Da stellt sich ein Mann hin und weint. Öffentlich. Vor laufenden Kameras, offenen Mikrofonen und Hunderten Augenpaaren. Michael Bouteiller (51) ist Politiker, SPD- Bürgermeister von Lübeck. Zehn Menschen sind am Donnerstag bei dem Feuer in einem Flüchtlingsheim der Stadt verbrannt. Ein Schwarzafrikaner hat seine Frau und fünf Kinder verloren. Als der Familienvater bei einer Bürgerbefragung zusammenbricht, ist es der Bürgermeister, der ihn umarmt und mit ihm weint.
Doch Michael Bouteiller heult nicht einfach nur rum. „Sehr schnell war mir klar, daß es jetzt auch darum geht, eine Botschaft rüberzubringen“, sagt er. Und die verschärft erneut den Streit um das Asylgesetz. „Wir müssen die Gemeinschaftsunterkünfte auflösen, das unmenschliche Asylgesetz ändern, zivilen Ungehorsam leisten, um die Menschen vor Abschiebung zu schützen.“ Und: „Wenn der Staat sich entfernt von der Gesellschaft, ist es dieser Staat, den wir abschaffen müssen.“ Nichts als radikale Sprüche?
Bouteiller ist Jurist. Ein schmächtiger Mann mit braunen, bebrillten Augen und empfindlichem Blick. Seit 1988 ist er Lübecker Bürgermeister, vorher arbeitete er als Richter in Minden, baute in Bielefeld das Umweltamt auf und übte sich nebenbei bei Blockaden gegen die Atomwaffenstationierung.
„Offen“ sei er, sagt er über sich, „wenig aggressiv, aber durchsetzungsfähig.“ Kurz nach der Amtsübernahme in Lübeck attackierte er prompt die dort versammelte Atomlobby. Letztes Jahr legte er sich mit der Kaufmannschaft seiner Hansestadt an, weil er die Stadt vor „ausschließlichen Kapitalverwertungsinteressen schützen“ wollte. Als den „letzten Sozialisten“ beschimpften ihn daraufhin die Lübecker Nachrichten.
Die CDU stempelt ihn zum Hampelmann und versuchte bereits zweimal, ihn abzusägen. Die oberste Sozi- Riege wollte ihn 1993 gegen Björn Engholm als Bürgermeister austauschen – doch da war die SPD-Basis vor. Was ihn in der Asyldiskussion treibt, ist sein eigenes schlechtes Gewissen. Vor zwei Jahren warb er noch selbst für eine Grundgesetzänderung beim Asylrecht. Jetzt wirbt er für einen offenen Rechtsbruch beim Asylverfahrensgesetz. Ohne den Rückhalt der Lübecker und seiner Partei werden seine Forderungen tatsächlich nur Sprüche bleiben – das weiß er. Doch seine Ministerpräsidentin Heide Simonis hat er in vielen Punkten bereits auf seine Seite gezogen.
Was macht eigentlich Michael Bouteiller? Lübecks Ex-Bürgermeister, der öffentlich den Tod von 18 Asylbewerbern beweinte, ist wieder Rechtsanwalt. Teil 4 der Serie über PolitikerInnen nach der Politik
Als Bürgermeister hatte Michael Bouteiller natürlich immer eine Chefsekretärin. Heute schreibt er seine Schriftsätze selbst. Die Rechtsanwaltskanzlei, in der er arbeitet, betreibt er ganz allein. Sie liegt in einem bewaldeten Wohngebiet, in dem man Unbekannte an der Bushaltestelle freundlich grüßt. Auch Bouteiller lebt hier. Sein Büro liegt unmittelbar neben dem Bungalow der Familie in einem kleinen Fachwerkhaus. Der Weg ins Arbeitszimmer führt durch einen Raum, der mal Hobbyraum gewesen sein könnte. Dunkelgraue Auslegeware, ein Sofa, daneben die Stereoanlage. Dort sitzt Bouteiller und hört Musik, während er den Besuch erwartet. Er hat sich ins Privatleben zurückgezogen.
Über Jahrzehnte war Bouteiller dort zu Hause, wo Entscheidungen getroffen werden – im repräsentativen Rathaus und in der Parteizentrale der örtlichen SPD. Auch heute noch findet sich seine Unterschrift unter politischen Aufrufen und Dokumenten. Für die „UN-Commission on Peace and Crisis Prevention“ etwa hat er ein Statut mitverfasst. In der Öffentlichkeit aber steht er damit nicht. „Langsam können auch mal Jüngere ran“, sagt der 63-Jährige.
Bouteiller wurde weit über die Hansestadt hinaus bekannt, als ihm am 18. Januar 1996 vor laufenden Fernsehkameras Tränen über das Gesicht liefen. In jener Nacht ging die damalige Flüchtlingsunterkunft in der Lübecker Hafenstraße in Flammen auf, zehn Menschen starben, 38 wurden zum Teil schwer verletzt. Ein Brandanschlag, der niemals aufgeklärt wurde. Bouteiller war vor Ort. Er sah den Schmerz um sich herum und brach selbst in Tränen aus. Doch das Bild eines Funktionsträgers, der sich hilflos und verzweifelt zeigt, war schwer auszuhalten für eine Stadt, die sich plötzlich als rechte Hochburg angeprangert sah. Man wollte Stärke beweisen, Selbstsicherheit, und dafür war Bouteiller der falsche Mann, zumindest in diesem Moment. Er hat viel Hass geerntet dafür. „Betroffenheitskult“ ist noch eine der harmloseren Beschimpfungen, die er sich für seine Gefühle anhören musste.
Nur wenige Wochen später forderte Schleswig-Holsteins Innenminister Ekkehard Wienholtz (SPD) öffentlich den Rücktritt Bouteillers. In der Zwischenzeit hatte der zum zivilen Ungehorsam zum Schutz von Flüchtlingen aufgerufen, das Asylrecht scharf kritisiert und den Überlebenden des Brandanschlages unbürokratisch Passersatzpapiere ausgestellt, damit diese ihre getöteten Angehörigen in der Heimt beerdigen lassen konnten.
Für Bouteiller ist wesentlicher Teil der Tragik des 18. Januar 1996, „wie die Leute darauf reagiert haben“. Das Befremden darüber war sein erster Bruch mit der eigenen Partei. Bouteiller hat viel zu erzählen, wenn er über die Politik der SPD spricht. „Ja-Sagerpartei“, „kapitalhörig“, „unsozial“ – sie sind längst keine Freunde mehr. 2002, zwei Jahre nach Ablauf seiner Regierungszeit, ist Bouteiller aus der SPD ausgetreten.
Ein wenig hat er anschließend mit der WASG geliebäugelt. Er hat mehrere Kongresse der neuen Partei besucht, denn „wir brauchen ganz dringend eine Alternative in dieser Republik“. Dann hat er sich doch gegen ein aktives Mittun entschieden. Bouteiller ist müde – oder wirkt es nur so, weil er mit leiser Stimme spricht? Nach 40 Jahren Politik, sagt er, „will ich nicht mehr vorne stehen“.
Die Haare des 63-Jährigen sind nur ein wenig ergraut. Er trägt eine runde Nickelbrille und ein schwarzes Poloshirt, Wasser schenkt er aus der Plastikflasche ein. In seinem Anwaltsbüro stehen nur einzelne Ordner. Seine jetzige Tätigkeit ist eher beratend, Akten bearbeitet er kaum. Wenn er über seine Fälle spricht, beschreibt er Konflikte zwischen Menschen und keine juristischen Probleme. Mediation, Kommunikation, das sind Begriffe, die ihm wichtig sind. Nebenbei ist er freier Konfliktmoderator im Dortmunder „Institut für Kommunikation und Umwelt“. In Herdecke beispielsweise hat er zwischen den Betreibern einer Abfallrecyclinganlage und den Nachbarn das Gespräch vermittelt.
Den einstigen Kommunalpolitiker hört man bei Bouteiller nicht mehr raus. Die Frage nach seinen heutigen politischen Aktivitäten beantwortet er mit einer Abhandlung über den Völkerrechtskonflikt im früheren Jugoslawien, die verheerende Menschenrechtssituation im Kongo und das Selbstverständnis der USA, Friedensbote in der Welt zu sein. Bouteiller erzählt in unzähligen Details. Er wirft mit Namen um sich, springt gedanklich von einem Katastrophengebiet ins nächste und verzettelt sich manchmal in Einzelheiten, als würde er in seiner Erzählgeschwindigkeit noch von den Gedanken überholt. Es ist nicht immer leicht, ihm zu folgen. Zwölf Jahre war er Bürgermeister, da spricht man auch ungefragt. Doch seine Sätze offenbaren nicht die Gewöhnung an Macht, sondern den Wunsch, andere an seinen Überlegungen teilhaben zu lassen.
Der Bungalow, in dem Bouteiller lebt, ist von außen schlicht. Die Einrichtung aber ist modern und geschmackvoll. Hinter der Wohnzimmertür hängt ein Bild, das er selbst gemalt hat. Zu sehen ist das Lübecker Holstentor, auf das eine schwere Pistole gerichtet ist. Davor kauert eine Taube, die zu diesem Zeitpunkt noch lebt. Sie steht für einen Mann, der mit Nachnamen Schöntaube hieß, in Lübeck auf der Straße lebte und eines Tages von einem Ordnungsfanatiker erschossen wurde.
Bouteiller kannte diesen Mann gut. Er hatte Schöntaube zufällig beim Bummel an der Trave kennengelernt, als er mitten im Bewerbungsverfahren um den Posten des Bürgermeisters war. Im Laufe ihrer Plauderei hatte Bouteiller das erzählt. Und Schöntaube hatte erwidert: „Wenn du Bürgermeister wirst, dann werde ich Kaiser von China.“ Daraufhin gab Bouteiller ein Versprechen ab: Sollte er den Regierungsjob bekommen, würde er Schöntaube am ersten Arbeitstag zum Mittagessen einladen.
Das Versprechen hat er eingelöst – und sich gleich die erste Kritik eingehandelt. „PR-Gag“, höhnte die örtliche Presse zur Begrüßung des neuen Amtsinhabers. Wenige Monate später war Schöntaube tot. „Dieses Erlebnis“, sagt Bouteiller, „hat mich in meiner Amtszeit am meisten berührt.“
Mich verwundert, wie kraftlos die SPD agiert – und dass in Lübeck nur 41% der Wahlberechtigten bei der Kommunalwahl 2023 überhaupt wählen gingen. Rd. 60% blieben weg. Vielleicht ist die SPD für junge Menschen zu altbacken. Sie singen zwar zum Abschluss ihrer Parteitage „Brüder zur Sonne zur Freiheit“.
In den Regierungsprogrammen fehlt indes jeder Satz zum Vermögensausgleich von Arm und Reich. Dabei ist diese radikale Parteinahme für die Besitzlosen, der Kampf um den Vermögensausgleich, die eigentliche und ursprüngliche Antriebsfeder, die SPD zu wählen, die bei der heutzutage riesigen Vermögensspreizung wichtiger wäre als jemals. »Reicher Mann und armer Mann standen da und sah’n sich an. Und der Arme sagte bleich: Wär ich nicht arm, wärst Du nicht reich.« (Bertold Brecht). Diese aufrüttelnde Erkenntnis, die einst zu ihrer Parteigründung führte, hat eine mutlos gewordene SPD heute offensichtlich vergessen.
Dabei ist der Vermögensunterschied der 20% Vermögenden zu den 80% Besitzlosen Grund für die heutige desaströse politische Lage. Christopher Lasch, der 1994 verstorbene amerikanische Historiker und Kultursoziologe, der bei der US-amerikanischen GOP hoch im Kurs steht, hat diesen Zusammenhang von einer reichen Elite und der politischen Verantwortungslosigkeit auf den Punkt gebracht (Christopher Lasch, Die blinde Elite, Hamburg 1995).
„Laut Lasch leben die neuen Eliten, also diejenigen, die einkommensmäßig zu den oberen 20 Prozent gehören, durch die Globalisierung, die eine vollständige Mobilität des Kapitals ermöglicht, nicht mehr in der gleichen Welt wie ihre Mitbürger. Damit wenden sie sich gegen das alte Bürgertum des 19. und 20. Jahrhunderts, das aufgrund seiner räumlichen Stabilität auf ein Minimum an Verwurzelung und bürgerlichen Verpflichtungen beschränkt war.
Die Globalisierung, so der Historiker, habe Eliten zu Touristen in ihren eigenen Ländern gemacht. Die Entnationalisierung der Gesellschaft bringt tendenziell eine Klasse hervor, die sich selbst als „Weltbürger sieht, aber ohne … irgendeine der Verpflichtungen zu akzeptieren, die die Staatsbürgerschaft normalerweise mit sich bringt“. Aufgrund ihrer Bindung an eine internationale Arbeits-, Freizeit- und Informationskultur sind viele von ihnen angesichts der Aussicht auf einen nationalen Niedergang zutiefst gleichgültig. Anstatt öffentliche Dienstleistungen und die Staatskasse zu finanzieren, investieren neue Eliten ihr Geld in die Verbesserung ihrer freiwilligen Ghettos: Privatschulen in ihren Wohnvierteln, Privatpolizei, Müllabfuhrsysteme. Sie hätten sich „aus dem gemeinsamen Leben zurückgezogen“.
Sie bestehen aus denen, die die internationalen Kapital- und Informationsströme kontrollieren, die philanthropischen Stiftungen und Hochschulen vorstehen, die Instrumente der Kulturproduktion verwalten und so die Bedingungen der öffentlichen Debatte festlegen. Daher beschränkt sich die politische Debatte hauptsächlich auf die herrschenden Klassen und politische Ideologien verlieren jeglichen Kontakt zu den Anliegen des einfachen Bürgers. Die Folge davon ist, dass niemand eine wahrscheinliche Lösung für diese Probleme hat und es zu heftigen ideologischen Auseinandersetzungen zu verwandten Themen kommt.
Sie bleiben jedoch vor den Problemen geschützt, die die Arbeiterklasse betreffen: dem Niedergang der Industrietätigkeit, dem daraus resultierenden Verlust von Arbeitsplätzen, dem Niedergang der Mittelschicht, der Zunahme der Zahl der Armen, der steigenden Kriminalitätsrate, dem zunehmenden Drogenhandel, den städtischen Krisen.“ (Wikipedia, https://en.m.wikipedia.org/wiki/Christopher_Lasch, abgefragt 18.5.2023)
Der Vermögensausgleich der Bürger und Bürgerinnen innerhalb der Staaten, der aus Gründen der politischen Gleichberechtigung und Kompetenzgleichheit überlebenswichtig ist, muss vor oder während der Katastrophenvorsorge innerhalb der nächsten 15 Jahre, die uns noch verbleiben (Katastrophenvorsorge 1 ), vollzogen sein. Freiwillig geschieht da nichts.
Die Italiener, so sagt man, haben eine Sichtweise auf die Politik, die sie dietrismo nennen. Dietro bedeutet „dahinter“, und dietrismo bedeutet die gewohnheitsmäßige Überzeugung, dass das, was man sieht, dazu dient, das zu verbergen, was man bekommt, und zwar von Mächten, die hinter einem Vorhang agieren, der die Welt in eine Bühne und eine Hinterbühne unterteilt, wobei letztere der Ort ist, an dem sich das wahre Geschehen abspielt, während ersteres absichtlich falsch dargestellt wird.Man liest etwas, hört etwas im Radio oder im Fernsehen, und als gut ausgebildete Diätistin fragt man sich nicht so sehr, was einem da erzählt wird, sondern warum man es erfährt, und warum gerade jetzt.
Heutzutage, nach drei Jahren Covid und einem Jahr Ukraine-Krieg, scheinen wir alle zu Italienern geworden zu sein, denn dietrismo ist jetzt so universell wie die Pasta. Immer mehr von uns lesen die „Narrative“, die von den Regierungen und ihren Klientelmedien zu unseren Gunsten produziert werden, nicht mehr als das, was sie sagen, sondern als das, was sie bedeuten könnten: als verzerrte Bilder der Realität, die dennoch etwas zu bedeuten scheinen, ein wenig wie die Schatten an der Wand von Platons Höhle.
Nehmen wir zum Beispiel den halboffiziellen Bericht über die Sabotage der Nord-Stream-Pipelines, der von der New York Times veröffentlicht und der deutschen Wochenzeitung Die Zeit zugespielt wurde: Die vermeintlichen Täter waren sechs noch unbekannte Personen auf einer polnischen Yacht, die irgendwo in Ostdeutschland gemietet war, und die praktischerweise auf dem Küchentisch des Bootes Spuren des starken Sprengstoffs hinterlassen hatten, den sie zum Tatort mitgenommen hatten. Abgesehen von den wahrhaftigsten Gläubigen und natürlich den treuen Herstellern öffentlicher Zustimmung brauchte man nicht lange nachzudenken, um zu erkennen, dass die Geschichte erfunden worden war, um die Darstellung von Seymour Hersh, dem unsterblichen Enthüllungsreporter, zu verdrängen.
Das Aufregende für den diätistischen Verstand war, dass sie so offensichtlich lächerlich war, dass ihre Lächerlichkeit nicht auf Inkompetenz zurückzuführen sein konnte – nicht einmal die CIA konnte so dumm sein -, sondern eher beabsichtigt war, was die Frage aufwirft, was damit bezweckt worden sein könnte. Vielleicht, so vermuteten politische Zyniker, wollte man die deutsche Regierung und ihre Bundesanwaltschaft demütigen und damit ihren Willen brechen, indem man sie diesen offensichtlichen Unsinn öffentlich als wertvolle Spur für ihre unablässigen Bemühungen um die Aufklärung des Nord-Stream-Bombenanschlags deklarieren ließ.
Ein weiterer interessanter Aspekt der Geschichte war, dass die mutmaßlichen Bootsvermieter angeblich eine Verbindung zu „pro-ukrainischen Gruppen“ haben sollen. Dem Bericht zufolge gab es zwar keine Hinweise darauf, dass es sich dabei um Verbindungen zur ukrainischen Regierung oder zum Militär handelte, aber jeder Le Carré-Kenner weiß, dass bei einer Beteiligung von Geheimdiensten jede Art von Beweis bei Bedarf leicht gefunden werden kann.
Es überrascht nicht, dass der Bericht in Kiew Panik auslöste, wo er – wahrscheinlich zu Recht – als ein Signal der Vereinigten Staaten verstanden wurde, dass ihre Geduld mit der Ukraine und ihrer derzeitigen Führung nicht unbegrenzt sei. Etwa zur gleichen Zeit häuften sich in den USA die Berichte über Korruption in der Ukraine, die mit dem wachsenden Widerstand der Republikaner im Kongress gegen die Umleitung von immer mehr Dollars in den ukrainischen Verteidigungshaushalt zusammenfielen und diesen verstärkten – als ob die Korruption in der Ukraine nicht schon immer notorisch grassiert hätte (siehe Hunter Bidens Zeit als Energiepolitikexperte im Vorstand von Burisma Holdings Ltd.)
Im Januar dieses Jahres veröffentlichten die Washington Post und die New York Times eine Reihe von Artikeln über ukrainische Vergehen, darunter die Verwendung amerikanischer Dollars durch Armeekommandeure, um billigen russischen Diesel für ukrainische Panzer zu kaufen und die Differenz zu kassieren. Der schockierte Zelensky entließ sofort zwei oder drei hochrangige Beamte und versprach, weitere zu gegebener Zeit zu entlassen.
Warum wurde dies nun als Neuigkeit dargestellt, obwohl seit langem bekannt ist, dass die Ukraine zu den korruptesten Ländern der Welt gehört? Zu dem, was aus Kiewer Sicht zunehmend wie ein unheilvolles Menetekel erscheinen musste, trugen auch geheime amerikanische Dokumente bei, die in der zweiten Aprilhälfte durchgesickert waren und aus denen hervorging, dass das Vertrauen des US-Militärs in die Fähigkeit der Ukraine, eine erfolgreiche Gegenoffensive im Frühjahr zu starten, geschweige denn den Krieg zu gewinnen, wie es die Regierung ihren Bürgern und internationalen Geldgebern versprochen hatte, auf einem historischen Tiefstand war.
Den amerikanischen Kriegsgegnern, Republikanern wie Demokraten, bestätigten die Dokumente, dass die Aufrechterhaltung der ukrainischen Armee unannehmbar teuer werden könnte, zumal sich beide politischen Parteien in den Vereinigten Staaten einig waren, dass sich ihr Land eher früher als später auf einen viel größeren Krieg gegen die Chinesen im Pazifik vorbereiten müsse. (Bis Ende 2022 werden die Vereinigten Staaten schätzungsweise etwa 46,6 Milliarden Dollar für Militärhilfe an die Ukraine ausgegeben haben; es wird erwartet, dass noch viel mehr benötigt wird, je länger der Konflikt andauert). Für die Ukrainer und ihre europäischen Unterstützer schien es schwer, sich der Schlussfolgerung zu entziehen, dass die Vereinigten Staaten sich bald vom Schlachtfeld verabschieden und ihre unerledigten europäischen Angelegenheiten den Einheimischen überlassen könnten.
Verglichen mit Afghanistan, Syrien, Libyen und ähnlichen Orten ist das, was die Amerikaner wahrscheinlich aufgeben werden, natürlich nicht annähernd in so schlechtem Zustand. In Zusammenarbeit mit den baltischen Staaten und Polen ist es den Vereinigten Staaten in den letzten Monaten gelungen, Deutschland in so etwas wie eine europäische Führungsrolle zu drängen, unter der Bedingung, dass es die Verantwortung für die Organisation und vor allem die Finanzierung des europäischen Beitrags zum Krieg übernimmt. Im Laufe des letzten Jahres wurde die EU Schritt für Schritt zu einem Erfüllungsgehilfen der NATO, der unter anderem für die wirtschaftliche Kriegsführung zuständig ist, während die NATO mehr denn je zu einem Instrument amerikanischer Politik unter „westlicher“ Flagge wurde.
Wenn Mitte 2023 der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg für seine harte Arbeit mit einer wohlverdienten Pfründe, dem Vorsitz der norwegischen Zentralbank, belohnt wird, soll Gerüchten zufolge Ursula von der Leyen, derzeit Präsidentin der Europäischen Kommission, seine Nachfolge antreten. Dies würde die Unterordnung der EU unter die NATO vervollständigen – jene andere, viel mächtigere internationale Organisation mit Sitz in Brüssel, der im Gegensatz zur EU die Vereinigten Staaten angehören und die sogar von ihnen dominiert wird. In ihrem früheren Leben war von der Leyen natürlich deutsche Verteidigungsministerin unter Merkel, wenn auch dem allgemeinen Eindruck nach eine der inkompetenteren. Während sie in dieser Funktion für den angeblich desolaten Zustand der deutschen Streitkräfte zu Beginn des Ukraine-Krieges mitverantwortlich war, wird ihr nun offenbar wegen ihres glühenden Amerikanismus-als-Europäer bzw. Europäismus-als-Amerikanismus verziehen.
Jedenfalls wurde im Januar 2023 ein Abkommen über eine engere Zusammenarbeit zwischen der EU und der NATO unterzeichnet, das nicht zuletzt durch die Beendigung der Neutralität Finnlands und Schwedens und den Beitritt zur NATO ermöglicht wurde. Laut FAZ legt das Abkommen „unmissverständlich den Vorrang des Bündnisses bei der kollektiven Verteidigung Europas“ fest und verankert damit die führende Rolle der Vereinigten Staaten in der europäischen Sicherheitspolitik im weitesten Sinne.
Die deutsche Regierung ist derzeit damit beschäftigt, kampffähige Panzerbataillone verschiedener europäischer Hersteller zusammenzustellen (die amerikanischen M1 Abrams sollen in einigen Monaten – wie viele Monate genau, wird geheim gehalten – in Europa eintreffen, wo ihre ukrainischen Besatzungen auf deutschen Militärstützpunkten ausgebildet werden). Sie wird auch die Kampfflugzeuge liefern und instand halten, deren Lieferung an die Ukraine Deutschland ebenso wie die Vereinigten Staaten immer noch verweigert (wenn auch nicht mehr lange, wenn man die Erfahrung zugrunde legt).
Inzwischen hat Rheinmetall angekündigt, in der Ukraine eine Panzerfabrik mit einer Kapazität von 400 Kampfpanzern der neuesten Generation pro Jahr zu bauen. Am Vorabend des Treffens der Unterstützungsgruppe Ramstein am 21. April unterzeichnete Deutschland ein Abkommen mit Polen und der Ukraine über eine in Polen gelegene Reparaturwerkstatt für an der ukrainischen Front beschädigte Leopard-Panzer, die bereits Ende 2023 in Betrieb genommen werden soll (natürlich unter der Annahme, dass der Krieg bis dahin nicht beendet sein wird). Hinzu kommt das von von der Leyen im Namen der EU freimütig erneuerte Versprechen, dass die Ukraine nach dem Krieg auf europäische, d.h. deutsche Kosten wiederaufgebaut wird – übrigens ohne Erwähnung eines Beitrags der ukrainischen Oligarchen, die zwar nicht zahlreich sind, dafür aber umso reicher.
Tatsächlich bot ein Besuch des deutschen Wirtschaftsministers Robert Habeck Anfang April in Kiew zusammen mit einer Delegation von Vorstandsvorsitzenden großer deutscher Unternehmen die Gelegenheit, künftige Geschäftsmöglichkeiten für den Wiederaufbau der Ukraine nach Beendigung des Krieges auszuloten.
Die Supernationalisten in Kiew riechen vielleicht schon den Braten. Kurz nach dem jüngsten Treffen der Ramstein-Gruppe bedankte sich der stellvertretende Außenminister Andriy Melnyk, Vertreter des klassisch-faschistischen Bandera-Elements in der ukrainischen Regierung, für die zugesagten Waffenlieferungen. Gleichzeitig ließ er verlauten, dass diese für einen ukrainischen Sieg im Jahr 2023 völlig unzureichend seien; dafür, so Melnyk, seien nicht weniger als zehnmal so viele Panzer, Flugzeuge, Haubitzen und dergleichen erforderlich.
Auch hier wendet Melnyk, der an der Harvard-Universität ausgebildet wurde, die dietristische Hermeneutik an und muss gewusst haben, dass er damit seine amerikanischen Gönner verärgern würde. Dass es ihn nicht zu stören scheint, deutet darauf hin, dass er und seine Mitstreiter Washingtons „Pivot to Asia“ als bereits im Gange betrachten. Es zeigt auch die Verzweiflung der regierenden ukrainischen Clique über die Aussichten des Krieges und ihre Bereitschaft, bis zum bitteren Ende zu kämpfen, getrieben von der radikal-nationalistischen Überzeugung, dass echte Nationen auf dem Schlachtfeld wachsen, getränkt mit dem Blut ihrer Besten.
Der sich abzeichnende Tiefpunkt des ukrainischen Ultranationalismus signalisiert das Entstehen einer neuen Weltordnung, deren Konturen, einschließlich des Platzes Europas und der Europäischen Union, nur durch die Einbeziehung Chinas zu erkennen sind. Die Vereinigten Staaten richten ihre Aufmerksamkeit auf den Pazifik und streben ein globales Bündnis an, das China umschließt und Peking daran hindert, den Amerikanern die Kontrolle über den Pazifik streitig zu machen.
Dies würde die unipolare Welt des gescheiterten neokonservativen „Projekts für ein neues amerikanisches Jahrhundert“ durch eine bipolare Welt ersetzen: Globalisierung, ja Hyperglobalisierung, jetzt mit zwei Zentren, ähnlich wie im alten Kalten Krieg, mit der entfernten Aussicht auf eine Rückkehr, vielleicht nach einem weiteren heißen Krieg, zu nur einem Zentrum, einer Neuen Weltordnung Mark II. (Der Kapitalismus, daran müssen wir uns erinnern, hat sich nach den beiden großen Kriegen des 20. Jahrhunderts, 1918 und 1945, grundlegender und effektiver als je zuvor umgestaltet und neu formiert, indem er sein Überleben durch eine neue Form sicherte; sicherlich gibt es in den Zentren der kapitalistischen Großstrategie eine gewisse Erinnerung an die verjüngende Wirkung des Krieges.)
Chinas geostrategisches Projekt scheint dagegen eine multipolare Welt zu sein. Aus geografischen und militärischen Gründen kann das Ziel der chinesischen Außen- und Sicherheitspolitik weder eine bipolare Ordnung sein, in der China gegen die USA um die globale Vorherrschaft kämpft, noch eine unipolare Welt, in der es selbst im Zentrum steht. Als Landmacht, die an eine große Zahl potenziell feindlicher Nationen grenzt, braucht es in erster Linie so etwas wie einen Cordon sanitaire, bei dem die Nachbarländer mit China durch eine gemeinsame physische Infrastruktur, frei vergebene Kredite und die Verpflichtung, sich aus Bündnissen mit potenziell feindlichen externen Mächten herauszuhalten, verbunden sind – im Gegensatz zum amerikanischen Wunsch, die Welt als Ganzes einer globalisierten Monroe-Doktrin zu unterwerfen.
Die Vereinigten Staaten haben nur zwei Nachbarn, Kanada und Mexiko, bei denen es recht unwahrscheinlich ist, dass sie zu chinesischen Verbündeten werden). Darüber hinaus fördert China aktiv die Bildung einer Art Liga bündnisfreier Regionalmächte, zu der auch Brasilien, Südafrika, Indien und andere gehören: eine neue Dritte Welt, die sich aus einer sino-amerikanischen Konfrontation heraushalten und sich vor allem den amerikanischen Wirtschaftssanktionen gegen China und seinen neuen Klientenstaat Russland verweigern würde.
In der Tat gibt es Anzeichen dafür, dass China es vorziehen würde, als neutrale Macht unter anderen gesehen zu werden, anstatt als einer von zwei Kämpfern um die Weltherrschaft, zumindest solange es nicht sicher sein kann, dass es einen Krieg gegen die Vereinigten Staaten nicht verlieren würde. Der Wunsch, einen neuen Bipolarismus nach dem Vorbild des ersten Kalten Krieges zu vermeiden, würde die Weigerung Chinas erklären, Waffen an Russland zu liefern, obwohl die Ukraine von den Vereinigten Staaten bis an die Zähne bewaffnet wird. (China kann sich dies leisten, weil Russland keine andere Wahl hat, als sich ihm anzuschließen, Waffen hin oder her, egal welchen Preis China für seinen Schutz verlangen würde.)
In diesem Zusammenhang könnte das einstündige Telefongespräch zwischen Xi und Zelensky am 26. April, das von den meisten europäischen Medien nur am Rande erwähnt wurde, eine Art Wendepunkt gewesen sein. Offenbar bot sich Xi als Vermittler im russisch-ukrainischen Krieg an, und zwar auf der Grundlage eines chinesischen Zwölf-Punkte-Friedensplans, der von den westlichen Staats- und Regierungschefs, sofern sie ihn überhaupt zur Kenntnis nahmen, als trivial und nutzlos abgetan worden war. Bemerkenswerterweise bezeichnete Zelensky das Gespräch als „bedeutsam“ und führte aus, dass „besonderes Augenmerk auf die Möglichkeiten der Zusammenarbeit gelegt wurde, um einen gerechten und dauerhaften Frieden für die Ukraine zu schaffen“. Sollte die chinesische Intervention erfolgreich sein, könnte sie von prägender Bedeutung für die entstehende globale Ordnung nach dem Ende der Geschichte sein.
In den letzten Monaten hat die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock die Welt bereist, um so viele Länder wie möglich in das amerikanische Lager eines erneuerten Bipolarismus zu ziehen, indem sie an liberale – „westliche“ – Werte appelliert, diplomatische, wirtschaftliche und militärische Unterstützung anbietet und mit Wirtschaftssanktionen droht. Die Glaubwürdigkeit Baerbocks als Amerikas Wanderbotschafterin setzt voraus, dass ihr eigenes Land strikt der amerikanischen Linie folgt, einschließlich des Ausschlusses Chinas aus der Weltwirtschaft. Dies steht jedoch in einem grundlegenden Konflikt mit den Interessen der deutschen Industrie und damit auch Deutschlands als Land, was Baerbock dazu zwingt, in Bezug auf China eine heikle, oft geradezu widersprüchliche Linie zu verfolgen.
Während sie beispielsweise ihren jüngsten Besuch in Peking sowohl vor ihrer Ankunft als auch nach ihrer Abreise mit einer aggressiven und sogar feindseligen Rhetorik umrahmte – so sehr, dass ihr chinesischer Amtskollege es für nötig hielt, ihr auf einer gemeinsamen Pressekonferenz zu erklären, dass das Letzte, was China brauche, Belehrungen aus dem Westen seien -, deutete sie offenbar auch an, dass die deutschen Sanktionen eher selektiv als allumfassend sein könnten, wobei die Handelsbeziehungen in mehreren Industriesektoren mehr oder weniger unvermindert fortgesetzt würden.
Mit Blick auf das, was sich hinter den Kulissen abspielt, kann man darüber spekulieren, ob es Scholz gelungen sein könnte, die Vereinigten Staaten dazu zu bringen, Deutschland in seinen Beziehungen zu seinem wichtigsten Exportmarkt etwas Spielraum zu geben, als Belohnung dafür, dass es die europäischen Kriegsanstrengungen in der Ukraine gemäß den amerikanischen Anforderungen durchführt. Andererseits scheinen die deutschen Hersteller in letzter Zeit Marktanteile in China verloren zu haben, und zwar dramatisch bei Autos, wo chinesische Kunden neue Elektrofahrzeuge aus Deutschland zugunsten von einheimischen Modellen verschmähen. Dies mag zum einen daran liegen, dass deutsche Modelle als weniger attraktiv angesehen werden, zum anderen könnte die antichinesische Rhetorik in einem Land mit starken nationalistischen und antiwestlichen Tendenzen eine Rolle gespielt haben. Sollte dies der Fall sein, deutet dies darauf hin, dass sich das Problem der zu großen Abhängigkeit der deutschen Industrie von China möglicherweise bald lösen wird.
Die deutsche China-Politik, die dem bipolaren weltpolitischen Projekt der USA folgt, führt nicht nur zu Konflikten im eigenen Land, sondern auch auf internationaler Ebene, vor allem mit Frankreich, wo sie die Europäische Union noch weiter zu spalten droht. Die französischen Bestrebungen nach „strategischer Autonomie“ für „Europa“ (und „strategischer Souveränität“ für Frankreich) haben nur in einer multipolaren Welt eine Chance, die von einer großen Zahl politisch bedeutsamer bündnisfreier Länder bevölkert wird, ganz ähnlich wie es die Chinesen anscheinend wollen. Inwieweit dies eine Art Äquidistanz zu den Vereinigten Staaten und China impliziert, lässt Emmanuel Macron – wahrscheinlich absichtlich – offen.
Manchmal scheint er eine Äquidistanz zu wollen, manchmal leugnet er sie. In jedem Fall wird diese Aussicht von deutschen prowestlichen Aktivisten geächtet, vor allem von den Grünen, die jetzt die deutsche Außenpolitik kontrollieren. Sie misstrauen Macrons gelegentlichen Beteuerungen, dass „strategische Autonomie“ mit transatlantischer Loyalität vereinbar sei, in einer Zeit wachsender Konfrontation zwischen „dem Westen“ und dem neuen ostasiatischen Reich des Bösen. Infolgedessen ist Frankreich in der EU mehr denn je isoliert.
Macron hat wie frühere französische Präsidenten immer gewusst, dass Frankreich, um die Europäische Union zu dominieren, Deutschland an seiner Seite braucht, oder genauer gesagt, im Brüsseler Jargon: auf dem Rücksitz eines deutsch-französischen Tandems. Sein Problem ist, dass Deutschland nun endgültig vom Rad abgestiegen ist. Unter grüner Führung träumt es zusammen mit Polen und vor allem den baltischen Staaten davon, Putin an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag auszuliefern, was voraussetzt, dass ukrainisch-deutsche Panzer in Moskau einmarschieren, so wie sowjetische Panzer einst in Berlin einmarschierten. Macron will Putin stattdessen erlauben, „sein Gesicht zu wahren“, und hofft, Russland nach einem Waffenstillstand, der, wenn nicht von Frankreich, dann vielleicht von einer Koalition blockfreier Länder des „Globalen Südens“ oder sogar von China vermittelt wird, eine Wiederaufnahme der Wirtschaftsbeziehungen anzubieten.
Die Götterdämmerung der deutsch-französischen Vorherrschaft in der Europäischen Union und die Verwandlung ihrer Ruinen in eine antirussische wirtschaftliche und militärische Infrastruktur, die von osteuropäischen Ländern im Namen des amerikanischen Transatlantizismus betrieben wird, wurde nie deutlicher sichtbar als bei Macrons Reise nach China am 6. April, nach Scholz (4. November) und vor Baerbock (13. April).
Seltsamerweise erlaubte Macron von der Leyen, ihn zu begleiten, nach Ansicht der einen als deutsche Gouvernante, die ihn daran hindern sollte, Xi zu leidenschaftlich zu umarmen, nach Ansicht der anderen, um den Chinesen zu demonstrieren, dass der Präsident der EU kein wirklicher Präsident sei, sondern ein dem französischen Präsidenten untergeordneter, der nicht nur sein eigenes Land, sondern die gesamte EU mit ihm regiert. Die Chinesen, die Macrons Signale verstanden haben mögen oder auch nicht, behandelten ihn königlich, obwohl sie sich zweifellos seiner innenpolitischen Probleme bewusst waren; von der Leyen, die als atlantische Hardlinerin bekannt ist, erhielt eine besondere Nicht-Behandlung.
Auf dem Rückflug in seinem Flugzeug, bei dem von der Leyen nicht mehr mitreiste, erklärte Macron der Presse, dass amerikanische Verbündete keine amerikanischen Vasallen seien, eine Bemerkung, die weithin als Hinweis darauf verstanden wurde, dass Europa sich von China und den Vereinigten Staaten gleichermaßen distanzieren sollte. Deutschland, allen voran sein Außenminister, war entsetzt und ließ dies ohne Umschweife verlauten, und die deutschen Medien folgten pflichtbewusst und einhellig diesem Beispiel.
Einige Tage später, am 11. April, nahm Baerbock am Treffen der G7-Außenminister in Japan teil. Dort brachte sie ihre Kollegen, darunter auch den französischen, dazu, der amerikanischen Flagge, die für eine unteilbare Welt mit Freiheit und Gerechtigkeit für alle steht, so viel Treue wie nur möglich zu schwören. Zu diesem Zeitpunkt hatte Macron, der feststellte, dass sein rhetorischer Kampf gegen die französische Vasallentreue von den Gegnern seiner Rentenreform unbemerkt geblieben war, bereits einen Rückzieher gemacht und sich erneut zur ewigen Treue zur NATO und den Vereinigten Staaten bekannt.
Es gibt jedoch keinen Grund zu glauben, dass dies die Zeitenwende der Europäischen Union aufhalten wird, die mit dem Krieg in der Ukraine begonnen hat: die Spaltung zwischen Frankreich und Deutschland und der Aufstieg der osteuropäischen Mitgliedstaaten zur europäischen Dominanz nach der Rückkehr der Vereinigten Staaten nach Europa unter Biden, in Vorbereitung auf eine globale Konfrontation mit dem Land Xi, in dem unermüdlichen amerikanischen Bemühen, die Welt für die Demokratie sicher zu machen.
Jahrelange Unmenschlichkeit, und jetzt zum ersten Mal ein Urteil
Das britische Unterhaus hat in dieser Woche ein Gesetz von geradezu exquisiter Niedertracht beschlossen. Die Illegal Migration Bill wird, wenn sie in Kraft tritt, die britische Regierung in die Lage versetzen, Menschen aus ehemals kolonisierten Regionen, die auf der Flucht vor ihren zerstörten Lebensbedingungen es irgendwie auf das Territorium des Erzkolonisatoren UK schaffen, in eine andere ehemals kolonisierte Region wegzudeportieren, und zwar ohne dass ihnen dann der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg dabei noch mit einstweiligen Anordnungen in die Quere kommen kann. Das dürfen die Briten zwar rechtlich gar nicht, und das wissen sie auch, aber sie machen es einfach trotzdem, und zwar nicht einfach nur so, sondern aus Prinzip. Dafür sind sie schließlich aus der EU ausgetreten und werden wohl notfalls noch aus der EMRK austreten, damit sie das können. Sie (bzw. die Tory-Regierung und ihre Wähler*innen) wollen das können dürfen, und wenn das Recht sie daran hindert, dann um muss das Recht eben zu gelten aufhören.
Anders als das Vereinigte Königreich ist Griechenland nirgends ausgetreten. Griechenland ist ein Mitglied der Europäischen Union, und die ist bekanntlich, der Himmel sei gepriesen, laut Artikel 2 EUV auf den Grundwerten der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte errichtet. Griechenland ist auch weiterhin und unbestritten Mitglied der EMRK und als solches soeben vom Straßburger Gerichtshof verurteiltworden, einer schwangeren Asylsuchenden 5000 € Schadensersatz zu zahlen für die unmenschliche Behandlung, die ihr im Aufnahmecamp auf der griechischen Insel Samos zuteil wurde.
Das ist tatsächlich das erste Mal, dass der Gerichtshof in einem Urteil die Feststellung trifft, dass die Lebensbedingungen in den griechischen „Hotspots“ mit der Menschenwürde unvereinbar sind. Das erste Mal? Nach all den Jahren, all den Fernsehberichten und aufrüttelnden Reportagen, all den detaillierten und mühevoll dokumentierten Berichten von Menschenrechtsorganisationen? Ja, offenbar ist es das erste Mal. Es ist, wenn ich mich nicht irre, überhaupt das erste Gerichtsurteil dazu. Von den Gerichten der Europäischen Union und der Mitgliedsstaaten gibt es anscheinend überhaupt nichts.
Unmenschliche Lebensbedingungen mitten in der EU, jahrelang und für alle, die hinschauen, offen zu Tage liegend. Und es gibt keinerlei Rechtsprechung? Wie kann das sein?
Ich habe gestern mit den Juristen Philipp Schönberger,Kilian Schavani und Max Maydelltelefoniert, die im Rahmen der Refugee Law Clinics in Berlin und Köln an der Klage beteiligt waren. Was die Begründetheit der Klage betrifft, sei der Fall völlig klar gewesen, sagen sie. Die Verletzung von Artikel 3 EMRK sei lupenrein und wasserdicht dokumentiert. Deswegen habe der Gerichtshof den Fall auch in der kleinen Besetzung mit drei Richter*innen erledigen können:
Materiell sei das ein „No-Brainer“ gewesen. Bevor der Gerichtshof materiell prüfen kann, muss die Klage aber erst mal formell zulässig sein, und das war in der Tat hier alles andere als klar. Man muss schließlich, um in Straßburg anklopfen zu dürfen, immer zuerst den nationalen Rechtsweg ausgeschöpft haben. Und das hatten sie nicht. Wie auch? Es gibt in Samos kein Gericht. Samos verlassen dürfen die Camp-Insassen nicht. Niemand habe ihnen sagen können, was überhaupt hier der richtige Rechtsbehelf ist. Die paar völlig überlasteten Anwält*innen, die es vor Ort gebe, hätten schon mit den Asylverfahren mehr als genug zu tun. Wie soll man also klagen? Wo?
Der Gerichtshof räumt das Hindernis mit dem lapidaren Hinweis aus dem Weg, dass hier „exzessiver Formalismus“ fehl am Platz sei und die griechische Regierung darzulegen habe, welcher Rechtsweg der Klägerin auch praktisch zum Ausschöpfen zur Verfügung gestanden hätte. Hat sie nicht? Dann zulässig.
Kein Rechtsweg für Folteropfer in Griechenland: lässt sich dieser menschenrechtliche Skandal also als ein weiteres Beispiel mediterraner Staatsunzulänglichkeit wegfolklorisieren? Das könnte uns so passen. Tatsächlich steckt hinter all dem Chaos wohl viel mehr Methode, als man meinen möchte und meinen soll. Und diese Methode wird nicht in erster Linie in Athen ersonnen, sondern in Brüssel.
Was hier am Werk ist, kann man, denke ich, mit einem brutal desillusionierenden und aufs Eindringlichste zur Lektüre empfohlenen Paper von Dimitry Kochenov und Sarah Ganty als Teil des Europäische Rechtslosigkeitsrechtsbezeichnen: ein sich stetig weiterentwickelndes System planmäßiger rechtlicher Arrangements in der Absicht, das direkte oder an Dritte ausgelagerte Töten, Foltern, Ausrauben und anderweitig menschenunwürdig Behandeln von ehemals Kolonisierten, die Zutritt und Rechte von ihren einstigen Kolonialherren fordern, jeglicher rechtsstaatlichen Kontrolle zu entziehen.
Dieses Europäische Rechtslosigkeitsrecht, so Kochenov/Ganty, ist nicht nur ein Betriebsunfall. Die EU ist so gebaut, war es von Anfang an. Das Rechtlosigkeitsrecht ist Resultat aus ihrem Design als Raum, in dem diejenigen, die im Besitz der Unionsbürgerschaft sind, alle Rechte haben und diejenigen, die dieses Privileg nicht genießen, so gut wie gar keine. Und dieses Design wiederum, so vermuten Kochenov/Ganty, steht in direktem Zusammenhang mit dem Verlangen, den ehemaligen Kolonialherren über den Verlust ihrer rassistischen Imperien hinwegzuhelfen, indem man den Unterschied zwischen berechtigten Kolonisatoren und entrechteten Kolonisierten trotz dieses Verlusts auf Dauer stellt.
Drei Strategien zum Einsatz von Rechtslosigkeitsrecht heben Kochenov/Ganty hervor: informelle Rückführungs- und andere Abkommen mit zumeist ex-kolonisierten Drittstaaten, oft gekoppelt mit Entwicklungshilfe und Visaerleichterungen, die keinen Rechtscharakter haben, von keinem Gericht kontrolliert, teilweise nicht mal öffentlich bekannt gegeben werden. Dann das unkontrollierte und keinerlei Rechenschaft ablegende Ausgeben von enormen Mengen Geld, um damit die Dienste Dritter für das „Migrationsmanagement“ zu kaufen, für deren Umgang mit der Menschenwürde man jede Verantwortung von sich weist. Und schließlich: FRONTEX, die europäische Grenz- und Küstenschutzagentur, überall dabei, nirgends und für nichts haftbar zu machen, die institutionalisierte Verantwortungsdiffusion. Von der EU-Justiz ist dabei übrigens keine Hilfe zu erwarten: Den EuGH mit seinem eilfertig jede Kontrolle weit von sich weisenden Urteil zum EU-Türkei-Deal bezeichnen Kochenov/Ganty als einen der Architekten des EU-Rechtslosigkeitsrechts.
Jetzt also, immerhin: ein Rechtsweg zum EGMR in Straßburg, ein Urteil, das den Menschen, die diesem Rechtslosigkeitsrecht unterworfen sind, doch ein gewisses Maß an Zugang zum Recht verleiht. Das 6-fach überbelegte, von Gewalt und unfassbarer Not geprägte Lager in Samos aus dem aktuellen Urteil gibt es aber mittlerweile gar nicht mehr. Stattdessen eine Art Hochsicherheitsknast, in den man die Leute einsperrt, alles sauber, alles korrekt, kilometerweit draußen, auf dass sich da nicht zu viele NGOs und Rechtsanwält*innen herumtreiben, und von außen kann niemand sehen, was da drin passiert. Da noch mal eine so gut dokumentierte Klage wie die jetzt in Straßburg entschiedene zustande zu bekommen, wird so oder so schon deshalb schwierig. Und aufrüttelnde Pressereportagen und NGO-Berichte kriegt man auch viel schwerer an Öffentlichkeit, wenn man auf den Bildern immer nur Stacheldraht sieht. Es sind da ja tatsächlich offenbar auch weniger Leute drin. Die Pushbacks scheinen zu wirken. Die sind manifest illegal, aber das schert ja offenbar wirklich überhaupt niemanden mehr. Es ist eh schon extrem schwer, ein Gericht angerufen zu bekommen, wenn man gerade auf dem Mittelmeer ausgesetzt oder in einen weißrussischen Wald zurückgeprügelt wird. Wer es unternimmt, den Menschen von außen dabei zu helfen, geht ein enormes Risiko ein, als Schleuserkomplize kriminalisiert zu werden heutzutage. So wird es immer weiter verfeinert und engmaschiger gemacht, das EU-Rechtslosigkeitsrecht, und die bundesdeutsche Ampelkoalition, wie man liest, knüpft dabei eifrig mit.
■ Zur Jahrestagung Kerntechnik 88 in Lübeck–Travemünde fordert der Bürgermeister, Lübeck nicht als Umschlagplatz für Atommüll zu mißbrauchen / Lokales Bündnis in Lübeck organisiert Protestaktion
Aus Travemünde G. Rosenkranz
Für einen Eklat sorgte das Grußwort des neugewählten Lübecker Bürgermeisters Michael Bouteiller (SPD) zur Eröffnung der Jahrestagung Kerntechnik 88 in Lübeck–Travemünde. Vor der am Dienstag morgen versammelten bundesdeutschen und europäischen Atomgemeinde verzichtete das Stadtoberhaupt auf die bei solchen Anlässen üblichen Freundlichkeiten.
Die Mehrheit der LübeckerInnen sei nicht länger bereit hinzunehmen, daß die Stadt als „nordeuropäischer Umschlagplatz für Atommüll“ mißbraucht werde, erklärte Bouteiller und zitierte aus einem Beschluß der Lübecker Bürgerschaft, in dem diese den „vollständigen Verzicht auf Atomstrom“ gefordert hatte. Die Landtagswahl wertete der erst seit Anfang Mai amtierende Bürgermeister als „Entscheidung gegen die Kernenergie. Damit müssen Sie sich auseinandersetzen.“
Herren im dunklen Anzug quittierten Bouteillers Auftritt mit Zischeln, Pfiffen und vereinzelten „Lüge“–Rufen. Der Jung–Bürgermeister hatte dem ursprünglich als Vertreter der Stadt vorgesehenen Finanzsenator Gerd Rischau (CDU) kurzfristig von der Redeliste gekippt und die Begrüßung des Atomkongresses selbst übernommen.
Für den Dienstagabend plante Bouteiller einen weiteren Auftritt, diesmal vor den Demonstranten gegen die Veranstaltung. Ob es dazu kommen würde, stand bei Redaktionsschluß allerdings noch nicht fest. Am Montag abend hatte das lokale Bündnis, das die Protestaktionen organisiert, den Auftritt des Bürgermeisters bei ihrer Veranstaltung davon abhängig gemacht, ob er am Morgen „ausreichend deutliche Worte“ finden würde.
Bevor Bundesreaktorminister Töpfer als Hauptredner der Eröffnungssitzung das Wort ergriff, fand Staatssekretär Karl Treml als Vertreter der noch geschäftsführenden schleswig–holsteinischen CDU–Landesregierung bewegte Worte. Treml entbot der Atomgemeinde das vom Bürgermeister verweigerte „herzliche Willkommen“ und empfahl sich – „Ich halte an meiner persönlichen Überzeugung zur Nutzung der Kernenergie fest“ – für einen neuen Job. Bundesreaktorminister Töpfer erklärte in seinem einstündigen Grundsatzreferat, die „Gerüchte und Vermutungen“ über eine mögliche Verletzung des Atomwaffensperrvertrags hätten sich als haltlos erwiesen. Sein nahezu abgeschlossenes „Entflechtungskonzept“ als Reaktion auf den Transnuklear–Skandal lobte er als „ein hervorragendes Beispiel für das erforderliche Zusammenwirken von Staat und Industrie“.
Töpfer kündigte an, er wolle künftig „periodische Sicherheitsüberprüfungen“ für alle bundesdeutschen Atomanlagen in Zeiträumen von weniger als zehn Jahren verbindlich vorschreiben. Töpfer beschwor die „Erneuerung des energiepolitischen Grundkonsenses, nicht ohne der neuen schleswig–holsteinischen Landesregierung bei ihren angekündigten Ausstiegsbemühungen einen heißen Tanz anzukündigen. „Ich werde nicht zulassen, daß aus nicht sicherheitsgerichteten Überlegungen politische Entscheidungen“ gegen die Atomenergie gefällt werden“, rief der Minister unter dem Beifall der Atomgemeinde.
PreAg–Chef Herbert Krämer riet dem Lübecker Bürgermeister nach der Eröffnungssitzung, angesichts von 16 Prozent Arbeitslosigkeit in seiner Stadt „sollte er mit seinen Gästen etwas anders umgehen“.
Der Gouverneur von Florida, Ron DeSantis, steckt in einer von ihm selbst erdachten Falle. Sein zur Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Republikaner hängt davon ab, die Basis von Donald Trump davon zu überzeugen, dass er eine engagiertere und diszipliniertere Version des ehemaligen Präsidenten darstellt, dass er ihre populistischen Beschwerden teilt und nur darauf abzielt, die Trump-Agenda mit mehr Nachdruck und Geschick umzusetzen.
Aber es hängt auch davon ab, eine G.O.P.-Elite, die des erratischen Bombastes von Herrn Trump überdrüssig ist (ganz zu schweigen von Wahlverlusten und rechtlichen Risiken), davon zu überzeugen, dass er, Herr DeSantis, eine verantwortungsvollere Alternative darstellt: gewitzt, wo Herr Trump rücksichtslos ist; buchhalterisch, wo Herr Trump spießig ist; skrupellos, gerissen und detailorientiert, wo Herr Trump ungestüm und leicht zu langweilen ist. Kurz gesagt, für die Basis muss DeSantis mehr Trump als Trump sein und für die Spender weniger.
Bislang hatte DeSantis mehr Erfolg bei den Parteieliten. Durch die Kombination von aggressiven Positionen zu den Kulturkriegen mit der freien Marktwirtschaft und einem Appell an seine eigene Kompetenz und sein Fachwissen ist es Herrn DeSantis gelungen, wichtige republikanische Megasponsoren, Führungskräfte des Murdoch-Medienimperiums und konservative Vordenker von National Review bis zum Claremont Institute zu gewinnen.
Bei wohlhabenden Republikanern mit Hochschulbildung, die in Städten und Vorstädten leben, liegt er in den Umfragen deutlich vor Herrn Trump. Bei den weniger gebildeten Konservativen aus der Arbeiterschaft und den ländlichen Regionen hat Trump dagegen weiterhin die Nase vorn. Für die G.O.P. hat der Kampf in den Vorwahlen begonnen, eine nur allzu bekannte Geschichte zu erzählen: Die Eliten gegen den Pöbel.
Trump seinerseits scheint diese beginnende Klassenspaltung (und vielleicht auch den Mangel an Milliardären, die ihm zu Hilfe eilen) zur Kenntnis genommen zu haben. In den letzten Wochen hat er Herrn DeSantis als Werkzeug der „globalistischen“ Plutokraten und der alten Garde der Republikaner aufgespießt.
Seit seiner Anklage durch eine Grand Jury in Manhattan hat Trump versucht, seinen Status als unentbehrlicher Volksvertreter zu festigen, der von allen Seiten von einer Verschwörung liberaler Eliten angegriffen wird. Auch wenn Spender und Funktionäre einen stubenreinen Populismus bevorzugen, geht Trump davon aus, dass große Teile der Basis immer noch das Echte wollen, mit allen Schattenseiten.
Wenn seine Wette aufgeht, ist das nicht nur ein Zeichen für seine anhaltende Dominanz über die Republikanische Partei, sondern auch für etwas Tiefergehendes: eine anhaltende Revolte gegen „die Besten und Klügsten“, die Vorstellung, dass nur bestimmte Leute mit bestimmten Talenten, Zeugnissen und Fachkenntnissen zum Regieren fähig sind. Der Kapitalismus des zwanzigsten Jahrhunderts, so Lasch (Christopher Lasch), habe zu einer gefährlichen Fehlverteilung von Intelligenz und Kompetenz geführt; Experten hätten das Regieren an sich gerissen, während der Wert praktischer Erfahrung stark gesunken sei.
Während der Trump-Jahre kam Lasch (Christopher Lasch) bei den Konservativen kurzzeitig in Mode, aber sie haben seine zentrale Behauptung nie verstanden: dass die Herstellung von Kompetenzgleichheit eine wirtschaftliche Umverteilung erfordern würde.
In seinem Buch aus dem Jahr 2011 wetterte DeSantis gegen den „’nivellierenden‘ Geist“, der sich in einer Republik durchzusetzen droht, insbesondere in den unteren Schichten. Sein Hauptziel in dem Buch ist die „Umverteilungsgerechtigkeit“, womit er offenbar jegliche Bemühungen meint, die Vorteile des Wirtschaftswachstums gerechter zu verteilen – sei es durch den Einsatz staatlicher Macht zur Versorgung der Armen oder zur Gewährleistung von Gesundheitsversorgung, höheren Löhnen oder Arbeitsplätzen.
Die wesentlichen Bestandteile seiner Weltanschauung sind dieselben geblieben. DeSantis hat sich eine populistische Sprache zu eigen gemacht, aber er hat heute nicht mehr Sympathie für den „nivellierenden Geist“ als vor 12 Jahren – das Ethos der Verachtung von Fachwissen, das Trump verkörperte, als er 2015 die nationale politische Bühne betrat. Tatsächlich stellt die Haltung von Herrn DeSantis ein Bollwerk dagegen dar: ein Versuch, die Wähler der G.O.P. davon zu überzeugen, dass ihre Feinde eher kulturelle als wirtschaftliche Eliten sind; dass ihre Freiheit nicht durch die Existenz einer Oligarchie, sondern durch die lästigen kulturellen Sitten der Oligarchen bedroht ist.
DeSantis hat eine Agenda ausgearbeitet, die fortschrittliche Orthodoxien dort angreift, wo sie die konservativen Eliten am ehesten stören und verärgern: Integration von Homosexuellen und Transsexuellen in Vorstadtschulen, Vielfalt und Gleichberechtigung in der Bürokratie von Unternehmen, Studien über Schwarze in A.P.-Klassen und Universitäten. Keines dieser Themen hat eine nennenswerte Auswirkung auf die Chancen, die den Menschen der Arbeiterklasse geboten werden. Und doch betrachten es die konservativen Eliten als einen Glaubensartikel, dass diese Themen den durchschnittlichen republikanischen Wähler motivieren werden..
Die konservative Bewegung stützt sich auf die Überzeugung, dass die Amerikaner liberale Eliten ablehnen, weil sie „wach“ sind, und nicht, weil sie so viel Macht über das Leben anderer Menschen ausüben. Ihr Versprechen, die progressive Elite durch eine konservative zu ersetzen – mit Männern wie Ron DeSantis -, basiert auf der Vorstellung, dass die Amerikaner sich mit dem Gedanken anfreunden können, dass nur bestimmte Männer zum Regieren geeignet sind.
Während seiner zweiten Antrittsrede in Tallahassee im Januar machte sich DeSantis den Kulturkampf zu eigen, der ihn zu einem Favoriten von Fox News gemacht hat. Er wetterte gegen „offene Grenzen“, „Identitätsessenzialismus“, die „Verhätschelung“ von Kriminellen und den „Angriff“ auf die Strafverfolgung. „Florida“, erinnerte er sein Publikum mit einem beliebten, wenn auch plumpen Beifallsspruch, „ist der Ort, an dem der Wahnsinn stirbt!“
Doch der eigentliche Schwerpunkt lag – wie bei seiner Rede auf der Konferenz des Nationalen Konservatismus in Miami im September – auf Ergebnissen (ein Wort, das er wiederholte). DeSantis versprach kompetente Führung; „Vernunft“ und „Freiheit“ waren seine Motive. Die meiste Zeit seiner Rede klang der Gouverneur sehr nach dem Reagan-Konservativen aus dem Central Casting. „Wir haben gesagt, wir würden dafür sorgen, dass Florida wenig Steuern erhebt, vernünftig reguliert und konservativ ausgibt“, sagte er, „und wir haben geliefert.“
Im Allgemeinen ist der Populismus von DeSantis stark auf kulturelle und weniger auf wirtschaftliche Missstände ausgerichtet. Die Manöver, mit denen er sich bei den Nationalisten beliebt macht – ein paar Dutzend venezolanische Migranten aus Texas nach Martha’s Vineyard einfliegen zu lassen, zu versuchen, die „kritische Rassentheorie“ an öffentlichen Hochschulen zu verbieten und Vergeltung an Disney zu üben, weil sie sein „Don’t Say Gay“-Gesetz kritisiert haben – sind sorgfältig kalibriert, um seine populistische Glaubwürdigkeit zu verbessern, ohne die G.O.P.-Eliten übermäßig zu provozieren, die sich nach einer Rückkehr zu einer relativen konservativen Normalität sehnen.
Tatsächlich scheinen republikanische Megasponsoren wie die Koch-Familie und der Hedgefonds-Milliardär Ken Griffin Herrn DeSantis zu bewundern, obwohl er im Fernsehen regelmäßig den populistischen Brandstifter spielt. Griffin sagte kürzlich gegenüber Shia Kapos von Politico, er wolle, wie Frau Kapos es beschrieb, den Populismus, der einige republikanische Politiker gegen die Unternehmenswelt aufbringt, „abstumpfen“. Herr Griffin spendete 5 Millionen Dollar für die Wiederwahlkampagne von Herrn DeSantis.
Der Hauptanspruch von Herrn DeSantis, Trumps legitimer Erbe zu sein, ist vielleicht sein Umgang mit der Covid-Pandemie in Florida. Herr DeSantis stellt seine Entscheidung, den Staat wieder zu öffnen und Maskenmandate zu verbieten, als einen mutigen Schritt gegen Technokraten und Wissenschaftler dar, die Bewohner des, wie er es nennt, „biomedizinischen Sicherheitsstaates“.
Doch seine Verachtung für Experten ist selektiv. Bei der Entscheidung, wie mit der Pandemie umzugehen sei, arbeitete DeSantis mit dem Stanford-Epidemiologen Jay Bhattacharya zusammen („Er hat die gesamte medizinische Literatur gelesen – die gesamte, nicht nur die Zusammenfassungen“, sagte Dr. Bhattacharya dem New Yorker) und folgte den Empfehlungen einer Gruppe von Epidemiologen aus Stanford, Harvard und Oxford, die auf eine schnellere Wiedereröffnung drängten. Dass Herr DeSantis deren Empfehlungen gegenüber denen von Dr. Anthony Fauci und den Centers for Disease Control and Prevention den Vorzug gibt, bedeutet nicht, dass er Fachwissen als solches ablehnt, sondern nur, dass er sich auf alternatives Fachwissen einlässt. Herr DeSantis wollte Floridas Tourismuswirtschaft retten, und er fand Experten, die ihm dazu raten würden.
In Wirklichkeit ist Herr DeSantis nicht gerade gegen Eliten; er will lediglich die derzeitige Elite (in der Wissenschaft, in Unternehmen und in der Regierung) durch eine konservativere Elite ersetzen, mit Experten, die nicht, wie Herr DeSantis zu sagen pflegt, vom „Woke Mind Virus“ infiziert worden sind. Das Ziel ist nicht, die technokratische Oligarchie abzuschaffen, sondern sie neu zu besetzen – mit Leuten wie Ron DeSantis.
Frühere Generationen amerikanischer Denker verfolgten höhere Ziele. „Die Herrschaft des Fachwissens“, schrieb der Historiker Christopher Lasch 1994, „ist das Gegenteil von Demokratie“. Im 19. Jahrhundert waren europäische Besucher beeindruckt (und entnervt), dass selbst Bauern und Arbeiter Zeitschriften verschlangen und sich an den Debattierklubs des frühen Amerika beteiligten. Das entscheidende Merkmal des demokratischen Experiments in Amerika, so Lasch, sei „nicht die Möglichkeit, in der sozialen Skala aufzusteigen“, sondern „das völlige Fehlen einer Skala, die die Bürgerlichen eindeutig von den Gentlemen unterscheidet.“
Der Kapitalismus des zwanzigsten Jahrhunderts, so Lasch, habe zu einer gefährlichen Fehlverteilung von Intelligenz und Kompetenz geführt; Experten hätten das Regieren an sich gerissen, während der Wert praktischer Erfahrung stark gesunken sei.
Während der Trump-Jahre kam Lasch bei den Konservativen kurzzeitig in Mode, aber sie haben seine zentrale Behauptung nie verstanden: dass die Herstellung von Kompetenzgleichheit eine wirtschaftliche Umverteilung erfordern würde.
Die wesentlichen Bestandteile seiner Weltanschauung sind dieselben geblieben. DeSantis hat sich eine populistische Sprache zu eigen gemacht, aber er hat heute nicht mehr Sympathie für den „nivellierenden Geist“ als vor 12 Jahren – das Ethos der Verachtung von Fachwissen, das Trump verkörperte, als er 2015 die nationale politische Bühne betrat. Tatsächlich stellt die Haltung von Herrn DeSantis ein Bollwerk dagegen dar: ein Versuch, die Wähler der G.O.P. davon zu überzeugen, dass ihre Feinde eher kulturelle als wirtschaftliche Eliten sind; dass ihre Freiheit nicht durch die Existenz einer Oligarchie, sondern durch die lästigen kulturellen Sitten der Oligarchen bedroht ist.
DeSantis hat eine Agenda ausgearbeitet, die fortschrittliche Orthodoxien dort angreift, wo sie die konservativen Eliten am ehesten stören und verärgern: Integration von Homosexuellen und Transsexuellen in Vorstadtschulen, Vielfalt und Gleichberechtigung in der Bürokratie von Unternehmen, Studien über Schwarze in A.P.-Klassen und Universitäten. Keines dieser Themen hat eine nennenswerte Auswirkung auf die Chancen, die den Menschen der Arbeiterklasse geboten werden. Und doch betrachten es die konservativen Eliten als einen Glaubensartikel, dass diese Themen den durchschnittlichen republikanischen Wähler motivieren werden.
Die konservative Bewegung stützt sich auf die Überzeugung, dass die Amerikaner liberale Eliten ablehnen, weil sie „wach“ sind, und nicht, weil sie so viel Macht über das Leben anderer Menschen ausüben. Ihr Versprechen, die progressive Elite durch eine konservative zu ersetzen – mit Männern wie Ron DeSantis -, basiert auf der Vorstellung, dass die Amerikaner sich mit dem Gedanken anfreunden können, dass nur bestimmte Männer zum Regieren geeignet sind.
Herr Trump ist trotz dessen, was er manchmal repräsentiert, nicht wahrscheinlicher als Herr DeSantis, um die amerikanische Oligarchie zu stören. (Als Präsident hat er das Land weitgehend von den Plutokraten in seinem Kabinett regieren lassen.)
Nur wenige Politiker auf beiden Seiten scheinen darauf erpicht zu sein, Amerikas nivellierenden Geist zu entfesseln – anstatt ihn einzudämmen – und jedem Amerikaner die Mittel, und nicht nur das Recht, zu geben, sich selbst zu regieren.
Um das elitäre Patt zu durchbrechen, das unseren Kulturkampf ausmacht, müssen die Politiker dem Drang widerstehen, eine einzelne Führungspersönlichkeit oder eine Gruppe von Führungspersönlichkeiten zu benennen, die sich durch ihre Brillanz auszeichnen und die harte Arbeit schultern, Amerika groß zu machen. Das würde bedeuten, ein Sprichwort ernst zu nehmen, das Barack Obama häufig zitiert, aber kaum durch seine Präsidentschaft verkörpert wird: dass „wir diejenigen sind, auf die wir gewartet haben“. Es würde auch bedeuten, um einen Satz des schottischen Essayisten Thomas Carlyle zu zitieren, der von Christopher Lasch favorisiert wird, dass das Ziel unserer Republik – jeder Republik – darin bestehen sollte, „eine ganze Welt von Helden“ aufzubauen.