zum Heiligengeisthospital (HGH) zustande, die sich als reine Luftnummern erwiesen. Für die Koalition der Stadtzerstörer:innen stand von vorneherein fest, dass die Beschlüsse – nach Aussage der Verwaltung – nicht durchführbar sind. Das alles ist in den allseits bekannten Verwaltungsunterlagen nachzulesen. Was folgt daraus?
- Kommunale rechtsstaatliche Demokratie ist nicht das, was eine Monopolzeitung zur Hebung ihrer Auflage oder ihrer finanziellen und sonstigen (politischen)
Eigeninteressen gut heißt. - Kommunale Verwaltung ist gebunden an Beschlüsse des Stadtrates, der sie beauftragt und kontrolliert. Sie ist sich auch nicht – anders als das die LN schreiben – „zu lange ihrer Sache zu gewiss“ gewesen. Denn die Gewissheit des Handelns einer Stadtverwaltung beruht ausschließlich auf Bürgerschafts-beschlüssen und sonst auf nichts.
- Bürgerschaftsbeschlüsse beruhen wiederum auf der Mehrheit der Mitglieder des Rates. Ändert sich die parteipolitische Mehrheit – wie nach der Bausenatorinnen Wahl – von SPD/ CDU zu CDU/Grüne/Sonstige, so werden die alten Beschlüsse nicht obsolet oder falsch.
- Der Wechsel der Mehrheit von SPD/CDU zu Grüne/CDU/Sonstige hat allerdings seinen politischen Preis. Das hat nichts mit Basis-Demokratie zu tun – wie uns Herr Dordowsky weiß machen will. Denn die Bürger:innen der Stadt hatten vor dem Mehrheitswechsel keine Wahl. Sie wurden auch zu den beiden Projekten
HGH und BBH nicht extra befragt. - Mit dem Mehrheitswechsel ist auch kein Signal dafür verbunden, dass sich
„Bürger“ erfolgreich gegen die Verwaltung durchsetzen. Denn „Bürger“ sind an der politischen Wende der CDU, wie gesagt, nicht beteiligt. - Die „kritischen Hinweise“, der Grünen und ihrer Klientel kommen ebenfalls nicht von anonymen Bürgern. Sie waren vielmehr von Anfang an bekannt und sind in den Beschlussvorlagen abgearbeitet.
Was heißt das jetzt für Lübeck? Die mit Hilfe der hiesigen Monopolzeitung aufgebaute Scheinwelt folgt den Szenarien des Lügenwandlers, wie er in den USA unter Donald Trump erfunden worden ist. Mit dem demokratischen Rechtsstaat hat das alles nichts zu tun. Die Symptome der Lübecker Politik: der neue Lübecker Graben, deuten vielmehr als Ursache auf den Versuch, den Lügenwandler auch in der Lübecker Lokalpolitik einzuführen.


Die Novemberrevolution 1918 brachte Lübeck zwar das demokratische allgemeine und gleiche Wahlrecht. An den Machtverhältnissen änderte sich hingegen – wie wir unten sehen werden – nichts. Weshalb Lübeck allerdings der einzige der 25 Bundesstaaten der Weimarer Republik blieb, dessen Regierung aus dem Kaiserreich sich im Amt hatte halten können, erklärt vielleicht die kluge Analyse des langjährigen Syndikus der Lübecker Handelskammer und späteren Bürgerschaftsmitgliedes Dr.Erich Wallroth (1876-1929) [„Lübecks Eigenart als Gemeinwesen. Eine Rückschau.“ Jahrgang 68, 1926, Lübeck 1927, S. 363; https://michaelbouteiller.de/erich-wallroth-luebecks-eigenart-als-gemeinwesen/].
Die wirtschaftliche, politische und kulturelle Lage des damaligen Freistaates schildert Wallroth in einem auch heute noch beachtlichen Artikel für die Lübeckischen Blätter von 1926. Im Ergebnis entwirft er das Bild eines erstaunlichen, ganz besonderen Gemeinwesens. Eines Gebildes, das in der Tat dem von Rudolf Steiner 1919 als Zukunftsmodell erdachten „Dreigliedrigen Sozialen Organismus“[Goetheanum 100 Jahre, 1919-2019, https://socialnew.goetheanum.org/de/dreigliederung/ ] entsprechen könnte. Durch dessen Wahrnehmungsfilter schreibt Erich Wallroth. Er sei hier ausführlich zitiert:
…“Dass die Arbeiterschaft im Verbande ihrer Gewerkschaften straff zusammengefasst ist, dass die Anwälte oder die Ärzte, die Kaufleute und das Gewerbe ihre „Kammern“ haben, bildet gewiss keine lübeckische Besonderheit. Schon die Handwerkerinnungen leben jedoch keineswegs nur von Gesetzes wegen. Neben diesen Innungen aber besteht, wenn wir von kleineren Ämtern absehen, zum Beispiel für die Träger im Hafen seit dem Mittelalter die „Träger-Compagnie“ und nicht minder für deren Arbeitgeber, die Reeder und Kapitäne, die etwa ebenso alte „Schiffer-Gesellschaft“ in ihrem weltberühmten Schifferhause.
„..Es ist ein in seiner sozialen Gliederung, und zwar in der Selbstverständlichkeit dieser architektonisch abgestuften Gliederung, überaus anziehendes Bild, welches aus der Vogelschau ein solcher Blick (von St.Petri herab, MB) auf die großen, kleinen und kleinsten roten Dächer der Stadt bietet. Von der St.-Lorenz-Vorstadt und wenigen Ausnahmen in den drei anderen Vorstädten abgesehen, hat man sich hier weder kasernieren noch atomisieren lassen. Jeder ist, was er ist, und jeder zeigt auch, ohne Scheu und nicht ohne gesundes Selbstbewusstsein, was er ist. Diese im Gegensatz zu abertausenden anderen großen Städten der Welt so betont und so selbstverständlich nach außen zur Schau gestellte soziale Gliederung des Stadtaufbaus findet ihr Gegenstück in der bis in die jüngste Zeit ebenso selbstbewusst ausgeprägten, korporativen Gliederung der Stadtbevölkerung selber.
Wichtiger noch sind die großen Zusammenschlüsse des Gewerbes in der „Gewerbegesellschaft“ und nicht zum mindesten des gesamten Handels einschließlich der Industrie in der „Kaufmannschaft“, endlich über alle Stände hinweg die alte und hoch angesehene „Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit“. Erst wenn man sich diese wechselvolle Buntheit des körperschaftlichen Aufbaus vor Augen hält, begreift man, warum diese Stadt als Gemeinwesen für den landfremden Preußen so stark aus dem Rahmen des ihm Bekannten heraus fallen muss.
Dem verstorbenen Philosophen Rudolf Steiner schwebte für die staatlichen Neuaufbau der Zukunft bekanntlich eine „Dreigliederung des sozialen Organismus“ vor. Entpolitisierung der Wirtschaft auf der einen, Entpolitisierung der Kulturfragen auf der anderen Seite waren für ihn wichtige, leitende Gesichtspunkte. Ob richtig oder unrichtig, gesetz- oder verfassungsmäßig ist dies meiner Überzeugung nach eine unlösbare Aufgabe. Der Streit um die Trennung der Gewalten sowie um den Schlüssel zur Lösung der Aufgabe würde nur erneut die Köpfe spalten. Näher kommen wenigstens kann man jenem Ziele wohl nur durch eine zweckdienliche Verteilung der öffentlichen Aufgaben in staatliche und korporative Aufgaben.
In Lübeck ist man freilich bis vor kurzem in dieser Entpolitisierung schon im Staate selbst noch erheblich weiter gegangen. Den großen Staatsgebilden mag die strenge parteimäßige Gliederung des Parlaments wie der Regierung eine mehr oder weniger unentrinnbare Notwendigkeit sein, so sehr man bezweifeln mag, ob die heutigen Parteischemen nicht schon vielfach Züge der Überalterung tragen. Die Anwendung des gleichen Schemas auf die begrenzten und unmittelbar praktischen Aufgaben einer Stadt oder eines Stadt-Staates ist aber vielleicht doch kein so unbedingtes Gebot der Notwendigkeit, wie es gemeinhin erscheint.
Im Lübeck der Vorkriegszeit jedenfalls spielten – abgesehen von der Sozialdemokratie, die als Vertreterin der Handarbeiterschaft und gewisser Kreise der Angestelltenschaft allerdings ihrem Kern nach eigentlich von allen Parteien die ausgeprägteste Berufsvertretung darstellt – die bekannten großen bürgerlichen Parteien für das öffentliche Leben der Stadt überhaupt keine Rolle.
Zwar war nicht die Verfassung als solche mehr berufsständischen Inhalts (abgesehen vom Senat, der sich in gelehrte und kaufmännische Mitglieder deutlich gliederte). Aber die praktische Handhabung der bürgerlichen Wahlen war es um so mehr. Denn die Aufsätze für die bürgerlichen Wahlen und damit praktisch die Wahlen selber lagen bekanntlich ganz in den Händen des alle bürgerlichen Bevölkerungsgruppen umfassenden „Vaterstädtischen Vereins“. In ihm einigten sich – im Auftrage ihrer Korporationen und Vereinigungen – die Vertreter der Gross-Kaufmannschaft und des Kleinhandels, der Gewerbe, der Grundbesitzer und der Landwirte, der gelehrten Berufe und zum Teil der Angestelltenschaft, ohne jedes Parteidogma sowohl über den Verteilungsschlüssel für die Kandidaten der einzelnen Gruppen, wie über die Wahlaufsätze selber.
Damit war der Wahlvorgang faktisch bereits im Voraus erledigt. Ein gesetzmäßig, normierter Verteilungsschlüssel bestand nur in der fraglos ungerechten politischen Kontingentierung der Bürgerschaftssitze für die kleinen Steuerpflichtigen, also zum Nachteil vor allem der Handarbeiterschaft und der ihr benachbarten Schichten. Dies zu vermeiden, wäre bei besserer Einsicht wohl möglich gewesen. An der im Kern dem sozialen Aufbau des Stadt-Staates folgenden Gliederung der Bürgerschaft hätte eine gerechte, notwendige, aber bei gutem Willen auch mögliche Korrektur jenes Fehlers an sich nichts Grundlegendes zu ändern brauchen.
Die Vor- und Nachteile dieses Zustandes gegenüber dem anderer Städte und gegenüber dem heutigen Zustand zu werten, kann natürlich nicht Zweck dieser Zeilen sein. Es genügt festzustellen, dass das innere staatliche Lübeck bis über den Weltkrieg hinaus ein von „normalen“ städtischen Gebilden gebildetes, gänzlich abweichendes Gepräge hatte und – wirklich nur trotzdem? – doch eine gesund aufstrebende Hafen-, Handels- und Industriestadt war. Dass jedenfalls die Beziehungen der Bewohner untereinander, die Harmonie ihres Zusammenlebens hiervon vorteilhaft beeinflusst wurde, werden auch diejenigen zugeben, welche die auch mit diesem politischen System fraglos verbundenen Unstimmigkeiten in den Vordergrund stellen.
Eine weitere Besonderheit im Sinne der Entpolitisierung bildete eine in dieser Ausprägung in Deutschland wohl einzigartige Überlassung wichtiger Staatsaufgaben an vorhandene korporative Organe. Zunächst auf dem Gebiet der Kulturpflege! Hier ist es die schon erwähnte so genannte „Gemeinnützige“, welche neben früheren sozialen Aufgaben, die allmählich der breiteren Schultern von Staat und Reich bedurften, kulturelle Aufgaben weittragender Art seit langem übernommen hat. Ihr anzugehören, war und ist in breiten Kreisen des lübeckischen Bürgertums selbstverständliche bürgerliche Pflicht. Von ihr wird nicht nur das Vortragswesen der Stadt in weitem Maße getragen; auch die ganze Museumsverwaltung war und ist, wenn auch mit staatlichen Zuschüssen, ihre Sache; ihr wöchentlich erscheinendes Organ, die „Lübeckischen Blätter“, sind ohne Frage von jeher der beste geistige Spiegel der Stadt, und ihre Bücherei kann sich neben anderen öffentlichen Büchersammlungen durchaus sehen lassen.
Schließlich – und zwar wiederum bemerkenswerterweise als Mitträger wichtiger Staatsaufgaben – die „lübeckische Kaufmannschaft“. Ihr Einfluss auf Staat und Verwaltung in den Hansestädten ist gewiss allgemein sehr groß, viel größer jedenfalls als irgendwo sonst im Binnenland. Darüber hinaus ist ihre besondere, in Deutschland einzigartige Aufgabe, vor allem die Verwaltung aller See- und Binnenhäfen, einschließlich der daraus sich ergebenden Nebenaufgaben, die überall sonst beim Staat oder bei der Stadtverwaltung liegen.
Wortführer der Bürgerschaft, Präses der Kaufmannschaft und Direktor der Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit war und ist wohl auch heute noch in Lübeck, die selbstverständliche Trias der höchsten Ehrenämter der Stadt. Sie ist es so sehr, dass Bürgermeister und Senatoren bekanntlich früher überaus häufig erst Mitglieder dieser Trias waren, ehe sie zum höchsten Staatsamt berufen wurden.
Es war also, um cum grano salis auf Steiner zurück zu kommen, eine immerhin beachtenswerte Annäherung zu einer „Dreigliederung des sozialen Organismus“, teils auf staatlicher, teils auf korporativer Grundlage, welche dem öffentlichen Leben Lübecks bunten und lebendigen Inhalt gab. Sie wäre, wenn auch mit unbedingt notwendigen Um- und Weiterbildungen, weiterer fruchtbarer Ausgestaltung durchaus fähig gewesen, wenn die neue Zeit etwas mehr Nährboden für das organisches Wachstum solcher geschichtlich bedingter Gebilde mit sich brächte, die in der Vergangenheit trotz allem, was man einwenden mag, doch im Kern gut und gesund, jedenfalls bodenständig waren.
In einem solchen, dem inneren Leben wie dem äußeren Bild Lübecks seinen Stempel aufdrückenden Gesamtorganismus zu leben und zu wirken hatte, trotz mancher Kleinigkeiten (die aber gewiss auch anderswo nicht fehlen), zweifellos seinen eigenen Reiz. Dieser Reiz war umso größer, als Lübeck für die berufsmäßige Wahrnehmung seiner öffentlichen Funktionen keineswegs Inzucht trieb.
An der Spitze der Geschäftsführung der Bauverwaltung, der Verwaltungsbehörde für städtische Gemeindeanstalten, des Schulwesens, der Gerichtspflege zum Beispiel standen meist auswärts erprobte Männer, denen man – ich erinnere nur an den alten Rehder – trotz aller Kollegienverfassung, einen weitreichenden Spielraum für ihre persönliche Gestaltungskraft ließ…“
Wallroth beschreibt hier das Bild eines korporativen Gemeinwesens, dessen traditionelles Vereins- und Verbandswesen die personellen Auswahlentscheidungen übernimmt. Gegensätzliche Anschauungen in Personal- und Fachfragen werden innerhalb der Institutionen abgearbeitet, so z.B. die personellen Konflikte innerhalb des Bürgertums bei der Vorbereitung von Bürgerschaftswahlen in der „Vaterstädtischen Vereinigung“. Oder die Vorschläge für die Wahl des Regierenden Bürgermeisters über die „Gemeinnützige“.
Wirkte die vorrevolutionäre „Dreigliederung des sozialen Organismus“ Wallroths hinein in die Weimarer Republik? Ja und Nein. Richtig ist, dass die patrizische Tradition und Kultur nicht nur das vorrevolutionäre Lübeck prägte. Abram Enns gibt uns einen zutreffenden Einblick in das dazugehörige verschlafene Kulturleben Lübecks vor Carl Georg Heises Dienstantritt als Direktor des St.Annen-Museums im Mai 1920 [Abram Enns, Kunst und Bürgertum. Die kontroversen zwanziger Jahre in Lübeck, Hamburg 1978, Klappentext].
Es spricht auch vieles dafür, dass es diese alte konsensuale Tradition des Lübecker Patriziertums war, die der Elite der SPD-Arbeiterschaft später, besonders unter ihrem streitbaren Anführer Julius Leber ab 1921, keine Chance auf kulturelle Teilhabe, geschweige denn politische Dominanz im Freistaat, gab. Wallroths Blick war allerdings verstellt, wenn er die aufkommende Wut der rasant wachsenden Industriearbeiterschaft Ende des 19. Jahrhunderts über die verweigerte Teilhabe am Gemeinwesen durch das Vier-Klassen-Wahlrecht* nicht wahrhaben wollte und die tiefe Spaltung der Stadtgesellschaft unterschätzte.
[* Bis zur Februarwahl 1919 konnten nur Bürger, die fünf Jahre hintereinander in Lübeck ansässig waren und Steuern gezahlt hatten, wählen. Man teilte sie aber obendrein noch in vier Klassen ein und maß Ihnen die Zahl der Mandate nach Einkommen oder Landbesitz zu. In den städtischen Bezirken hatten die Bürger mit einem Einkommen von mehr als 2000 Mark jährlich 90 Vertreter in die Bürgerschaft zu entsenden, während auf die große Zahl der übrigen Bürger ganze zwölf Sitze entfielen. Auf dem Landgebiet standen den Besitzenden zwölf Vertreter, den minderbemittelten Bürgern 3 Sitze zu, LV v.10.2.1919, S.1; Vgl. z.B.zur Bürgerschaftswahl vom 20.11.1913, Lübecker Volksbote v.20.11.1913, S.1]
Deshalb bleibt das Narrativ Wallroths vorrevolutionär, soweit er darauf abhebt, es sei ohne weiteres „bei gutem Willen“ möglich gewesen, die Ungerechtigkeit des Wahlrechts der Kaiserzeit in einem Lübecker „dreigliedrigen sozialen Organismus“ auszugleichen. Für die tiefgreifenden Konflikte der Stadtgesellschaft Lübecks, die Spaltung in Bürger (30%) und Arbeiter (70%) hatte Wallroth keinen Sinn .[Michael Bouteiller, Vom qualvollen Ende Weimars im Freistaat Lübeck 1921-1933, Schriften der Erich-Mühsam-Gesellschaft, Heft 48, Norderstedt 2022, S.30, https://michaelbouteiller.de/?p=4965] .
Denn diese lag nach wie vor ausschließlich beim Lübecker Patriziat (Possehl usw.) bzw. im Reich beim Großkapital der Siemens, Hugenbergs, Kirdorfs, Krupps, Beukenbergs [Klaus-Dieter Walter Pomiluek, Heinrich Wilhelm Beukenberg, Ein Montanindustrieller seiner Zeit, Inaugural-Dissertation, 13.2.2002, https://docserv.uni-duesseldorf.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-3646/1646.pdf]. usw. Ein gesetzlicher Umsturz der Vermögensverhältnisse wurde nach der Novemberrevolution vertagt.
Selbst die Fürstenenteignung war im Reichstag auf Antrag von KPD und SPD zwar eingebracht, scheiterte jedoch im Volksentscheid am 20. 6.1926. Eine gerechte Vermögensverteilung des bürgerlichen Großkapitals im Reich und in den Bundesländern zu fordern, war später unrealistisch. Der „werktätigen Bevölkerung“ [Untertitel des Lübeckischen Volksboten] und ihren Gewerkschaften wurde jede entscheidende Machtoption verweigert. Das war auch nach 1945 so, denn in der Währungsreform blieb das Betriebsvermögen erhalten [MB, Verfassungsgewalt, 2022, https://michaelbouteiller.de/?p=4785].
In Lübeck waren es sicher auch die führenden und gemäßigten Sozialdemokraten selbst, die es versäumt hatten, die absolute Mehrheit ihrer Mandate in der ersten Bürgerschaftswahl nach der Revolution (9.2.1919) in eine Regierungsmehrheit durch eine entsprechende Verfassungsänderung umzumünzen. Danach fanden die Sozialisten zu keinem Zeitpunkt mehr zu einer mehrheitlich sozialdemokratischen Regierung. Der Senat blieb bis zum 6.3.1933 fest in der Hand der Bürgerlichen [Michael Bouteiller, a.a.O.], die sich nach dem 1.1.1921 unter ihrem Senatspräsidenten Johann Neumann mehr und mehr an den Völkischen orientierten.
Nach dem Sturz ihres Sprachrohres, des Regierenden Bürgermeisters Johann Neumann, am 2.6.1926, wurde der von diesem maßgeblich mitgegründete Hanseatische Volksbund bei den Bürgerschaftswahlen im November 1926 zur stärksten Fraktion, um nach dessen Tod, am 7. April 1928, alsbald in der NSDAP aufzugehen. [Bouteiller, a.a.O. ]. Dabei spielte es für die herrschende bürgerliche kulturelle Hegemonie keine Rolle, dass mit der Abwahl Dr.Neumanns am 2. Juni 1926 und der Wahl Senator Paul Löwigts zum Regierenden Bürgermeister am 3.Juni 1926 ein Sozialdemokrat zum Präsidenten des Senats gewählt worden war.
Löwigt stand ab 22.6.1926 als Senatspräsident einem mehrheitlich bürgerlichen Senat vor und fügte sich als gemäßigter Sozialdemokrat nahtlos in die Kooperation mit den inzwischen zunehmend national-völkisch orientierten oppositionellen Senatoren. Trotz des „Coming-out“ seines Vorgängers, der demonstrativ an der Gedenkfeier zum einjährigen Todestag des nationalsozialistischen Märtyrers Albert Leo Schlageter am 26.Mai 1924 mit seinem Stellvertreter, Senator Dr.Vermehren, im Dom teilgenommen hatte, [Max Knie, 15 Jahre Lübecker Zeitgeschichte. Von der Revolte bis zur Nationalen Erhebung, Lübeck 1933, S.40; https://michaelbouteiller.de/?p=4881] hielt Senator Löwigt im Senat eine außergewöhnlich versöhnliche Abschiedsrede auf Dr.Neumann.[Max Knie, a.a.O., S.54] Die linke Sozialdemokratie unter Julius Leber beklagte demgegenüber eine zunehmend tiefere Spaltung der Stadtgesellschaft in Bürger und Arbeiter.
„Man versteht sich nicht mehr in Deutschland; das Volk ist gespalten, unüberbrückbar gespalten. Hier Arbeiter – hier Bürger. Nie kam das besser zum Ausdruck als gestern, an dem ersten Tag in der Nordischen Woche… Nordische Journalisten drückten gestern ihr Erstaunen aus, dass man sie zu Veranstaltungen mit r e i n. w i r t s c h a f t l i c h e n und k u l t u r e l l e n Absichten einlade und dass man ihnen dann eine gewaltige monarchistische Flaggenparade vor die Nase hänge. „Wollen die Deutschen uns vor Augen führen, dass sie trotz allem nichts gelernt haben?…
Das Bürgertum hat total versagt, es ist mehr und mehr nach rechts abgeschwenkt. Die Kreise derer, die dem Arbeiter auch sein Recht gönnten, sind kleiner und kleiner geworden. Und jetzt ist die Lage so, dass man, ohne erheblich der Tatsache Zwang anzutun, von einer Zweiteilung des Volkes in A r b e i t e r s c h a f t und B ü r g e r t u m sprechen kann. Möchte das Bürgertum doch einsehen, dass es auf verlorenem Posten kämpft,, dass die geschichtliche Entwicklung ihm unrecht geben muss!“ [Julius Leber., Lübecker Volksbote, 2.9.1921, S.1]
Die patrizische „Konsensmaschine“ Wallroths hielt der faschistischen Gewaltwalze nicht stand. Die Weimarer Verfassung hatte weder an den himmelschreienden Ungerechtigkeiten der kaiserlichen Vermögensspreizung, also der barbarischen Eigentumsordnung, etwas geändert,[Michael Bouteiller, Verfassungsgewalt, Lübeck 2022, S. 12, https://michaelbouteiller.de/?p=4785] noch Vorkehrungen getroffen gegen deren Verbindung mit dem faschistisch gewordenen Staat. Die Nationalversammlung in Weimar hatte vielmehr Augen und Ohren vor der hellsichtigen Warnung Rosa Luxemburgs vom 20.11.1918 verschlossen:
„ …Die Nationalversammlung ist ein überlebtes Erbstück bürgerliche Revolutionen, eine Hülse ohne Inhalt, ein Requisit aus den Zeiten kleinbürgerlicher Illusionen vom „einigen Volk!, von der„Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ des bürgerlichen Staates.
Wer heute zur Nationalversammlung greift, schraubt die Revolution bewusst oder unbewusst auf das historische Stadium bürgerlicher Revolutionen zurück; er ist ein verkappter Agent der Bourgeoisie oder ein unbewusster Ideologe des Kleinbürgertums. Unter dem Feldgeschrei: Demokratie oder Diktatur! Wird der Kampf um die Nationalversammlung geführt. Auch diese Parole der gegenrevolutionären Demagogie übernehmen gehorsam sozialistische Führer, ohne zu merken, dass die Alternative eine demagogische Fälschung ist.
Nicht darum handelt es sich heute, ob Demokratie oder Diktatur. Die von der Geschichte auf die Tagesordnung gestellte Frage lautet: bürgerliche Demokratie oder sozialistische Demokratie. Denn die Diktatur des Proletariats, das ist die Demokratie im sozialistischen Sinne. Diktatur des Proletariats, das sind nicht Bomben, Putsche, Krawalle, „Anarchie!, wie die Agenden des kapitalistischen Profits zielbewusst fälschen, sondern das ist der Gebrauch aller politischen Machtmittel zur Verwirklichung des Sozialismus, zur Expropriation der Kapitalistenklasse – im Sinne und durch den Willen der revolutionäre Mehrheit des Proletariats, also im Geiste sozialistischer Demokratie.
Ohne den bewussten Willen und die bewusste Tat der Mehrheit des Proletariats kein Sozialismus. Um dieses Bewusstsein zu schärfen, diesen Willen zu stärken, diese Tat zu organisieren, ist ein Klassenorgan nötig: das Reichsparlament der Proletarier in Stadt und Land. Die Einberufung einer solchen Arbeitervertretung anstelle der traditionellen Nationalversammlung der bürgerlichen Revolution ist an sich schon ein Akt des Klassenkampfes, ein Bruch mit der geschichtlichen Vergangenheit der bürgerlichen Gesellschaft, ein mächtiges Mittel zur Aufrüttelung der proletarischen Volksmassen, eine erste offene schroffe Kriegserklärung an den Kapitalismus.
Keine Ausflüchte, keine Zweideutigkeiten – die Würfel müssen fallen. Der parlamentarische Kretinismus war gestern eine Schwäche, ist heute eine Zweideutigkeit, wird morgen ein Verrat am Sozialismus sein.!“ [Luxemburg, Rosa, Erklärung des Spartakusbundes gegen die Wahl einer Nationalversammlung am 20.11.1918, Die Rote Fahne vom 20.11.1918 Nr 5, in Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte Band 3, Mainz 1966, S.26]
Aus heutiger Sicht und nach den ca. 187 Mio. „Megatoden“ des „kurzen 20.Jahrhunderts“ [Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, München Wien 1995, S. 26], ist diesem Urteil Rosa Luxemburgs im Ergebnis nichts hinzuzufügen. Zwar wurde das Kaiserreich, d.h. die Staatsform der Monarchie, im November 1918 abgeschafft. Ein Machtwechsel fand indes auch in der Weimarer Republik nicht statt. Denn das Bürgertum hatte längst im Kaiserreich die tatsächliche Herrschaft übernommen. Und die große Hoffnung Julius Lebers auf eine geschichtliche Zukunft der Arbeiterklasse löste sich – wie wir wissen – auf in Schall und Rauch.
Michael Bouteiller
Lübeck, 5.Februar 2023

Ohne dass Senat und Bürgerschaft zuhause in Lübeck etwas Näheres von den Berliner Aktivitäten ihres Mitgliedes mitbekommen hatten, war es dem Regierenden Bürgermeister Lübecks, Dr.Johann Neumann, gelungen, in der Reichshauptstadt eine entscheidende Position auch im Medienimperium seines alldeutschen Verbandsgefährten Hugenberg einzunehmen, den Vorsitz im Verwaltungsrat des Scherl-Verlages.
Der Scherl-Verlag war das Herzstück des von Alfred Hugenberg aufgebauten Medien- und Zeitungsimperiums. Der Verwaltungsausschuss entspricht dabei dem Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft. Der Scherl-Verlag also, die Spinne im medialen reichsweiten Netzwerk des Propagandisten eines völkischen Nationalstaates (Stern, 26.11.2003, Hugenberg, Hitlers „Steigbügelhalter“, https://www.stern.de/politik/geschichte/alfred-hugenberg-hitlers–steigbuegelhalter–3342658.html, Hugenberg), wurde vom Lübecker Bürgermeister gesteuert.
Hugenberg war nicht nur neben Emil Possehl und dem Kolonialpolitiker Peters, auch „Hänge-Peters“ genannt, der Mitgründer und Organisator des Alldeutschen Verbands. Er hatte noch während seiner Zeit als Vorsitzender im Direktorium der Friedrich Krupp AG (1908-1918) ab 1912 nach und nach den seinerzeit größten Medienkonzern Deutschlands aufgebaut und steuerte ihn im Sinne der Zielsetzungen der Alldeutschen konsequent in den Nationalsozialismus (vgl. auch Alfred Hugenberg,/ https://de.wikipedia.org/wiki/Alfred_Hugenberg, abgefragt 16.10.2019).
Das dargestellte Organisationsschema veranschaulicht die Reichweite der propagandistischen medialen Durchdringungsbreite und -tiefe der Hugenbergschen Firmen. Hervorzuheben ist dabei das mit der Allgemeinen Anzeigen GmbH, später Aktiengesellschaft (ALA), angestrebte Anzeigenmonopol auf dem deutschen Medienmarkt. Darüber steuerte Hugenberg auch Lokalblätter, die nicht in seinem Besitz waren. In Lübeck war das die Ala-Anzeigen-Aktiengesellschaft Zweigniederlassung Lübeck.
Der Lübecker Bürgermeister war als Verwaltungsratsvorsitzender des Scherl-Verlages kein unabhängiger Entscheider. Im Konzerngefüge spielte er vielmehr die Rolle des abhängigen treuhänderischen Auftragnehmers von Hugenberg. Gleichwohl konnte er mit seiner, auch ideologischen, Steuerungsfunktion über den Scherl-Verlag und damit auch der Stärkung seiner Einflussnahme im hugenbergschen Medienkonzern seine Lübecker Position ausbauen. Der Lübecker Generalanzeiger war über die ALA (Lübecker Volksbote, 25.3.1933: ALA Zweigniederlassung in Lübeck) in den Händen Hugenberg – Neumanns. Das hat Julius Leber richtig erkannt, wenn er im Lübecker Volksboten 1926 schrieb:
„… Und doch war e r (Hugenberg, MB) der eigentliche unsichtbare Herrscher dieser Stadt, die er selbst vielleicht nie gesehen. Den S t a a t hatte er in der Hand durch sein Oberhaupt, die Presse durch die größte Inseratenplantage. Sein Wille war maßgebend, beschränkt nur durch den leidenschaftlichen Widerstand der darob täglich beschimpften und begeisterten S o z i a l d e m o k r a t i e (Sperrungen im Original, MB).“( Lübecker Volksbote, 8.6.1926).
Leber beschreibt folgerichtig die tatsächlichen damaligen Verhältnisse im Freistaat. Er bestätigt auch den tiefen Hass der Elite des Bürgertums, die innerhalb und über das völkische Netzwerk des AV immer wieder versuchte, die Macht für die konservative Revolution in den Ländern und im Reich an sich zu reißen. Dies geschah heimlich und in den seit Ende des 19. Jahrhunderts dafür geschaffenen Netzwerken des AV. Die Akteure traten selten nach außen offen auf.

Acht Jahre lang (1921 bis 1928) waren Julius Leber und Johann Neumann die Gegenpole in der Lübecker Politik und der öffentlichen Meinung. Am 1. Januar 1921 wurde Johann Neumann Regierender Bürgermeister in Lübeck. Er hatte nicht nur in der Stadt, sondern reichsweit eine hervorgehobene Position. Er war der erste völkische Regierungschef eines Bundesstaates und gehörte mit folgenden 17 Merkmalen zum Führungskader des Alldeutschen Verbandes (AV) und der Völkischen in der Weimarer Republik (vgl. dazu auch https://michaelbouteiller.de/wp-content/uploads/2022/10/Zweimal-Luebeck-221011.pdf).
1. Mitglied der Hauptleitung und des Gesamtvorstandes des AV.
2. Vorsitzender des Ortsverbandes Lübeck des AV.
3. 1912 Schriftführer des von Possehl in Berlin gegründeten Wehrvereins in Lübeck.
4. Er unterstützte den „Wirtschaftlichen Generalstab“ (1914) im Sinne Possehls, eine weitsichtige Vorwegnahme des „Militärisch-Industriellen-Komplexes“ im Sinne Dwight D. Eisenhowers Abschiedsrede von 1961.
5. 1914 beschloss Neumann als Vorstandsmitglied die annexionistischen und rassistischen Kriegszielsvorlage des AV-Vorsitzenden Justizrat Claß.
6. 1914 ff. organisierte er mit Justizrat Claß die reichsweite Zusammenführung der Wirt-schaftsverbände im Deutschen Kaiserreich zur Unterstützung der Kriegszielpolitik des AV, im Sinne des „Wirtschaftlichen Generalstabes“ des AV-Gründungsmitgliedes Emil Possehl.
7. Er war Vorsitzender des Verwaltungsrates des Scherl-Verlages, ideologischer Kern im völkischen Medienimperium von Hugenberg, samt Gründung einer Niederlassung der Allgemeinen Anzeigen GmbH Hugenbergs in Lübeck.
8. 1916 spendete er 50.000 Mark für den Erwerb der rassistischen „Deutschen Zeitung“, dem Propagandaorgan des ADV, zusammen mit Senator Possehl, der ebenfalls 50.000 Mark einbrachte.
Er ist Mitgründer der »„Neudeutschen Verlags- und Treuhand-Gesellschaft m.b.H“ mit einem (vorläufigen) Kapital von 2 Millionen DM. Vorstand ist der kaiserliche Geheime Regierungsrat Georg Fritz in Berlin. Gründer sind unter anderem Rechtsanwalt, Heinrich Claus (Mainz), der erste Vorsitzende des altdeutschen Verbandes, Landgerichts, Direktor, Karl Lohmann (Blankenese), Doktor Otto, Helmut Hopfen (Starnberg), Senator Johann Neumann (Lübeck), Oberlandesgerichtssenatspräsident Theodor Thomsen (Charlottenburg). Wie es heißt sollen bereits die großen Berliner neueste Nachrichten und deutsche Zeitung von der Gesellschaft erworben worden seien, oder die Gesellschaft soll sich durch finanzielle Unterstützung einen Einfluss auf diese Blätter gesichert haben« (in Badische Landesbibliothek, Bauländer Bote und Boxberger Anzeiger vom 17.2.1917, https://digital.blb-karlsruhe.de/blbz/periodical/pageview/6539890)
9. Er war Organisator des völkischen „Deutschen Abends“ in Lübeck, einer Querschnittsorganisation der Völkischen Vereine unf Verbände in den AV-Gauen, mit starkem Einfluss auf die Politik der ev.-lutherischen Kirche.
10. 1917 benannte ihn der AV-Vorsitzende Claß bei einem Besuch im Hauptquartier gegenüber General Ludendorff für ein „Kabinett in Feldgrau“, eine Vorbereitungshandlung zum Putsch.
11. Von 1917-1918 war er „Zivilgouverneur“ in Riga, einer gegen den Frieden von Brest-Litowsk gerichteten Annexionsregierung im vom Deutschen Reich besetzten Lettland zur Vorbereitung einer dauerhaften deutsch-völkischen Siedlungspolitik.
12. Am 1.Januar 1921 wurde er der erste völkische Regierende Bürgermeister eines Bundesstaates der Weimarer Republik.
13. 1924 ehrte er durch seine Anwesenheit bei einer Gedenkfeier im Lübecker Dom Albert Leo Schlageter (Max Knie, S.40, https://michaelbouteiller.de/max-knie-15-jahre-luebecker-zeitgeschichte/) Schlageter war das Symbol der Republikfeinde für den völkischen Widerstand gegen die Republik. Schlageter war Soldat im Ersten Weltkrieg und Angehöriger verschiedener Freikorps. Schlageter war Mitglied der NSDAP-Tarnorganisation Großdeutsche Arbeiterpartei. Er wurde wegen Spionage und mehrerer Sprengstoffanschläge im besetzten Ruhrgebiet von einem französischen Militärgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Das öffentliche Auftreten Neumanns für Schlageter war ein deutlicher Kotau des Bürgermeisters vor den Feinden der Republik und ein Affront des Senatspräsidenten gegen seine SPD-Kollegen im Senat und den Mehrheitsfraktionen in der Bürgerschaft. Sein Stellvertreter und AV-Mitglied, Senator Dr.Vermehren, war ebenfalls zugegen. Die Bürgerschaft hatte zuvor die Errichtung eines Denkmals abgelehnt. Ein Findling wurde stattdessen von den Völkischen im Garten des Hindenburghauses (Abgerissen für Bau des Landgerichtes) als Denkmal zelebriert.
14. Im Mai 1926, beim Putschversuch der Alldeutschen, wurde er als Diktator benannt.
15. Ebenfalls 1926 verfälschte er das historische Lübeck-Bild. Er drehte es im Sinne seiner alldeutschen Ideologie um. Aus Anlass der 700-Jahrfeier der Reichsfreiheit erfindet er Lübeck neu. Die Freiheitsurkunde sei, so behauptet er, mir nichts, dir nichts von Friedrich II. wegen des heldenhaften Befreiungskampfes der Deutschen gegen die dänische Besetzung Lübecks verliehen worden.
Die reichsfreie Stadt sieht der Alldeutsche als das völkische Symbol für eine zukünftig erfolgreiche Weltmacht-Politik des Deutschen Reiches, auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Der geeinte germanische Widerstand der Stadt Heinrichs des Löwen habe damals die Reichsfeinde besiegt. In diesem Sinne organisierte er auch 1925/26 die Ausrichtung der Reichsfreiheitsfeier. Das alles war Bullshit.
Denn weder war Heinrich der Löwe der erste Gründer Lübecks, noch war Anlass der Verleihung des Freiheitsbriefes durch den Kaiser der Sieg über die Dänen. Der erste Gründer der Stadt hieß Adolf von Schauenburg, der auch im Rathaus, in der Ausschmückung mit den Wandgemälden des Berliner Malers Max Koch von 1892-94 unterschlagen wird.
Die siegreiche Schlacht von Bornhöved gegen die Dänen schließlich fand 1227 statt, also ein Jahr nach der Verleihung der Urkunde durch den Kaiser im Jahre 1226. Für Neumann war Lübeck fälschlicherweise „civitas imperii“, der Brückenkopf zur Ostkolonisation. Diese Ostkolonisation sei im Interesse, aber ohne Zutun des Reiches, seinerzeit von den „weit blickenden Kaufmannsgeschlechtern“ der Hansestadt betrieben worden.
„So spiegelt sich in Lübeck deutscher Unternehmergeist, deutsches Wissen, deutsches Können und deutscher Lebenswille während des ganzen Mittelalters wider!“
16. Im Herbst 1926, also unmittelbar nach seinem Sturz, veranlasste er die Parteigründung des völkischen Hanseatischen Volksbundes. Er blieb aber parteilos.
17. 1933 benannte die NSDAP zu seinen Ehren die ihnen verhasste Rathenaustraße am Stadtpark in Bürgermeister-Neumann-Straße um, nach ihrem 1928 verstorbenen Beschützer. Die Umbenennung wurde 1947 revidiert.

Mignon 1925
von Erich Mühsam
Kennst du das Land, wo die Faschisten blühn,
im dunklen Laub die Diebslaternen glühn,
ein Moderduft von hundert Leichen weht,
die Freiheit still und hoch der Duce steht?
Kennst Du es wohl?
Dahin! Dahin
möcht ich mir Dir, mein Adolf Hitler, ziehn!
Kennst Du das Haus? Auf Wahlen ruht sein Dach.
Die röm’sche Kammer ist’s und drinnen Krach.
Drei Kommunisten sehn mich blutend an:
Was hat man uns, du armes Kind getan?
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
möchte ich mit dir, o Krüppel-Kunze, ziehn!
Kennst Du des Mussolini Wolkensteg?
Der Maulheld sucht mit Knebeln seinen Weg;
er würgt die Presse, plagt das Volk aufs Blut
und bebt, daß keiner ihm ein Leides tut.
Kennst Du ihn wohl?
Dahin! Dahin
geht Deutschlands Weg! O Feme, laß uns ziehn!
(1925)
Die Seele des Kindes
[182] Die Seele des Kindes ist das Allerheiligste im Tempel der Menschheit. In ihr lagert das Glück und die Freiheit der Welt.
In der Seele des Kindes vereint sich das tiefste Wissen um die Schönheit und Güte der Welt mit dem stärksten Mut zum Bekennen der Wahrheit.
Die Seele des Kindes ist der Spiegel unserer Tugenden und die Geißel unserer Fehler.
Wer gegen die Seele des Kindes sündigt, der ist ein Verbrecher an allem Wahren, Guten und Reinen. Seine Sünde wird nie vergeben. Denn sie ist Frevel am Heiligen Geist.
Ein Kind, das an Leib oder Seele darbt, ist größerer Vorwurf gegen die Menschheit als alle Feindschaft und alle Niedertracht der Welt.
Das Kind sei dem Erwachsenen Lehrer und Erzieher. Die Seele des Kindes laßt uns befragen, wenn wir der Zukunft und dem Heil der Menschen dienen wollen. Denn in der Seele des Kindes ist die Vernunft der Wahrheit und das unschuldige Wissen von Gut und Böse.
Was wir dem Kinde zuliebe tun, das laßt uns mit der Seele des Kindes tun. Das heißt: ohne Eigennutz und Falsch, den Blick und die Sehnsucht aber auf Frieden und Zukunft gerichtet.
Berlin 1928