„Wer nicht wahrgenommen wird, ist ein Nichts“

Gewaltforscher Wilhelm Heitmeyer erklärt, warum die AfD im Osten so stark ist und welche Rolle Kultur- und Klassenkämpfe bei ihrem Erfolg spielen. Ein Interview von Baha Kirlidokme

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Wo man hinsieht, nichts: Die AfD ist besonders in Ostdeutschland erfolgreich. Die Wende hat dort wirtschaftlich wenig hinterlassen, man fühlt sich abgehängt. dpa

Herr Heitmeyer, die AfD stellt seit Sonntag ihren ersten Bürgermeister in Sachsen-Anhalt, seit einer Woche ihren ersten Landrat in Thüringen. Je nach Umfrage ist sie bundesweit zweitstärkste Partei und könnte in Thüringen sogar die Landtagswahl gewinnen. Hätten die Alarmglocken nicht schon gestern läuten müssen?

Man muss sich schon große Sorgen machen, vor allem mit Blick auf die Landtagswahlen. Die Wahl des Bürgermeisters und des Landrates sind Symptome einer Normalisierung. Es ist deshalb notwendig, dass man die AfD nochmal genauer in das gesamte rechte Spektrum einordnet. Es ist verwunderlich und nachlässig, wie Leitmedien die AfD immer noch verharmlosend als rechtspopulistisch bezeichnen. 

Die Partei ist keine klassisch rechtsextremistische, denn Rechtsextremismus operiert immer mit Gewalt. Ich identifiziere die Partei als „Autoritären Nationalradikalismus“. Das Autoritäre findet sich als erstes Kriterium im Ordnungsmodell einer Gesellschaft mit traditionellen Lebensweisen, starker Führung und dichotomischen Weltbildern. Das zweite Kriterium ist das Nationalistische, das auf die Überlegenheitsfantasien der deutschen Kultur zielt, mit der Formel „Deutschland zuerst“ hantiert und „Deutsch-Sein“ als Identitätsanker. Das dritte Kriterium, das Radikale, zeigt sich in einem rabiaten Kommunikations- und Mobilisierungsstil, der durchzogen ist von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.

Wie sollte der richtige Umgang von Medien mit der AfD aussehen?

Wir müssen die gesellschaftliche Entwicklung einbetten in den Kontext von Krisen, Kontrollverlusten und Konfliktstrategien der AfD. Die traditionellen Instrumente in der Politik, um Krisen zu bewältigen, funktionieren an vielen Stellen nicht mehr. Zudem sind die Zustände vor den Krisen nicht wiederherstellbar. Teile der Bevölkerung erleben deshalb Kontrollverluste über ihre Biografie. An der Stelle setzt dann die AfD an mit dem Slogan: „Wir stellen die Kontrolle wieder her“. Insofern müssen Medien genauer einordnen und die Mechanismen beschreiben.

Also war es ein Fehler des „Stern“-Magazins, Alice Weidel auf das Cover zu heben?

Ich halte das gesamte Interview gelinde gesagt für eine Home-Story, die da vom „Stern“ produziert wurde. Die Journalisten haben an keiner Stelle nachgehakt. Wenn man so an der Oberfläche herumturnt, ist es ein großer Gewinn für die AfD und Frau Weidel. 

Wer sind eigentlich die Wähler und Wählerinnen der AfD? Das werden ja wohl kaum alles Neonazis sein, wie manche meinen.

Nein, auch deshalb insistiere ich, den Begriff des „Autoritären Nationalradikalismus“ stark zu machen. Dahinter verbergen sich nicht Neonazis, das ist eine andere Gruppierung. Es gibt vier Gruppen, die man hier besonders nennen muss. Die AfD gewinnt gerade in Ostdeutschland bei den autoritär sozialisierten Menschen, die in einen Kontext des Kontrollverlustes hineingeraten sind. Das sind Menschen, die aufgrund der Wende viele Brüche in ihrer Lebensbiografie und oft Anerkennungsverluste erfahren haben. Für diese Menschen ist es attraktiv, wenn die Wiederherstellung von Kontrolle propagiert wird. Die zweite Gruppe sind ehemalige Nichtwähler, denen das Vertrauen in die Demokratie fehlt. Die AfD hat es geschafft, viele von ihnen aus der wutgetränkten Apathie zu holen. Hier hat die AfD mit ihrem rabiaten Kommunikations- und Mobilisierungsstil angesetzt. Zur dritten Gruppe zählt die Arbeiterschaft, bis hin zu Gewerkschaftsmitgliedern. Die vierte Gruppe ist eine, die einem besonders Sorgen machen muss, die rohe Bürgerlichkeit. Hinter einer glatten bürgerlichen Fassade verbirgt sich ein Jargon der Verachtung. Diese rohe Bürgerlichkeit ist in der Mitte der Gesellschaft angesiedelt und ist in Westdeutschland noch nicht als Potenzial ausgeschöpft. Bei diesen vier Gruppen erfahren die etablierten Parteien nicht ausreichend Resonanz, weil diese Gruppen den Eindruck haben, dass sie nicht hinreichend wahrgenommen werden. Wer nicht wahrgenommen wird, ist ein Nichts. 

Bleiben wir bei der ersten Gruppe, die Ostdeutschland betrifft. Sie benennen die Wende als Grund, aber auch eine autoritäre Sozialisierung. Ist die Wende hier aber, alleine mit Blick auf das Treuhand-Trauma, nicht der zentrale Punkt? 

Ja, hinter den Kontrollverlusten stecken auch sozio-ökonomische Gründe. Hier spielt Statusabstieg eine große Rolle. Der Punkt ist, dass die Identitätsfrage, also das Deutschsein, dadurch bedeutend wird. Es kann in der Lebensbiografie alles verloren gehen, der Job, die Familie, aber eins kann einem nicht genommen werden: das Deutschsein. Hier setzt die AfD mit ihrer rabiaten Identitätspolitik an. Ein weiterer Grund, warum sie in Ostdeutschland erfolgreich ist, ist aber auch die sozialgeografische Struktur mit Kleinstädten und Dörfern. Das wird in der Debatte noch unterschätzt. Die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist dort aufgrund der sozial-kulturellen Homogenität höher, als in großen Städten, die heterogen sind. 

Die Partei schafft es also, die soziale Frage an das Völkisch-Identitäre zu knüpfen.

Ja, das ist ein wichtiger Punkt. Es gibt einen ziemlich deutlichen Zusammenhang, dass dieser Mobilisierungsstil damit arbeitet, die soziale Frage zu emotionalisieren, statt rationale Strategien zu präsentieren. Dann ist schnell die Rede vom Untergang des deutschen Volkes, wie Herr Höcke sagt, oder auch Begriffe wie „Umvolkung“ oder „Bevölkerungsaustausch“ werden auf die Agenda gehoben. Somit werden Identitätsfragen in den Vordergrund gestellt.

Ist es immer noch zutreffend zu sagen, dass ein Teil der AfD-Wählerinnen und Wähler Protest artikulieren? Immerhin geben laut Infratest dimap 76 Prozent der Befragten an, die Partei aus Enttäuschung zu wählen und nicht aus Überzeugung.

Der Begriff „Protestwähler“ ist seit der Gründung der AfD eine ständige politische Beruhigungsformel, nichts anderes. Diese Beruhigungsstrategie, nach dem Motto: „Wenn wir einfach die Sprache der AfD übernehmen und die Renten ein wenig erhöhen, wird sich alles legen“, die von Anfang an verfolgt wird, halte ich nicht für stichhaltig. Dass die Menschen aus Enttäuschung gegenüber anderen politischen Parteien die AfD wählen, muss nicht unbedingt Protest heißen. Vielmehr läuft da ein Normalisierungsprozess. Den Leuten wird signalisiert, dass inzwischen jede Stimme für die AfD keine verlorene Stimme mehr ist.

Aber soll der Begriff der Protestwahl nicht eher darauf aufmerksam machen, dass die etablierten Parteien mangelhafte Arbeit leisten?

Das sollte unbestritten sein. Aber diese Beruhigungsformel, dieser Begriff, stammt aus den etablierten Parteien, in der Hoffnung, die Wähler würden schon zurückkommen. Nur passiert das nicht. Man muss endlich mal erkennen, dass die Einstufung der AfD als rechtsextremistische Partei nicht mehr abschreckt und gleichzeitig der „Autoritäre Nationalradikalismus“ mit dem Versprechen der Wiederherstellung von Kontrolle attraktiv ist. 

Also wäre es auch nicht verkürzt zu sagen, dass sich die anderen Parteien auf dem Irrglauben ausgeruht haben, ihre Wähler und Wählerinnen würden schon wieder zurückkehren? Das wäre ja arrogant von der Politik.

Die Parteien haben sich natürlich ausgeruht. Zum Teil hat es in der Vergangenheit ja den Eindruck gehabt, dass sich die AfD von innen zerlegt. Das ist aber vorbei und dadurch gewinnt die Partei an Zuspruch. Obwohl sie ja in keiner Weise inhaltliche Lösungskompetenz nachgewiesen hat.

Opposition und Regierung werfen sich gegenseitig vor, Schuld am AfD-Zulauf zu haben. 

Das sind sehr oberflächliche und hilflose Schuldverschiebungen in beide Richtungen. Aber die Positionierung der CDU hat einen Anteil. Die berühmte Brandmauer gegen rechts bröckelt von unten, also kommunal. Das sieht man auf Landesebene, wenn in der CDU Stimmen aufkommen, dass man das Soziale mit dem Nationalen versöhnen sollte. Hinzu kommen auch die zahlreichen Übereinstimmungen der CDU in Sachsen mit AfD-Positionen zu Russland. Das ist sehr viel schwerwiegender, als die Auseinandersetzung innerhalb der Ampel-Regierung, wobei dieses autoritäre Durchsetzen-Wollen des Heizungsgesetzes zum Beispiel schon seinen Beitrag geleistet haben kann.

Die Merz-CDU fährt einen konservativeren Kurs als die Merkel-CDU. Die These ist, dass die Partei der AfD mit einem Rechtsruck Stimmen abnehmen möchte. Geht diese Strategie wirklich auf?

Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Merz hat ja seine Uraltformel, dass er die AfD-Stimmen halbieren möchte, nicht mehr ausgesprochen. Die AfD hat inzwischen eine stabile Wählerschaft und ist keine Eintagsfliege. 

Nun sind die Konservativen das eine. Welche Rolle am Erfolg der AfD spielt denn eine moralisierende individualistische Identitätspolitik linksliberaler Milieus?

Identitätspolitiken sind immer problematisch. Das gilt teilweise auch links, weil Identitätspolitik immer Grenzen hart macht. Wer gehört dazu, wer nicht? Wer darf was sagen, wer sollte schweigen? Insofern muss man in der Tat dort, wo solche Identitätspolitiken von links aufgebaut werden, kritisch sein. 

Sind diese Identitätspolitiken also Teil von Kulturkämpfen, die von Klassenkämpfen ablenken?

Ja. Insofern sind wir da auch in einer gefährlichen Situation, weil Identitätspolitiken hoch emotionalisiert werden. Mit ihrem rabiaten Kommunikations- und Mobilisierungsstil hat die AfD diesen Kampfplatz prominent besetzt. Sie propagieren den Konflikt-Typus des „Entweder-Oder“.

Hat es die gesellschaftliche und vor allem parlamentarische Linke also verlernt, soziale Fragen adäquat zu thematisieren, indem sie sich durch Identitätspolitiken ablenken lässt?

Das kann man mit Sicherheit so sagen und das gilt nicht nur für die Linke. Wir haben es seit den 90er Jahren mit einer Entwicklung zu tun, in der sich ein autoritärer Kapitalismus entwickelt hat, der riesige Kontrollgewinne aufweist, ob nun bei Standortfragen, sozialen Standards oder Wohlfahrtsfragen. Im Gegenzug hat die nationalstaatliche Politik in diesen Feldern riesige Kontrollverluste erlitten. Die Politik verlor also die Kraft oder auch den Willen, die soziale Ungleichheit zu bekämpfen und das wird in der Bevölkerung natürlich wahrgenommen. Dem haben zurückliegende Regierungen und durchaus auch die parlamentarische Linke nichts entgegengesetzt. Schon vor der Gründung der AfD 2013 waren diese Muster vorhanden, die sich in einer „Demokratieentleerung“ gezeigt hat: Der Apparat funktioniert, das Vertrauen erodiert. 

Wenn man die AfD erfolgreich bekämpfen möchte, muss man also den Kapitalismus bekämpfen?

Man muss sich selbstverständlich dieser gesellschaftlichen Grundstruktur des Kapitalismus zuwenden. Wenn man die AfD bekämpfen will, müssten beispielsweise auch die Wirtschaftsverbände endlich mal ihre Stimme erheben, aber da existiert ja offensichtlich ein ziemlich kalkulatorisches Verhältnis. Es ist kaum zu fassen, dass sie ihre Stimme nicht erheben.

Aber ist das wirklich kaum zu fassen? Historisch stand die Industrie autoritären, nationalistischen, faschistischen Regimen doch in der Regel nahe.

Genau das ist ja das Problem. Die Wirtschaftseliten bestimmen ja an vielen Stellen die politische Richtung einer Gesellschaft. Es ist völlig unverständlich, dass dort nicht andere Stimmen zu hören sind.

Weil es am Ende für die Wirtschaftseliten keinen großen Unterschied macht, ob die AfD regiert oder eine große Koalition?

Naja, die Wirtschaft kann auf der einen Seite nicht um Fachkräfte werben und der AfD auf der anderen Seite ahnungslos begegnen, die dagegen vorgehen will. Wie soll dieser Widerspruch aufgelöst werden? Oder nehmen Eliten das gar nicht wahr? Das ist entweder Gedankenlosigkeit oder Kalkül. 

Warum schaffen es die etablierten Parteien nicht, die soziale Frage adäquat zu beantworten? Sind sie untätig?

Untätig sind sie nicht. Die Frage ist, warum die Bekämpfung der sozialen Ungleichheit sich nicht in den Vordergrund stellt. Das wird wohl daran liegen, dass die großen Versäumnisse der Parteien in der Vergangenheit zum Vorschein kommen würden.

Aber die Linkspartei könnte doch mit einem starken Fokus auf die soziale Frage aus der Krise kommen, statt wie Sahra Wagenknecht am rechten Rand zu fischen.

Die parlamentarische Linke hat den Zeitpunkt verpasst, vor allem jetzt, wo Frau Wagenknechts Links-Konservatismus die Runde macht. Also eine linke Wirtschaftspolitik mit konservativer Gesellschaftspolitik. Wenn so eine Wagenknecht-Partei zustande kommt, könnte das durchaus für AfD-Sympathisanten attraktiv sein.

Aber eine vermeintlich linke AfD kann ja auch nicht die Lösung sein. Welche Akteure müssen jetzt also was tun, um der AfD Luft aus den Segeln zu nehmen?

Ich kann auf jeden Fall sagen, dass der Schrei nach einem Parteienverbot, der an verschiedenen Stellen positioniert wird, nach hinten losgehen würde. Daneben haben wir unterschiedliche Felder. Wie die De-Industrialisierung am Horizont in verschiedenen Landstrichen, die für viele Menschen einen biografischen Umbruch bedeuten könnte. Aber was können wir unternehmen, mit Blick auf die Kulturkämpfe? Dafür habe ich derzeit keine Lösung. Neben dem ökonomischen ist nämlich wichtig, wie man mit der Identitätsfrage umgeht. Mit einer reinen Erhöhung der Renten sind die Anerkennungsverluste vor allem im Osten nicht aufzuheben, das geht sehr viel tiefer.

Wenn die Erhöhung der Renten nicht ausreicht, was dann?

Aus meiner Sicht muss die Politik die Menschen anders wahrnehmen und sicherstellen, dass ihre Stimmen gehört werden. Teile der Bevölkerung lassen es sich nicht mehr bieten, wenn sie sich von demokratischen Parteien nicht wahrgenommen fühlen. Dann suchen sie sich andere Sprachrohre. Da kommt der „Autoritäre Nationalradikalismus“ gerade recht.

„Wir haben es seit den 90er Jahren mit einer Entwicklung zu tun, in der sich ein autoritärer Kapitalismus entwickelt hat, der riesige Kontrollgewinne aufweist, ob nun bei Standortfragen, sozialen Standards oder Wohlfahrtsfragen“

„Identitätspolitiken sind immer problematisch. Das gilt teilweise auch links, weil Identitätspolitik immer Grenzen hart macht. Wer gehört dazu, wer nicht?“

Zur Person

Wilhelm Heitmeyer, 78, war Gründer und von 1996 bis 2013 Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld. Aktuell arbeitet er dort noch als Senior-Professor. 

Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen zu Rechtsextremismus, Menschenfeindlichkeit und sozialer Desintegration.

Quellenangabe: FR Deutschland vom 05.07.2023, Seite 22