1943,
Richter am Verwaltungsgericht Minden,
Gründung IBZ Friedenshaus (Internationales Begegnungszentrum) Bielefeld,
Aufbau und Leitung Wasserschutzamt Bielefeld,
Bürgermeister a.D. Lübeck,
Rechtsanwalt bis April 2024, Autor
Der Sturm auf das Kapitol am 5. Januar hat am Wochenende seinen Widerhall in den sozialen Medien gefunden: Nach der erst nur zeitweiligen Blockierung des Twitter-Accounts von Donald Trump darf er nun auf unbestimmte Zeit nicht mehr twittern wegen „des Risikos einer weiteren Anstiftung zur Gewalt“.
Derweil treiben Apple, Google und Amazon die bei Trumps treuen Truppen beliebte App Parler in die wirtschaftliche Enge, um ihren politischen Gebrauch zu verhindern. Apple vertreibt Parler nun nicht mehr und Amazon hat sie zwischenzeitlich abgeschaltet – ein Wink mit dem Zaunpfahl, dass die Social-Media-Ära der Trumpisten dem Ende nahe ist.
Der nun doch scheidende US-Präsident schweigt weitgehend zu alledem. Das Wetter in den USA ist nicht so sehr nach Golfen als Symbol des Desinteresses an Washingtons Polit-Betrieb. Seine Republikaner überschlagen sich in ihren Absetzbewegungen und „special people“, die das Kapitol angriffen, scheinen etwas ratlos, weil sie nicht gesiegt haben.
Der Harvard-Politologe Daniel Ziblatt mutmaßt denn auch im FR-Interview, dass Trump keinen Plan hat, dass er „nur für kleine Zeiträume Pläne schmieden kann“. Ziblatt warnt aber auch davor, Trump völlig abzuschreiben: „Jeder Tag mit ihm als Präsident ist ein Risiko.“ Denn die Vermutung steht: Trumps seit Jahren ohne Unterlass betriebenes Medien-Bombardement der USA zeigt nachhaltige Wirkung.
In gewisser Weise hat Trump erreicht, was er immer versprach: „Make America Great Again.“ Leider nicht so, wie es ein gewitzter Twitterer interpretierte: „Am Ende hat Trump die Republikaner die Präsidentschaft gekostet, den Senat und das Repräsentantenhaus (…) Er hat Amerika wirklich wieder groß gemacht.“ Viel eher hat er der Ultrarechten gezeigt, welche Macht sie entfalten kann – auf den Straßen, im Netz und in den Korridoren des Kapitol
Die Soziologin Anna-Katharina Meßmer warnt denn auch davor, die Rolle von Twitter & Co. für Trumps „Armee“ zu überschätzen. Seine „Reichweite lag nicht allein an Twitter“, sagt die Projektleiterin bei der Stiftung Neue Verantwortung. Trump als bekannte Größe in den alten Medien habe dort viel mehr Leute erreichen können. „Alles, was er getwittert hat, wurde besprochen und aufgriffen.“ Die sozialen Medien seien „ein nicht zu unterschätzender Katalysator“, warnt Meßmer. Durch den können sich viele neue Trumps entwickeln – oder der alte Trump neu erfinden.
Und so mahnen alte Medien die Netz-Giganten vorm bemühten Muskelspiel ihrer plötzlich entdeckten sozialen und politischen Verantwortung: Demokratie rette oder belebe man nicht durch mediale oder ökonomische Macht.
Jonathan Meese-Frankenstein in Lübeck – ein Rückblick auf die Kultur Lübecks vor der Pandemie
Die Meese-Ausstellung in Lübeck liegt nun über ein Jahr zurück (Februar-August 2019). Folgt man den AusstellungsmacherInnen war dieses Projekt ein außergewöhnliches national und international beachtetes Event (30.000 BesucherInnen?). Was bleibt inhaltlich nach?
Man sucht vergebens ein inhaltliches Résumé. Eine Einordnung. Da ist nichts. Nur Pastor Dr. Schwarze (St.Petri) fühlte sich offenbar, vielleicht durch die Kritik an St.Petri als Mitveranstalter, aufgefordert, sich zu rechtfertigen (Lübeckische Blätter 2019,8, S.130f.). Immerhin. Man hätte erwarten dürfen, dass wenigstens der spitze Bunker-Turm auf dem Gollan-Gelände im Gedenken an Meeses Besuch auf der Kulturwerft für alle Zeiten blau angestrichen werden würde. AlsMeese-Mumin-Gedächtnisstätte gewissermaßen. Schade.
Wie schreibt Dr. Antje-Britt Mählmann, die Leiterin der Kunsthalle, am 15.Juni 2019 auf facebook doch richtig:
Es fällt auf, dass keine der fünf Lübecker Institutionen (Kunsthalle, St.Petri, Grass-Haus, Gollan-Kulturwerft, Overbeck-Gesellschaft), die an dem Großprojekt beteiligt waren, sich veranlasst sah, die Öffentlichkeit vor, während der Ausstellung oder vielleicht im Nachgang mit einer, oder besser noch mit mehreren – etwa vom Kulturdezernat organisierten – Diskussionsveranstaltungen einzubinden. Da helfen dann auch keine begleitenden Führungen durch die Ausstellungen. Denn sie ersetzen keinen öffentlichen Diskurs.
Bei einem derart kontroversen, öffentlich geförderten Kunstprojekt hätte es nicht nur nahegelegen, der Öffentlichkeit intensiv eine Plattform zu bieten. Angesichts dieser in der Geschichte der Stadt nie dagewesenen und wohl auch einmaligen gesamtstädtischen „Propagandaaktion“ für einen einzigen Künstler wäre aufklärende Einbindung sogar unerlässlich gewesen. Sie hätte der Sache „Stadt-Kultur“ gut getan.
Aber nichts. Nada. Stattdessen: Lübecks gesammeltes Schweigen und Bühne frei für die Kunstfigur Jonathan Frankenstein, den Demokratie-Verächter und das Propagandawerk seiner staatlichen Diktatur des Sachzwanges. Erinnert sei aus diesem Anlass und für zukünftige spektakuläre Bildungs-Ereignisse an die dreifache Verpflichtung staatlicher und kommunaler Bildungseinrichtungen, wie sie bereits im „Beutelsbacher Konsens“ (1976) der Bundeszentrale für politische Bildung niedergelegt ist: 1. Das Indoktrinationsverbot, 2. Das Gebot der Kontroversität und 3. Das Gebot der Schülerorientierung.
Offenbar erinnerte sich jedoch keine der Lübecker AkteurInnen an diesen Bildungsauftrag öffentlicher Einrichtungen. Die kontroversen Stimmen schlugen sich zwar vereinzelt in den Leserbriefen der Lübecker Nachrichten nieder ( u.a.27.2.2019. Matthias Krohn schreibt unter dem Titel „Die Blase Meese“ die einzige mir bekannte ausdrückliche Kritik (Lübeckische Blätter 2019/5,S.82). Ein öffentliches Forum für Kritik gab es indes nicht.
Dabei lag eine solche Auseinandersetzung mit der öffentlichen Künstlerfigur Jonathan der gar Schreckliche, seinen Malerei, Skulptur, Grafik und Fotografie über Film, Oper, Installation und Performance bis hin zuGedichten und Texten – Gesten und Begrifflichkeiten umfassenden Werkstücken auf der Hand. Denn diese national und international vermarktete Künstlerfigur wurde auch in unserer Stadt nicht müde, bei sämtlichen Auftritten seine von ihm selbst als Propagandawerk bezeichneten Werkstücke in Wort, Bild, Film und als Happening volltönend unter die Leute zu bringen.
Eine kleine Auswahl des Lübecker Auftritts Jonathan Frankensteins:
• Diktatur der Kunst, mit dem Diktator Jonathan Frankenstein der Schreckliche
• die notwendige Umwertung aller Werte: Aus Hitler-Gruß wird Meese-Gruß
• Demokratie oder der Weg ins Verderben
• Politik und der Politiker als die willigen Vollstrecker des Danteschen Infernos
• Aus Glaube wird Aberglaube: Gott ist tot
• Die totale Bevormundung: Herrschaft als Ideologie
• Arbeit und Wirtschaft: Die Miserablen der Bevormundung
• Zukunftsfähigkeit: Kunst als grenzenlose Freiheit der Diktatur
• Die Wertlosigkeit demokratischer Wahlen
• Das göttliche Gegenprinzip: Auswahl der Führerpersönlichkeiten durch „die Natur der Sache“
Dieses außerordentliche und eindeutige Branding der kulturpessimistischen und damit hochpolitischen Kunstwelt eines Jonathan Frankenstein, die nach dem klassischen Modell Frankenstein von 1818 in die Spätzeit der Weimarer Republik gebeamt und über deren Wirkungen Fritz Stern in seinem Klassiker „Kulturpessimismus als politische Gefahr, (1961) 2.Auflage, Stuttgart 2018“ alles Notwendige gesagt hat, war dem langjährigen privaten Studienfreund Jonathan Meeses aus gemeinsamen Hamburger Tagen lange bekannt. Dr. Zybok, der Leiter der Lübecker Overbeck-Gesellschaft, hat Meeses Auffassungen 2020 in der Zeitschrift „Kunstforum international“ ausführlich in einem Interview erörtert.
Dr. Zybok sieht Jonathan Meese-Frankenstein beispielhaft für eine bestimmte malerische Haltung zur Politik (Kunstforum international, 2020, Bd. 268, https://www.kunstforum.de/artikel/zwischen-moral-und-ideologie/). Er holte Meese nach Lübeck. Wohlwissend, dass es gerade nicht um bloße Malerei geht, sondern um deren politische und kulturelle Implikationen: um das „Propagandawerk Meese“.
Um die Aufführung einer Kunstfigur, getreu der Erfindung „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ (1818, Mary Shelley), der Kunstfigur Jonathan Frankenstein. Ob Dr.Zybok die mit der Konstruktion dieser Kunstfigur verbundenen Auffassungen seines Freundes teilt oder sich gar als Motor des Propagandawerks in Lübeck von seinem Freund ironisch distanziert? Man hätte das gerne gewusst.
Jedenfalls war bei diesem Branding Jonathan Meeses als Frankenstein der Kunst verständlich, dass sich Meese in der Lübecker Öffentlichkeit nicht als Privatperson würde outen lassen: die Posse Jonathan Frankenstein war und ist dem Kunstmarkt geschuldet. Sie darf nicht plötzlich enden.
Die eifernde Kunstfigur Jonathan Frankenstein jedenfalls verkündet – unterstützt von Mama – seit über 20 Jahren lauthals und unwidersprochen, dass der bestimmungsgemäße Gebrauch sämtlicher rechtsstaatlichen und republikanischen Verfassungsinstitutionen des Grundgesetzes unser Land ins Verderben stürzen werden. Die Demokratie ist der Motor dieser Katastrophe. Nur in der freien Kunst nämlich und mit dem dort herrschenden Diktator wird Erlösung zu finden sein.
Der Künstler-Diktator ist gewissermaßen der Seher, der kindgleich und unschuldig, zugleich aber rücksichtslos und radikal, ohne Bindung an ethische Sperren, den Weg aus dem nationalen Verderben weisen wird. Heil Meese! Das Urteil dieses Diktators (Frauen sind nicht vorgesehen) herrscht über Gegenwart und Vergangenheit der StaatenlenkerInnen, PhilosophInnen, PolitikerInnen und über die IdeologInnen der Wirtschaft. Er und nur „die Sache an sich“, die Frankenstein-Kunst, sollen fortan entscheiden über Gut und Böse, über den Weg in Dantes Inferno oder das Paradies.
Man mag diesen Jonathan Meese als Narr, als Schelm, als Don Quichotte, der gegen Windmühlen kämpft, oder auch nur ganz privat als Künstler betrachten, dessen Potential mit dem Branding der 90er Jahre in seinem 50. Lebensjahr einfach erschöpft ist, und der keinen Not-Absprung aus der Konstruktion findet, also wohl befürchtet, im Dorian-Gray-Syndrom zu enden. Jedenfalls ist der Ausstieg aus der Kunstfigur Jonathan Frankenstein längst überfällig.
Denn in unserem Land verbreitet sich der Wunsch, das „deutsche Volk“ aus der gegenwärtigen Katastrophe herauszuführen mit und ohne Jonathans Kunstspektakel. Über fünf Millionen WahlbürgerInnen haben 2017 die AfD gewählt. Der Präfaschismus regt sich, samt der darin enthaltenen Aufforderung zum Umsturz der gegenläufigen, (noch) herrschenden verfassungsgemäßen Verhältnisse.
Während sich in Deutschland, Europa, den USA, in Russland und China längst der Autoritarismus ausbreitet, braucht es Meeses künstlerische Herabwürdigung der gewählten Eliten und sonstiger Stützen der gesellschaftlichen, staatlichen und religiösen Einrichtungen als Begleitmusik nicht mehr.
Angesichts dieser Entwicklung sollte er dringend über ein neues Branding zur Aufrechterhaltung des Verkaufserfolges am Kunstmarkt nachdenken. Meeses Kunstfigur war längst ein alter Hut, als er in Lübeck noch die Kunstgewaltigen enthusiasmierte. Meeses inzwischen seit Jahren bekannter Aufruf zur diktatorischen Führerschaft darf selbstverständlich nicht konnotieren mit den zunehmenden rassistischen Morden in unserem Land.
Das hat der möglicherweise liebenswürdige, gefühlvolle und intelligente Privatmann Jonathan Meese so doch weder gemeint noch gewollt. Dass beide Narrative indes zusammengehören, das sehen nicht nur kunstferne Juristen so. Den Warnschuss des Amtsgerichts Kassel sollte sich der Künstler deshalb schon zu Herzen nehmen. Genug ist genug. Die „seherischen“ Fähigkeiten des Kunstdiktators Meese waren ja schon vor seiner Geburt obsolet. Ein Besuch im Jüdischen Museum Berlins wäre heute für ihn der kürzeste Weg.
Wenn das aber so ist, dann wurde in Lübeck eine Chance vertan: Den Irrtum der Kunstfigur Jonathan Frankenstein ein für alle Mal an den Nagel zu hängen und mit den damit verbundenen faschistoiden Mythen aufzuräumen. Merke: Der Hitler-Gruß ist ja (nur) dann ein grandioser Missbrauch, wenn ein Faschist ihn bestimmungsgemäß benutzt. Deshalb darf Jonathan Meese als Nicht-Faschist ihn bestimmungsgemäß für sein Propagandawerk gebrauchen. Dem Amtsgericht Kassel (14.8.2013 https://www.lto.de/persistent/a_id/9363/) sei für diese Aufklärung Dank.
Kein Wort zu dem anschwellenden völkischem Denken, zu rassistischem Mord und Totschlag im Deutschland unserer Tage. Kein Wort zum grassierenden und digital vernetzten Antisemitismus und Rassismus. Kein Wort vom Menschen Meese zur – auch in Lübeck – missratenen Vergangenheitsbewältigung. Auch über die schwere Gegenwartsbewältigung, über Politik und Moral in Gesellschaft, Staat, Religion und Kunst hätte man nach alledem schon gern etwas gehört. Wenn schon nicht vom im Kunstmarkt befangenen Künstler selbst, dann vielleicht doch von den KuratorInnen.
Des Künstlers Helden Nietzsche mit dem „Willen zur Macht“ und die Weltmacht-Musik des glühenden Antisemiten Wagner, den Meese (oder nur seine Kunstfigur?) so bewundert, haben nicht nur die Völkischen der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts außerordentlich ermutigt und legitimiert.
Auch der Antisemit Heidegger übrigens, dem Meese zum 32.Todestag 2008 eine Performance in Todtnauberg widmete, sandte bekanntlich schon 1933, also zu Zeiten meines Vaters und Meeses Großvaters, einen Willkommensgruß an die Völkischen. Wenn denn das Propagandawerk Meese aber auf eine inhaltliche Generalabrechnung mit der deutschen Vergangenheit hinauslaufen sollte, wo bleibt dann – außer dieser offensichtlichen Ideologie des Propagandawerks – Meeses Kunst?
Aber Lübeck feierte 2019, noch rechtzeitig vor der Pandemie also, Jonathan Meeses Kunstfigur. Ein Menetekel? Nun schweigt man und schweigt. Zumindest eines sei Jonathan Meese alias Frankenstein und den Lübecker „Kunstsachverständigen“ und Kulturverantwortlichen zum Schluss ins Stammbuch geschrieben:
Egal, ob Narr, Schelm, Don Quichotte, der gegen Windmühlen kämpft, oder auch nur der Künstler, dessen über 20 Jahre altes ursprüngliches Potential mit seinem 50. Lebensjahr einfach erschöpft ist und der deshalb verzweifelt Aufmerksamkeit generiert: die Freiheit dazu belässt ihm ausgerechnet die von ihm so verdammte rechtsstaatliche Demokratie.
Rechtsextremer Terrorismusverdächtiger mit Flüchtlingsverkleidung: Die Geschichte von Franco A. Ein deutscher Offizier steht wegen Terrorismus vor Gericht. In einer brisanten Zeit für die westliche Demokratie spiegelt seine Geschichte die Geschichte von Deutschland selbst wider
NYTimes
Dec. 29, 2020, 12:12 a.m. ET
OFFENBACH, Deutschland – Auf dem Höhepunkt der europäischen Migrantenkrise betrat ein bärtiger Mann in Jogginghosen eine Polizeistation. Seine Taschen waren bis auf ein altes Mobiltelefon und ein paar ausländische Münzen leer.
In gebrochenem Englisch stellte er sich als syrischer Flüchtling vor. Er sagte, er habe den halben Kontinent zu Fuß durchquert und dabei seine Papiere verloren. Die Beamten fotografierten ihn und nahmen seine Fingerabdrücke. Im Laufe des nächsten Jahres würde er eine Unterkunft und eine Asylanhörung bekommen und sich für monatliche Leistungen qualifizieren.
Sein Name, so bot er an, sei David Benjamin.
In Wirklichkeit war er Leutnant bei der Bundeswehr. Er hatte sich Gesicht und Hände mit der Schminke seiner Mutter dunkel gefärbt und seinen Bart mit Schuhputzmittel behandelt. Statt quer durch Europa zu laufen, war er 10 Minuten von seinem Elternhaus in der Weststadt Offenbachs gelaufen.
Die List, so die Staatsanwaltschaft, war Teil eines rechtsextremen Komplotts, um einen oder mehrere Attentate auszuführen, die seinem Flüchtlings-Alter-Ego angelastet werden könnten und genug zivile Unruhen auslösten, um die Bundesrepublik Deutschland zu Fall zu bringen.
Der Offizier, Franco A., wie sein Name in den Gerichtsdokumenten in Übereinstimmung mit den deutschen Datenschutzgesetzen genannt wird, bestreitet dies. Er sagt, er habe Mängel im Asylsystem aufdecken wollen. Doch sein ausgeklügeltes Doppelleben, das 16 Monate andauerte, flog erst auf, als die Polizei ihn dabei erwischte, wie er eine geladene Handfeuerwaffe, die er in einer Flughafentoilette in Wien versteckt hatte, abholen wollte.
„Das war wirklich ein schockierender Moment“, sagte Aydan Özoguz, eine Bundestagsabgeordnete, die zu dieser Zeit Beauftragte für Flüchtlinge und Integration war. „Das Asylsystem sollte Betrüger identifizieren, kein Zweifel. Aber die größere Geschichte ist: Wie kann so jemand in Deutschland ein Soldat sein?“
Die Verhaftung von Franco A. im April 2017 hat Deutschland erschüttert. Seitdem ist sein Fall weitgehend vom Radar verschwunden, aber das wird sich wahrscheinlich ändern, wenn er Anfang nächsten Jahres vor Gericht steht.
Dann wird Deutschland mit ihm vor Gericht stehen – nicht nur wegen des Verwaltungsversagens, das es einem deutschen Offizier, der kein Arabisch spricht, erlaubte, sich so lange als Flüchtling auszugeben, sondern auch wegen seiner langjährigen Selbstgefälligkeit im Kampf gegen Rechtsextremismus.
Der Fall Franco A. löste eine weitreichende Untersuchung aus, die die deutschen Behörden in ein Labyrinth unterirdischer extremistischer Netzwerke auf allen Ebenen der nationalen Sicherheitsdienste führte – eine Bedrohung, die, wie sie erst in diesem Jahr zugaben, weitaus umfangreicher war, als sie sich jemals vorgestellt hatten.
Eine Gruppe, die von einem ehemaligen Soldaten und Polizeischarfschützen in Norddeutschland geleitet wurde, hortete Waffen, führte Feindeslisten und bestellte Leichensäcke. Eine andere, die von einem Soldaten der Spezialeinheiten mit dem Codenamen Hannibal geführt wurde, rückte das KSK, Deutschlands Eliteeinheit, ins Rampenlicht. In diesem Sommer wurde eine ganze KSK-Einheit aufgelöst, nachdem auf dem Grundstück eines Hauptfeldwebels Sprengstoff und SS-Memorabilien gefunden worden waren.
Ich habe im vergangenen Jahr viele Mitglieder dieser Netzwerke interviewt, auch Franco A.. Aber die Geschichte seines Doppellebens und seiner Entwicklung – von dem, was Vorgesetzte als einen vielversprechenden Offizier ansahen, zu dem, was Staatsanwälte als einen Möchtegern-Terroristen beschreiben – ist in vielerlei Hinsicht die Geschichte der zwei Deutschlands von heute.
Das eine entstand aus der Niederlage im Zweiten Weltkrieg und wurde von einem liberalen Konsens aufgezogen, der jahrzehntelang den Nationalismus ablehnte und seine Bürger zur Reue erzogen hat. Dieses Deutschland weicht einer unruhigeren Nation, da seine Kriegsgeschichte zurücktritt und eine lange schlummernde extreme Rechte sich gegen eine sich diversifizierende Gesellschaft auflehnt. Deutschlands Nachkriegskonsens steht auf der Kippe.
Als ich Franco A. vor mehr als einem Jahr in einem Berliner Restaurant zum ersten Mal traf, hatte er Dokumente dabei, einige davon waren Notizen, andere Auszüge aus der Polizeiakte gegen ihn. Er wirkte damals zuversichtlich. Ein Frankfurter Gericht hatte seinen Terrorismusfall aus Mangel an Beweisen verworfen.
Doch einige Monate später stellte das Gericht das Verfahren wieder her, nachdem die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt hatte. Franco A. rief mich auf meinem Mobiltelefon an. Er war erschüttert. Bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu zehn Jahre Gefängnis.
Noch während seines Prozesses stimmte er einer Reihe von exklusiven aufgezeichneten Interviews zu und lud mich und zwei Audioproduzenten der New York Times in das Haus seiner Kindheit ein, wo er immer noch lebt, um über sein Leben, seine Ansichten und Aspekte seines Falles zu sprechen. Ich ging im Laufe des nächsten Jahres mehrmals dorthin, zuletzt in der Woche vor Weihnachten.
Manchmal zeigte er uns Videos von sich in Flüchtlingsverkleidung. Einmal führte er uns eine knarrende Treppe hinunter, durch eine tresorähnliche Metalltür, in seinen „Prepper“-Keller, wo er Munition und eine Ausgabe von Hitlers Mein Kampf versteckt hatte, bevor sie von der Polizei beschlagnahmt wurden.
Franco A. streitet jede terroristische Verschwörung ab. Er sagt, er habe sich als Flüchtling ausgegeben, um die Entscheidung von Bundeskanzlerin Angela Merkel, mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland einreisen zu lassen, auffliegen zu lassen, was er als Bedrohung für die nationale Sicherheit und Identität ansah. Das System sei so überfordert, dass jeder einreisen könne, sagte er.
Wenn überhaupt, dann beharrte er darauf, dass er die Verfassung aufrechterhalte und sie nicht untergrabe. Er habe nie vorgehabt, etwas Gewalttätiges zu tun – und er habe es auch nicht getan, sagte er. „Wenn ich es gewollt hätte, warum hätte ich es dann nicht getan“, sagte er mir später.
Die Staatsanwälte wollten sich nicht offiziell äußern, aber ihre Anschuldigungen sind in der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs umrissen. Sie verweisen auf die geladene Waffe, die Franco A. am Wiener Flughafen versteckt hatte, auf ein Sturmgewehr, das er illegal aufbewahrt haben soll, und auf einen Ausflug in die Parkgarage eines mutmaßlichen Ziels.
Dann sind da noch die zahlreichen Sprachnotizen und Tagebücher, die Franco A. über viele Jahre hinweg geführt hat und die sie als Fahrplan für seine Strafverfolgung benutzt haben. Ich habe diese Abschriften in Polizeiberichten und Beweisakten gelesen.
Darin lobt er Hitler, stellt Deutschlands Sühne für den Holocaust in Frage, schwelgt in globalen jüdischen Verschwörungen, argumentiert, dass die Einwanderung Deutschlands ethnische Reinheit zerstört hat, huldigt dem russischen Präsidenten Wladimir W. Putin als Vorbild und befürwortet die Zerstörung des Staates.
Franco A., heute 31, sagt, dies seien private Gedanken, die nicht strafrechtlich verfolgt werden können. Die extremsten Ansichten in seiner Aufnahme werden zweifellos von Neonazis geteilt und sind in rechtsextremen Kreisen beliebt. Aber seine grundlegenden Beschwerden über Einwanderung und nationale Identität sind im heutigen Deutschland, wie auch in weiten Teilen Europas und den Vereinigten Staaten, zunehmend verbreitet.
In seiner Generation, die nach dem 11. September 2001, während der daraus resultierenden Kriege und in einer Ära der globalen Wirtschaftskrise erwachsen wurde, gelangten das Misstrauen gegenüber der Regierung, rechtsextreme Botschaften und die Verbreitung von Verschwörungstheorien nicht nur in die Taschen der Sicherheitsdienste. Sie haben auch den Mainstream erreicht.
„Rechtsextreme Botschaften haben sich zunehmend in die Mitte der Gesellschaft verlagert“, sagte mir Thomas Haldenwang, der Präsident des Inlandsgeheimdienstes, des Verfassungsschutzes, in einem Interview.
Sie sind sogar in den Sälen des Bundestages zu hören, wo die rechtsextreme Alternative für Deutschland, kurz AfD, die Opposition anführt.
Haldenwangs Behörde hält die AfD für so gefährlich, dass sie möglicherweise schon im Januar die gesamte Partei unter Beobachtung stellt – auch wenn die AfD, wie Franco A., behauptet, der wahre Verteidiger der Verfassung zu sein. Das ist das Tauziehen um die Demokratie in Deutschland.
Im Laufe der Zeit, in der ich Franco A. interviewt habe, haben hochrangige Verteidigungsbeamte meine Fragen zu extremistischen Netzwerken nicht mehr mit Humor genommen, sondern öffentlich die Alarmglocken geläutet. Es war im März 2019, als ich zum ersten Mal einen Beamten des Verteidigungsministeriums fragte, wie viele Rechtsextremisten im Militär identifiziert worden seien.
Bis zu diesem Jahr hatten die deutschen Behörden die Augen vor dem Problem verschlossen. Franco A.s Vorgesetzte beförderten ihn, auch nachdem er seine Ansichten in einer Magisterarbeit ausführlich dargelegt hatte. Er wurde Mitglied in extremistischen Netzwerken mit Dutzenden von Soldaten und Polizisten. Und er sprach mindestens einmal öffentlich auf einer rechtsextremen Veranstaltung, die auf dem Radar der Sicherheitsdienste war.
Aber nichts von alledem brachte ihn so aus der Fassung wie ein Hausmeister am Wiener Flughafen.
Eine obskure Verschwörung
Es war der Hausmeister, der die Waffe fand. Schwarz, kompakt und mit sechs Kugeln geladen, war sie in einem Wartungsschacht in einer Behindertentoilette des Wiener Flughafens versteckt.
Die österreichischen Offiziere hatten eine solche Waffe noch nie gesehen: eine Unique 17 im Kaliber 7,65, hergestellt von einem heute nicht mehr existierenden französischen Waffenhersteller in der Zeit von 1928 bis 1944. Wie sich herausstellte, war sie eine bevorzugte Pistole für deutsche Offiziere während der Nazi-Besetzung Frankreichs.
Um herauszufinden, wer sie versteckt hatte, stellte die Polizei eine elektronische Falle auf. Zwei Wochen später, am 3. Februar 2017, hatten sie ihren Mann.
Nur wenige Minuten nachdem Franco A. versucht hatte, mit dem flachen Ende einer Tube Haargel die Tür zum Wandschacht aufzuhebeln, schwärmte ein Dutzend Polizeibeamte mit vorgehaltener Waffe vor der Toilettentür aus.
Zwei Beamte in Zivilkleidung kamen herein und fragten ihn, was er da mache.“Ich sagte: ‚Ja, ich habe hier eine Waffe versteckt'“, erinnert sich Franco A.Er sagte, er sei gekommen, um sie zu holen und zur Polizei zu bringen.
„Und ich glaube, jemand fing an zu lachen“, sagte er.
Die Geschichte, die er der österreichischen Polizei in dieser Nacht erzählte, als er befragt wurde, war so unplausibel, dass er zögerte, sie zu erzählen, als wir uns trafen. Aber am Ende tat er es doch.
In seiner Generation, die nach dem 11. September 2001 erwachsen wurde, während der Kriege, die daraus entstanden, und in einer Ära der globalen Wirtschaftskrise, drangen das Misstrauen gegenüber der Regierung, rechtsextreme Botschaften und die Umarmung von Verschwörungstheorien nicht nur in die Taschen der Sicherheitsdienste. Sie haben auch den Mainstream erreicht.
„Rechtsextreme Botschaften haben sich zunehmend in die Mitte der Gesellschaft verlagert“, sagte mir Thomas Haldenwang, der Präsident des Verfassungsschutzes, in einem Interview
Franco A. wurde 2017 am Flughafen in Wien verhaftet, als er versuchte, in einer Toilette eine Waffe zu holen.
Es war Ballsaison in Wien. Er war zwei Wochen zuvor zum alljährlichen Offiziersball dort gewesen, so seine Geschichte. Beim Barhopping mit seiner Freundin und anderen Soldaten hatte er die Waffe gefunden, als er sich in einem Gebüsch erleichterte. Er steckte sie in seine Manteltasche – nur um sich in der Sicherheitsschlange am Flughafen daran zu erinnern. Er versteckte sie, um seinen Flug nicht zu verpassen, und beschloss dann, zurückzukehren, um sie bei der Polizei abzugeben.
„Ich komme mir so lächerlich vor, wenn ich das erzähle“, sagte er uns. „Ich weiß, dass niemand es glaubt.Franco A. wurde noch in der Nacht freigelassen. Aber die Beamten behielten sein Telefon und einen USB-Stick, den sie in seinem Rucksack gefunden hatten. Sie nahmen seine Fingerabdrücke und schickten sie zur Überprüfung an die deutsche Polizei.
Die Übereinstimmung, die Wochen später zurückkam, erschreckte die Beamten, die dachten, sie würden eine Routineüberprüfung von Francos Identität durchführen. Er hatte zwei.
Auf seinem Ausweis stand, dass er ein deutscher Offizier war, der bei der deutsch-französischen Brigade in Illkirch bei Straßburg stationiert war. Aber seine Fingerabdrücke gehörten zu einem in der Nähe von München registrierten Migranten.
Die Ermittler waren alarmiert. Hatte Franco A. die Waffe versteckt, um später einen Anschlag zu verüben?
Er wurde in der Nacht des jährlichen Burschenschaftsballs gefasst, der von der rechtsextremen Freiheitlichen Partei Österreichs veranstaltet wurde, die dazu neigte, militante Gegendemonstranten anzuziehen. Eine Theorie war, dass Franco A. geplant hatte, in dieser Nacht jemanden zu erschießen, während er vorgab, ein Linker zu sein.
Ein Protest 2018 gegen die Präsenz der rechten Freiheitlichen Partei beim Akademikerball in Wien.
Als die deutschen Behörden die Ermittlungen übernahmen, fanden sie auf seinem UBS-Stick zwei Dokumente: das „Mujahedeen Explosives Handbook“ und „Total Resistance“, ein Leitfaden für den urbanen Guerillakrieg aus der Zeit des Kalten Krieges.
Sein Handy führte sie zu einem ausgedehnten Netzwerk rechtsextremer Telegram-Chatgruppen, in denen sich Dutzende von Soldaten, Polizisten und anderen auf den Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung vorbereiteten, den sie Tag X nannten.
Es enthielt auch stundenlange Audio-Memos, in denen Franco A. seine Gedanken über mehrere Jahre aufgezeichnet hatte.
Am 26. April 2017, mitten in einer militärischen Übung in einem bayerischen Wald, wurde Franco A. erneut verhaftet. Zehn Bundespolizisten eskortierten ihn weg. Neunzig weitere führten zeitgleich Razzien in Deutschland, Österreich und Frankreich durch.
Bei einer Reihe von Razzien fanden die Polizisten über 1.000 Schuss Munition. Außerdem entdeckten sie eine Menge handschriftlicher Notizen und ein Tagebuch. Als sie zu lesen begannen, entdeckten sie einen Mann, der schon als Jugendlicher radikale Gedanken hegte.
In unseren Interviews mit Franco A. ging er noch weiter in die Vergangenheit zurück, erzählte von seiner Kindheit und einer Familiengeschichte, die sich fast perfekt mit der deutschen deckt.
Echos der Geschichte
Franco A. war 12 oder 13, als er seine erste deutsche Fahne kaufte, sagt er. Es war eine kleine Tischfahne, die er während eines Familienurlaubs in Bayern in einem Souvenirladen kaufte.
In jedem anderen Land wäre der Kauf harmlos gewesen. Im Nachkriegsdeutschland, wo Nationalstolz wegen der Nazi-Vergangenheit lange ein Tabu war, war es ein kleiner Akt der Rebellion.
„Deutschland war immer wichtig für mich“, sagte Franco A., als er uns Fotos von seinem Kinderzimmer zeigte, die Flagge im Vordergrund.
Er hat nicht viele deutsche Flaggen gesehen, als er in seinem Arbeiterviertel aufwuchs, das die Heimat von aufeinanderfolgenden Wellen von Gastarbeitern aus Südeuropa und der Türkei war, die halfen, das Nachkriegsdeutschland wieder aufzubauen, und die auch die Gesellschaft veränderten.
Offenbach, Heimat von Generationen von Gastarbeitern, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufbauten, ist eine der vielfältigsten Städte des Landes.
Offenbach, die Heimat von Generationen von Gastarbeitern, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufbauten, ist eine der vielfältigsten Städte des Landes.
Franco A.s Mutter, eine sanftmütige Frau, die eine Etage über ihm wohnt, erinnert sich daran, dass sie als Schülerin in den 1960er Jahren nur eine Handvoll Kinder mit Migrationshintergrund in ihrer Klasse hatte.
Zu der Zeit, als Franco A. zur Schule ging, sagte sie, waren Kinder mit zwei deutschen Elternteilen in der Minderheit.
Franco A.s eigener Vater war ein italienischer Gastarbeiter, der die Familie verließ, als er noch ein Kleinkind war. Er bezeichnet ihn nur als seinen „Erzeuger“.“Ich würde nicht sagen, dass es mein Vater ist“, sagt er.
In einem seiner Audio-Memos, vom Januar 2016, würde Franco A. später das Gastarbeiterprogramm als eine bewusste Strategie zur Verwässerung der deutschen Ethnie beschreiben. Er selbst, sagte er, sei „ein Produkt dieses perversen Rassenhasses“.
Er erzählte mir, dass sein Großvater 1919 geboren wurde, im Jahr der Unterzeichnung des Versailler Vertrags, der Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg besiegelte.
Der Vertrag ließ die „Dolchstoßlegende“ entstehen – dass Deutschland den Krieg gewonnen habe, aber von einer Verschwörung von Linken und Juden in der Regierungselite verraten worden sei.
Seine Lehrer ermutigten ihn, Autoritäten zu hinterfragen und selbst zu denken. Sie wurden während der Studentenbewegung von 1968 erwachsen und versuchten, die liberalen Werte zu vermitteln, die daraus entstanden – ein Misstrauen gegenüber Nationalismus und Sühne für den Krieg.
Keiner seiner Lehrer, mit denen ich sprach, entdeckte frühe Anzeichen von Extremismus, sondern erinnerte sich vielmehr daran, dass er seine kontroverse und wissbegierige Art liebte.
Was sie nicht wussten, war, dass er zu dieser Zeit in eine grenzenlose Welt von Online-Verschwörungstheorien eingetreten war, die ihn für die kommenden Jahre beeinflussen sollte. Diese Ansichten begannen Gestalt anzunehmen – in der Privatsphäre seines Teenager-Tagebuchs.
Franco A. beschrieb die Einträge als Experimentieren mit Ideen, nicht als Beweis für eine festgefahrene Ideologie oder irgendeine Absicht. Sie enthielten Überlegungen, wie er den Lauf der deutschen Geschichte verändern könnte.
„Die Propaganda half, antidemokratische Zellen im Militär anzuheizen, die Waffen horteten, Putsche planten und schließlich den Aufstieg des Nationalsozialismus unterstützten – ähnlich wie es die Staatsanwälte heute Franco A. vorwerfen.
Er sagte, seine Großeltern hätten sich oft um ihn gekümmert, ihm nach der Schule Suppe serviert und ihm Geschichten über den Krieg erzählt. Sein Großvater erzählte ihm von seinen Abenteuern in der Hitlerjugend. Das Exemplar von „Mein Kampf“, das die Polizei beschlagnahmte, gehörte einst ihm.
Seine Großmutter sei 20 gewesen, als sie mit ihrer Schwester vor dem Vormarsch der Roten Armee im heutigen Polen floh. Sie erzählte dem Jungen die Geschichte, wie ihr hölzerner Wagen zusammenbrach und sie gezwungen waren, auf einem Feld außerhalb Dresdens zu rasten.
In dieser Nacht, so sagte sie, sahen die Schwestern zu, wie die Stadt in einem verheerenden Bombenhagel verbrannte, der bis zu 25.000 Zivilisten tötete und seitdem zu einem symbolischen Ärgernis der extremen Rechten geworden ist.
Jahre später zeichnete Franco A. ein fiktives Gespräch auf, in dem er den „Bombenterror in Dresden“ anspricht und fragt, ob Juden das Recht hätten, von Deutschen ewige Schuldgefühle zu erwarten. Eine wäre, Soldat zu werden und eine einflussreiche Position im Militär zu erlangen, so dass ich Chef der deutschen Streitkräfte werden kann“, schrieb er im Januar 2007. „Dann würde ein Militärputsch folgen.“
Seine Lehrer ermutigten ihn, Autoritäten zu hinterfragen und selbst zu denken. Sie wurden während der Studentenbewegung von 1968 erwachsen und versuchten, die liberalen Werte zu vermitteln, die daraus entstanden – ein Misstrauen gegenüber Nationalismus und Sühne für den Krieg.
Keiner seiner Lehrer, mit denen ich sprach, entdeckte frühe Anzeichen von Extremismus, sondern erinnerte sich vielmehr daran, dass er seine kontroverse und wissbegierige Art liebte.
Was sie nicht wussten, war, dass er zu dieser Zeit in eine grenzenlose Welt von Online-Verschwörungstheorien eingetreten war, die ihn für die kommenden Jahre beeinflussen sollte. Diese Ansichten begannen Gestalt anzunehmen – in der Privatsphäre seines Teenager-Tagebuchs.
Franco A. beschrieb die Einträge als Experimentieren mit Ideen, nicht als Beweis für eine festgefahrene Ideologie oder irgendeine Absicht. Sie enthielten Überlegungen, wie er den Lauf der deutschen Geschichte verändern könnte.
„Eine wäre, Soldat zu werden und eine einflussreiche Position im Militär zu erlangen, so dass ich Chef der deutschen Streitkräfte werden kann“, schrieb er im Januar 2007. „Dann würde ein Militärputsch folgen.“
Unbeachtete Warnungen
2008, gerade als Lehman Brothers implodierte und die Welt in die größte Finanzkrise seit der Großen Depression stürzte, trat Franco A. in die Armee ein. Er war 19.
In kürzester Zeit wurde er als einer von nur einer Handvoll deutscher Offiziersanwärter ausgewählt, um die prestigeträchtige Militärakademie Saint-Cyr in Frankreich zu besuchen, die 1802 von Napoleon gegründet wurde.
Seine fünf Jahre im Ausland umfassten Semester an der Sciences Po in Paris und am King’s College London sowie in Sandhurst, einer der besten Offiziersschulen der britischen Armee, und einen Sommeraufenthalt an der University of Cambridge.
2013 schrieb er seine Masterarbeit mit dem Titel „Political Change and Strategy of Subversion“.
Auf 169 Seiten argumentierte Franco A., dass der Untergang großer Zivilisationen schon immer die Einwanderung und die Verwässerung der rassischen Reinheit durch subversive Minderheiten gewesen sei. Europa und der Westen seien als nächstes dran, wenn sie sich nicht wehrten, sagte er.
Ethnisch vielfältige Gesellschaften seien instabil, schrieb er, und Nationen, die Migration zuließen, würden eine Form von „Genozid“ begehen.
Sein letzter Abschnitt postuliert, dass das Alte Testament die Grundlage aller Subversion sei, eine Blaupause für Juden, um die globale Dominanz zu erlangen. Es sei, so sagt er, „die größte Verschwörung in der Geschichte der Menschheit“.
Der französische Kommandeur der Militärakademie war fassungslos. Er meldete es sofort Franco A.s deutschen Vorgesetzten.
Wenn das ein französischer Teilnehmer des Lehrgangs wäre, würden wir ihn entfernen“, sagte der Kommandeur damals laut deutschen Medienberichten.
Das deutsche Militär beauftragte einen Historiker, Jörg Echternkamp, mit der Beurteilung der These. Nach nur drei Tagen kam er zu dem Schluss, dass es sich um einen „radikal nationalistischen, rassistischen Aufruf“ handelte.
Er sei aber auch verbunden mit einer „globalisierungsbedingten Verunsicherung“, die ihn gesellschaftsfähig mache – und damit „gefährlich“.
Doch Franco A. wurde nicht aus dem Dienst entfernt. Er wurde auch nicht an den Militärischen Abschirmdienst gemeldet, dessen Aufgabe es ist, Extremismus in den Streitkräften zu überwachen.
Stattdessen wurde er am 22. Januar 2014 in eine Außenstelle der Bundeswehr in Fontainebleau bei Paris vorgeladen.
Ein Offizier der militärinternen Disziplinarabteilung teilte ihm mit, dass seine These mit den deutschen Werten „nicht vereinbar“ sei, heißt es im Protokoll.
Franco A. verteidigte sich damit, dass er als Nummer 2 seines Jahrgangs den Druck verspürt habe, etwas „Herausragendes“ zu schaffen, und sich dazu hinreißen lassen habe.
„Ich habe mich in dieser neu geschaffenen Gedankenwelt völlig isoliert und nicht mehr von außen betrachtet“, sagte Franco A. dem Vernehmer.
Nach dreistündiger Befragung kam der leitende Beamte zu dem Schluss, dass Franco A. „ein Opfer seiner eigenen intellektuellen Fähigkeiten geworden ist.“Er wurde gerügt und aufgefordert, eine neue Arbeit einzureichen.
Als Franco A. später im Jahr 2014 nach Deutschland zurückkehrte, war es, als sei nichts geschehen. Sein Vorgesetzter in Dresden beschrieb ihn als vorbildlichen deutschen Soldaten – „ein Bürger in Uniform.“
Im November 2015 erhielt er ein weiteres glänzendes Zeugnis, in dem vermerkt war, dass ihm die Verantwortung für die Munition übertragen worden war, die er mit „viel Freude und Energie“ erfüllte.
Vorbereiten auf den Einsatz?
In Franco A.s Bücherregal steht das Buch „Das magische Auge“, ein Band mit bunten Bildern, die, wenn man sie lange genug anschaut, in ganz andere Bilder übergehen.
Franco A. ist so. Während unserer Interviews stellte er sich selbst als einen friedliebenden kritischen Denker dar, der Opfer eines politischen Klimas geworden war, in dem abweichende Meinungen bestraft wurden. Aber Aufzeichnungen und Interviews mit Ermittlern und anderen Personen, die mit seinem Fall vertraut sind, zeigen eine ganz andere Person.
Nachdem er aus Frankreich zurückgekehrt war, zog es Franco A. zu Soldaten, die seine Ansichten teilten. Wie sich herausstellte, waren diese nicht schwer zu finden.
Ein Offizierskollege und Freund machte ihn mit einem landesweiten Online-Chat-Netzwerk von Dutzenden Soldaten und Polizisten bekannt, die sich mit dem Thema Einwanderung beschäftigen.
Der Offizier, der das Netzwerk ins Leben gerufen hatte, diente bei den deutschen Elite-Spezialkräften, dem KSK in Calw, und nannte sich Hannibal.
Hannibal leitete auch eine Organisation namens Uniter, die paramilitärisches Training anbot. Sie wurde inzwischen vom Verfassungsschutz überwacht.
Franco A. nahm an mindestens zwei Uniter-Treffen teil. Abzeichen der Gruppe wurden unter seinen Habseligkeiten gefunden. Er sei auf dem KSK-Stützpunkt „als intelligent bekannt“ gewesen, heißt es in Polizeiverhören. „Mehrere Soldaten kannten ihn“, sagte ein Soldat in einer Zeugenaussage.
Viele der Chat-Mitglieder waren „Prepper“, die den Zusammenbruch der Gesellschaftsordnung in Deutschland vorwegnahmen.
Franco A. selbst begann, einen „Prepper“-Keller mit Lebensmittelrationen und anderen Vorräten anzulegen. Er begann auch, sich illegal Waffen und Munition zu beschaffen, so die Staatsanwaltschaft.
Russland war gerade in die Ukraine einmarschiert. Eine fiebrige Periode des islamistischen Terrorismus hatte gerade in Europa begonnen.
Im August nahm Frau Merkel Hunderttausende von meist muslimischen Asylbewerbern aus den Kriegen in Syrien, Irak und Afghanistan auf. Die Gefahr eines Krieges oder ziviler Unruhen innerhalb Deutschlands fühlte sich real an, erinnerte sich Franco A..
Zu diesem Zeitpunkt, so die Staatsanwaltschaft, habe er begonnen, über Gewalt nachzudenken. Der Kampf des Staates gegen den Terrorismus sei ein „Kampf gegen uns“, sagte er laut Anklageschrift gegen ihn.
Aber das „Geschenk der Wahrheit“ müsse „gut verpackt“ sein. Um die Menschen zu ihr zu führen, sei ein „Trigger-Ereignis“ nötig.
Das war, als er seine Suche nach einer Reihe von möglichen Auslösern oder Zielen begann, sagen die Staatsanwälte.
Er streitet dies ab. Aber am Ende der Weihnachtsferien 2015 – zehn Tage bevor er seinen ersten Einsatz in der deutsch-französischen Brigade bei Straßburg antreten sollte – zog er seine Flüchtlings-Verkleidung an.
Der falsche Flüchtling
Als er auf der Polizeiwache auf seine erste Befragung als David Benjamin, sein Flüchtlings-Alter-Ego, wartete, studierte Franco A. eine Weltkarte an der gegenüberliegenden Wand. Er versuchte zu entscheiden, ob Damaskus oder Aleppo einen glaubwürdigeren Geburtsort darstellen würde.
Mit der Zeit erfand er eine ausufernde Familiengeschichte. Da er nach seiner militärischen Ausbildung in Frankreich fließend Französisch sprach, erzählte er seinen Gesprächspartnern, dass er ein syrischer Christ französischer Abstammung sei.
Er sagte, er habe ein französisches Gymnasium besucht und dann als Obstbauer in Tel al-Hassel, einem kleinen Dorf außerhalb Aleppos, gearbeitet.
„Ich habe versucht, so gut wie möglich vorbereitet zu sein“, erinnert sich Franco A.. „Aber am Ende war das gar nicht nötig.“
Seine Geschichte sei von den damals überforderten deutschen Behörden nie in Frage gestellt worden, sagt er. Zwei Tage nachdem er auf der Polizeiwache aufgetaucht war, ließ er sich als Asylbewerber registrieren und wurde dann mit Bussen in eine Reihe von temporären Gruppenunterkünften gebracht.
Schließlich wurde er einer kleinen Unterkunft in Baustarring zugewiesen, einem bayerischen Weiler 250 Meilen westlich von seinem Armeestützpunkt.
Franco A. hat mit seiner Handykamera mehrere Videos von seinen Unterkünften gefilmt. Wie bedürftig die Asylsuchenden waren, konnte ihn nicht überzeugen. Vor allem viele der Syrer seien aus einem ehemals bürgerlichen Leben in von Kämpfen zerstörten Städten geflohen. Sie sahen „eher wie Touristen“ als wie Flüchtlinge aus, sagte er.
„Ich entschied mich, ein schlechtes Telefon zu nehmen, weil ich nicht mit einem guten Telefon auffallen wollte“, sagte er. „Am Ende hatte ich das schlechteste.“
Das System war übermäßig großzügig und auffallend nachsichtig, sagte er. Selbst als er Jobangebote ablehnte, erhielt er weiterhin sein monatliches Stipendium. Er tauchte vielleicht einmal im Monat in der Unterkunft auf und verpasste zwei Termine hintereinander.
Nach Ansicht von Franco A. hatte Frau Merkels Regierung ihre eigene humanitäre Krise mit verursacht, indem sie sich an Kriegen im Nahen Osten beteiligte. Es war, als würde sich ein Fallbeispiel aus seiner in Ungnade gefallenen Magisterarbeit vor seinen Augen materialisieren.
„Millionen von Menschen kamen aus einer destabilisierten Region, die man in meinen Augen hätte stabil halten können“, sagte er.
Die marokkanische Dolmetscherin in seiner Asylanhörung sagte später aus, dass sie Zweifel hatte, dass er Arabisch spricht. Aber wegen seines jüdisch klingenden Namens traute sie sich nicht, etwas zu sagen. Als Muslimin machte sie sich Sorgen, antisemitisch zu klingen.
Franco A. erhielt schließlich „subsidiären Schutz“, einen Status, der es Asylbewerbern ohne Ausweispapiere erlaubt, in Deutschland zu bleiben und zu arbeiten.
Parallel zu seinem Flüchtlingsleben wuchs sein Ansehen in rechtsextremen Kreisen. Franco A. sagte, er habe an Debattenveranstaltungen in Bars teilgenommen. Nach einer solchen Veranstaltung wurde er als Redner eingeladen.
Am 15. Dezember 2016 habe er beim „Preußischen Abend“ gesprochen, einer Veranstaltung im Hotel Regent in München, die von einem Verlag organisiert wurde, der von einem Holocaust-Leugner betrieben wird. Sein Thema an diesem Abend: „Deutsche Konservative – Diaspora im eigenen Land“.
Im Laufe des Jahres klangen seine Sprachnotizen immer eindringlicher. Diejenigen, die es wagten, ihre Meinung zu äußern, seien schon immer ermordet worden, sagte er in einem vom Januar 2016, drei Wochen nach seiner Registrierung als Flüchtling. „Lasst uns nicht zögern, nicht zu morden, sondern zu töten“, sagte er.
„Ich weiß, dass ihr mich ermorden werdet“, fügte er hinzu. „Ich werde dich zuerst ermorden.“
Ein mögliches Ziel
Franco A. lebte sein Doppelleben bereits seit fast sieben Monaten, als er im Sommer 2016 nach Berlin reiste, so die Staatsanwaltschaft.
In einer Seitenstraße in der Nähe des jüdischen Viertels habe er in einer privaten Tiefgarage vier Fotos von Autokennzeichen gemacht, heißt es. Die Ermittler holten die Bilder später von seinem Handy ab.
Das Gebäude beherbergte die Büros der Amadeu Antonio Stiftung, einer Organisation, die von Anetta Kahane, einer prominenten jüdischen Aktivistin, gegründet und geleitet wird. Die Tochter von Holocaust-Überlebenden ist seit Jahrzehnten das Ziel rechtsextremer Hetze.
Nach den beschlagnahmten Notizen zu urteilen, glauben die Staatsanwälte, dass Frau Kahane, jetzt 66, eine von mehreren prominenten Zielpersonen war, die Franco A. wegen ihrer flüchtlingsfreundlichen Positionen identifiziert
Andere waren Außenminister Heiko Maas, der zu dieser Zeit Justizminister war, und Claudia Roth, eine grüne Bundestagsabgeordnete, die damals Vizepräsidentin des Parlaments war.
Frau Kahanes Name taucht mindestens zweimal in den Notizen auf, einmal am Ende einer Aufzählung von scheinbar banalen Dingen wie „Kühlschrank“ und eine Erinnerung, die Bank anzurufen, bei der sein Flüchtlings-Alter-Ego ein Konto hatte. Franco A. zeigte sie mir. Er sagte, es sei eine gewöhnliche To-Do-Liste.
Auf einer Seite notierte er die Herkunft, das Alter und die Arbeitsadresse von Frau Kahane. Er zeichnete auch eine detaillierte Karte der Lage ihrer Parkgarage. Auf demselben Blatt Papier schrieb er: „Wir sind an einem Punkt, an dem wir noch nicht so handeln können, wie wir es wollen.“
Vor der Reise nach Berlin und in den Tagen danach, so die Staatsanwaltschaft, kaufte Franco eine Montageschiene für ein Zielfernrohr und Teile für eine Handfeuerwaffe und wurde auf einem Schießstand gesehen, wo er das Zubehör mit einem Sturmgewehr ausprobierte.
Er reiste auch nach Paris, wo er den Leiter einer russischen Pro-Putin-Denkfabrik mit Verbindungen zu Frankreichs extremer Rechten traf und vermutlich die französische Handfeuerwaffe kaufte, die später in Wien gefunden wurde.
Insgesamt sagen die Staatsanwälte, dass es einen „wahrscheinlichen Grund“ gibt, dass Franco A. einen Mord vorbereitet hat.
Franco A. bestreitet praktisch jeden Teil der Vorwürfe. Nichts von dem, was die Staatsanwälte sagen, läuft auf eine Absicht hinaus, Frau Kahane zu schaden, sagte er.
„Es gibt Bilder auf meinem Telefon, aber das beweist nicht, dass ich dort war“, sagte er während eines angespannten sechsstündigen Interviews eines Nachts.
„Ich kann darüber überhaupt nicht reden“, sagte er und zitierte seinen bevorstehenden Prozess. Aber dann tat er es doch, in „hypothetischen Begriffen“.
Wenn er gegangen wäre, dann nur, um ein Gespräch zu führen, sagte Franco A.. Er hätte geklingelt, aber festgestellt, dass Frau Kahane nicht da war. Dann wäre er vielleicht ins Parkhaus gegangen und hätte gedacht: „OK, vielleicht kann man etwas über das Auto herausfinden.“
„Und dann könnte man vielleicht, durch welchen glücklichen Umstand auch immer, diese Person finden“, sagte er.
Die Staatsanwaltschaft sagt, es gebe einen „hinreichenden Verdacht“, dass Franco A. einen Mord vorbereitet habe. Er bestreitet praktisch jeden Teil ihrer Anschuldigungen.
Die Staatsanwaltschaft sagt, es gebe einen „hinreichenden Verdacht“, dass Franco A. einen Mord vorbereiten wollte. Er bestreitet praktisch jeden Teil ihrer Anschuldigungen.Credit…Laetitia Vancon für die New York Times
Selbst wenn er geplant hätte, Frau Kahane zu töten – was, wie er behauptete, „definitiv“ nicht wahr sei – und selbst wenn er die Garage besucht hätte, „wäre es schlimmstenfalls die Vorbereitung eines Attentats“ und kein Terrorismus, argumentierte er.
Wie kann das den Staat gefährden? fragte er. „Diese Person ist nicht einmal ein Politiker.“
Ich besuchte Frau Kahane, um sie zu fragen, was sie dachte. An dem Tag, an dem wir uns trafen, war gerade eine weitere Neonazi-Drohung in ihrem E-Mail-Postfach gelandet. Sie bekommt sie die ganze Zeit.
„Wir werden dir mit einer sehr scharfen Axt ein Hakenkreuz ins Gesicht schneiden“, stand in der Nachricht. „Dann werden wir dein Rückgrat durchschneiden und dich in einer Seitenstraße sterben lassen.“
Aber fast noch erschreckender als die Drohungen, sagte sie, war die Naivität der deutschen Behörden.
Sie erinnerte sich an den Tag, an dem die Polizei kam, um ihr mitzuteilen, dass sie einen Neonazi gefangen hatten, der sie umbringen wollte. Sie sprachen von Franco A. und zwei seiner Komplizen.
Sie habe gelacht und gesagt: „Sie haben sie also alle drei erwischt?“
„Sie denken immer, es sind nur ein oder zwei oder drei Nazis“, sagte sie.
Wessen Verfassung?
Es gibt eine Bestimmung im deutschen Grundgesetz, Artikel 20.4, die Widerstand zulässt. Konzipiert mit Blick auf Hitlers Ermächtigungsgesetz von 1933, mit dem er die Demokratie abschaffte, nachdem er gewählt worden war, ermächtigt er die Bürger, aktiv zu werden, wenn die Demokratie in Gefahr ist.
Es ist beliebt bei Rechtsextremisten, die Frau Merkels Regierung als verfassungsfeindlich denunzieren. Das Grundgesetz hat einen Ehrenplatz in der Bibliothek von Franco A. Er zitiert oft aus ihr.
In der Woche vor Weihnachten besuchte ich ihn ein weiteres Mal.
Er habe es ironisch gemeint, sagte er, und spielte mir diesen Abschnitt der Aufnahme vor. Der Ton ist lässig und scherzhaft, zwei Stimmen glucksen.
Aber es ist nicht offensichtlich, dass das Ganze ein Scherz ist.
Er war verärgert, dass ich Abschriften seiner Sprachnotizen hatte. Ich stellte ihn zu einigen der Dinge, die er gesagt hatte, in Frage – zum Beispiel, dass Hitler „über allem“ stehe.Wie konnte er das erklären?
Ich fragte ihn nach einer anderen Aufnahme, vom Januar 2016.
Wer dazu beitrage, den Staat zu zerstören, tue etwas Gutes, hatte Franco A. gesagt. Gesetze seien null und nichtig.
Wie könne er das sagen und gleichzeitig behaupten, er verteidige die Verfassung?
Es herrschte eine lange Stille. Franco A. schaute auf seine eigene Abschrift. Er blätterte in den Notizen seines Anwalts. Aber er hatte keine Antwort.
Lynsea Garrison, Clare Toeniskoetter, Kaitlin Roberts and Christopher F. Schuetze contributed reporting.
Die vom Europäischen Rat angenommenen Schlussfolgerungen zum Entwurf einer Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über eine allgemeine Regelung der Konditionalität zum Schutz des Unionshaushalts (im Folgenden „Konditionalitätsverordnung“)
Eine juristische Einschätzung der Rechtswidrigkeit der vom Europäischen Rat beschlossenen Schlussfolgerungen
Kim Lane Scheppele, Laurent Pech, Sébastien Platon, Verfassungsblock, 13 December 2020
Compromising the Rule of Law while Compromising on the Rule of Law
Am 10. Dezember 2020 hat der Europäische Rat Schlussfolgerungen zum Entwurf einer Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über eine allgemeine Regelung der Konditionalität zum Schutz des Unionshaushalts (im Folgenden „Konditionalitätsverordnung“) angenommen. ( https://www.consilium.europa.eu/media/45136/210720-euco-final-conclusions-de.pdf) Statt einer klingenden Erklärung, die die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit für die EU bekräftigt, untergraben die EUCO-Schlussfolgerungen die Rechtsstaatlichkeit an allen Fronten.
Die EUCO-Schlussfolgerungen sind formal unverbindlich, das Ergebnis eines „Kompromisses“, den die deutsche Ratspräsidentschaft mit den Regierungen von Ungarn und Polen ausgehandelt hat. Aber sie sind eindeutig dazu gedacht, einen langen Schatten auf die Konditionalitätsverordnung zu werfen, um sie praktisch unbrauchbar zu machen. Sowohl Ungarn als auch Polen sind derzeit Gegenstand langwieriger Artikel 7-Verfahren vor dem Rat, um festzustellen, ob ein klares Risiko einer schwerwiegenden Verletzung der Rechtsstaatlichkeit durch die polnischen Behörden besteht (2017 von der Kommission an den Rat verwiesen) und ob ein klares Risiko einer schwerwiegenden Verletzung vieler Grundwerte der EU durch die ungarischen Behörden besteht (2018 vom Parlament an den Rat verwiesen).
Diese Verfahren sind im Rat stecken geblieben, während die deutsche Ratspräsidentschaft wenig zur Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit in den beiden Mitgliedstaaten beigetragen hat. Stattdessen hat sich die deutsche Präsidentschaft dafür entschieden, die substanziellen Beweise dafür zu ignorieren, dass Ungarn und Polen grundlegende europäische Werte bedrohen, und hat ihnen in diesem „Kompromiss“ gegeben, was sie wollten, damit sie den EU-Haushalt und den Konjunkturfonds nicht als Geisel für ihre rechtsstaatswidrigen Forderungen nehmen. Geiselnahme wird in den meisten Rechtsordnungen bestraft, aber offensichtlich nicht in der EU. In der EU wird sie belohnt, selbst wenn das bedeutet, die EU-Verträge zu brechen, um diejenigen zu beschwichtigen, die dieselben Verträge zu Hause brechen.
Als die Geiseldrohung auftauchte, betonte die deutsche Bundeskanzlerin die Notwendigkeit, dass „alle Seiten“ Kompromisse eingehen müssten. Diese Haltung mag überraschen, wenn man bedenkt, dass sie zuvor gesagt hatte: „Es ist wichtig, dass wir die Rechtsstaatlichkeit verteidigen, was eines unserer Ziele während der deutschen Ratspräsidentschaft ist.“ Das Abkommen, das die deutsche Präsidentschaft ausgehandelt hat, ging von der Prämisse aus, dass Demokratien Kompromisse mit Autokratien eingehen sollten, was in etwa so ist, als würde man sagen, dass gesetzestreue Bürger Kompromisse mit Kriminellen eingehen müssen.
Darüber hinaus sind die EUCO-Schlussfolgerungen ein großer Sieg für Orbán und Kaczyński, die sich nun auf Jahre der Nicht-Durchsetzung und danach auf eine nur schwache, zu späte Durchsetzung freuen können. Unabhängig davon, ob die EUCO-Schlussfolgerungen von anderen EU-Institutionen als rechtlich bindend behandelt werden, was gegen die Verträge verstoßen würde, oder ob sie nur informell die Durchsetzung der Konditionalitätsverordnung beeinflussen, was unserer Meinung nach nicht der Fall sein sollte, haben die europäischen Staats- und Regierungschefs Orbán und Kaczyński erlaubt, den Mechanismus weiter zu verwässern, der dazu gedacht ist, ihre fortlaufende und fast vollendete Zerstörung aller internen Kontrollen ihrer Macht zu beenden, und im Fall von Ungarns „Mafia-Staat“, Korruption im industriellen Maßstab und persönliche Bereicherung dank der EU-Gelder.
Einige EU-Führer mögen behaupten, dass die EU-Gelder nun der Rechtsstaatlichkeit unterworfen werden, da die Konditionalitätsverordnung nun garantiert verabschiedet wird. Aber sie irren sich.
1. Dies ist kein Sieg für die Rechtsstaatlichkeit
Der Zweck der ursprünglich vorgeschlagenen Konditionalitätsverordnung war es, die Verteilung von EU-Geldern von der Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit abhängig zu machen, damit EU-Gelder nicht länger nationale Autokraten finanzieren. Orbáns Ungarn und Kaczyńskis Polen wurden von Demokratieexperten in eine Gruppe von 10 Ländern aufgenommen, die in den letzten zehn Jahren den größten demokratischen Rückschritt vollzogen haben.
Freedom House betrachtet Ungarn nun nicht mehr als Demokratie, sondern als das erste „hybride“ oder quasi-autoritäre Regime der EU. Auch Polens Platzierungen in globalen Indizes sind rapide gesunken, so dass das Land nur noch als „halbwegs gefestigte Demokratie“ gilt.
Die EU-Gelder haben einen Großteil dieser Zerstörung bezahlt, und die Konditionalitätsverordnung entstand ursprünglich aus dem Gefühl heraus, dass dieser Geldfluss gestoppt werden sollte. Aber die Form der Konditionalitätsverordnung, wie sie sich im Gesetzgebungsprozess herauskristallisiert hat, ist eine geschrumpfte Version ihres früheren Selbst, schwer auszulösen, begrenzt in dem, was sie erreichen kann, mit der Rechtsstaatlichkeit nicht einmal mehr in ihrem Titel aufgrund eines weiteren „Kompromisses“, den wir der deutschen Präsidentschaft verdanken. Darüber hinaus wird sich seine Umsetzung, „dank“ der EUCO-Schlussfolgerungen, verzögern.
In den zehn Jahren, in denen das Rechtsstaatsproblem in der EU schwelt, sollten die EU-Institutionen gelernt haben, dass die Zeit absolut drängt und dass nur schnelles Handeln effektiv ist. Und doch zielen die EUCO-Schlussfolgerungen darauf ab, einen weiteren Aufschub einzubauen, bevor die Konditionalitätsverordnung angewendet werden kann, weil sie mit dem Einverständnis der von der Leyen-Kommission festlegen, dass die Verordnung nicht durchgesetzt werden soll, bevor der Europäische Gerichtshof ein Urteil über ihre Rechtmäßigkeit fällt und nicht bevor ein komplexer Konsultationsprozess mit den Mitgliedstaaten „Leitlinien“ hervorbringt, die klar machen, wie der Mechanismus angewendet werden soll.
Der Recovery „Next Gen“-Fonds ist darauf ausgelegt, schnell ausgegeben zu werden. Er soll es den vom Covid-19-Virus schwer getroffenen EU-Mitgliedstaaten ermöglichen, die Auswirkungen der durch die Pandemie verursachten Betriebsstillstände und wirtschaftlichen Verwerfungen abzumildern. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass die nationalen Mittelzuweisungen genau in den zwei Jahren ausgegeben werden, die der EuGH wahrscheinlich brauchen wird, um sie zu überprüfen. Gemäß den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates wird die Kommission daran gehindert, diese Haushaltsverpflichtungen zu überprüfen, wenn sie anfallen.
Darüber hinaus ist in Ungarn zu erwarten, dass sich die Orbán-Regierung im neuen Haushaltszyklus genauso verhalten wird wie im letzten Haushaltszyklus. Von 2014-2020 war die Haushaltsstrategie der ungarischen Regierung „frontloaded absorption“. Der Großteil der Mittel für den gesamten Zyklus 2014-2020 war bereits im Frühjahr 2018, als die nationalen Parlamentswahlen stattfanden, gebunden. Da die nächsten ungarischen Parlamentswahlen für das Frühjahr 2022 angesetzt sind, können wir davon ausgehen, dass die in diesem neuen Haushaltszyklus zugewiesenen Mittel ebenfalls vor der Wahl gebunden werden, was wiederum fast sicher sein wird, bevor der EuGH die Verordnung zur Verwendung freigegeben hat.
Wenn die Verordnung am 1. Januar 2021 in Kraft tritt, kann die Kommission natürlich zurückgehen und rückwirkend prüfen, wie das Geld ausgegeben wurde, sobald sie grünes Licht dafür erhält. Aber die Verordnung selbst besagt, dass, während dem Mitgliedstaat Mittel für die Verletzung der Rechtsstaatlichkeit entzogen werden können, die Endempfänger des Geldes nicht die Leidtragenden sein sollten. Wie die Verordnung in Artikel 5(5) sagt: „Die Kommission tut ihr Möglichstes, um sicherzustellen, dass jeder Betrag, der gemäß Absatz 2 dieses Artikels [zur Durchführung der Einbehaltung von Geldern] von staatlichen Stellen oder Mitgliedstaaten geschuldet wird, tatsächlich an die Endempfänger oder Begünstigten gezahlt wird…“
Nehmen wir an, eine korrupte Regierung innerhalb der EU vergibt mit EU-Geldern Aufträge an ihre Freunde und tut dies schnell, während der EuGH die Verordnung prüft. Die EU wird immer noch garantieren, dass die Freunde bezahlt werden, selbst nachdem sie feststellt, dass das Geld korrupt ausgegeben wurde. Dies ist kein so hypothetischer Fall. Wie das Corruption Research Center Budapest in seiner Analyse von 248.404 ungarischen öffentlichen Ausschreibungen aus den Jahren 2005 bis 2020 zeigte: „Der Anteil der öffentlichen Aufträge, die von Kumpanen gewonnen wurden, … hat seit 2011 deutlich zugenommen.“ Zudem scheine das Korruptionsproblem bei EU-finanzierten Aufträgen noch größer zu sein als bei Aufträgen aus rein inländischen Quellen. Wenn Viktor Orbán im neuen Haushaltszyklus wiederholt, was er im letzten getan hat, dann wird er in den nächsten anderthalb Jahren bis zur Wahl den Löwenanteil der EU-finanzierten öffentlichen Aufträge an seine Freunde vergeben. Wenn die Kommission erst in zwei Jahren in Aktion treten darf, nachdem sowohl die Konjunktur- als auch die Haushaltsmittel weitgehend gebunden sind, könnte die Kommission durchaus feststellen, dass EU-Gelder korrupt ausgegeben wurden. Aber so wie die Verordnung derzeit geschrieben ist, wird die EU immer noch dafür sorgen müssen, dass Orbáns Freunde bezahlt werden. Gut gemacht, die deutsche Ratspräsidentschaft!
Kein Wunder, dass Viktor Orbán gleich am Tag der Verabschiedung der EUCO-Schlussfolgerungen ein Video auf seiner Facebook-Seite veröffentlichte, in dem er mit dem Champagner prahlte, der ihn nach der Abstimmung erwarte. Schließlich weiß er besser als jeder andere, dass eine verzögerte Rechtsstaatlichkeit eine zerstörte Rechtsstaatlichkeit ist.
2. Die EUCO-Schlussfolgerungen untergraben systematisch die Konditionalitätsverordnung
Die (unrechtmäßige) Verzögerung der Durchsetzung der Verordnung schränkt ihre Wirkung zeitlich ein und macht es in der Tat jeder korrupten Regierung lächerlich leicht, ihre Freunde einfach unbegrenzt zu begünstigen. Aber die EUCO-Schlussfolgerungen stumpfen auch auf andere Weise die Wirkungen ab und begrenzen das Potenzial dieser Verordnung, während sie auch andere Mechanismen zur Kontrolle von Schurkenstaaten in der EU in Frage stellen. Sehen wir uns den gesamten Inhalt dieses „Kompromisses“ an, dessen Kompatibilität mit den EU-Verträgen und Justiziabilität im nächsten Abschnitt nur kurz beleuchtet werden soll, da beide Fragen bereits von Alemanno und Chamon und Dimitrovs überzeugend analysiert wurden.
Die EUCO-Schlussfolgerungen beginnen in Punkt 1 mit einer rechtlich unzutreffenden Aussage, indem sie suggerieren, dass nur Artikel 7 EUV herangezogen werden kann, um „Verstöße gegen die Werte der Union nach Artikel 2 EUV zu bekämpfen“. Zusätzlich zur peinlichen Falschdarstellung des Wortlauts von Artikel 7 EUV, der sich nicht auf bloße Verstöße gegen Artikel 2 EUV bezieht, sondern vielmehr darauf abzielt, „eine eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung … der in Artikel 2 genannten Werte (Artikel 7 Absatz 1 EUV) und „das Vorliegen einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung“ der Werte nach Artikel 2 (Artikel 7 Absatz 2 EUV) anzugehen, diese Aussage widerspricht dem, was der Europäische Gerichtshof bereits entschieden hat, als er feststellte, dass die versuchte Säuberung des Obersten Gerichtshofs Polens eine Verletzung der Rechtsstaatlichkeit nach Artikel 2 EUV, konkretisiert durch Artikel 19 EUV, war. Artikel 2 EUV kann daher eindeutig Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens sein.
Darüber hinaus hat der Rat bereits die Tatsache akzeptiert, dass der Rahmen der Kommission vor Artikel 7 genutzt werden kann, um Verstöße gegen die Werte des Artikels 2 zu verhindern und/oder Beweise zu sammeln, bevor Artikel 7 geltend gemacht wird, ungeachtet des nun völlig diskreditierten Gutachtens des Juristischen Dienstes des Rates, der 2014 etwas anderes behauptete.
Die EUCO-Schlussfolgerungen stumpfen nicht nur die Auswirkungen der Konditionalitätsverordnung ab, sondern sie stellen alles in Frage, was die anderen Institutionen tun können und getan haben, um die Werte des Artikels 2 durchzusetzen. Am Rande sei bemerkt, dass der EUCO den EWR-Finanzierungsmechanismus nicht zu kennen scheint, der vorsieht, dass alle von ihm für den Zeitraum 2014-2021 finanzierten Programme und Aktivitäten „auf den gemeinsamen Werten der Achtung der Menschenwürde, der Freiheit, der Demokratie, der Gleichheit, der Rechtsstaatlichkeit und der Wahrung der Menschenrechte, einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören, beruhen“.
Dies bietet eine Grundlage für die Aussetzung von Geldern für EWR-Empfänger, die sich nicht an diese Werte, einschließlich der Rechtsstaatlichkeit, halten. Mit anderen Worten, ein externes Abkommen wie der EWR, das ein integraler Bestandteil des EU-Rechts ist, ist ein weiterer Mechanismus, um gegen Verstöße gegen die Werte der Union vorzugehen, ungeachtet dessen, was die Schlussfolgerungen der EUCO behaupten.
Obwohl weniger schädlich, verleiht Punkt 2 der EUCO-Schlussfolgerungen durch die Betonung, dass die Verordnung „unter voller Beachtung von Artikel 4(2) EUV anzuwenden ist“, der trügerischen Behauptung von nur zwei der 27 Regierungen, dass der Abbau von Checks and Balances im Namen ihrer angeblichen „Verfassungsidentität“ gerechtfertigt werden kann, einen unglücklichen Anschein von Glaubwürdigkeit. Punkt 2 der Schlussfolgerungen nimmt also die Perspektive zweier Schurkenstaaten ein und versichert ihnen, dass ihre „Bedenken“, egal wie unbegründet, trügerisch und verlogen sie sind, respektiert werden.
Punkt 2 enthält dann eine lange Liste von Verständnissen, die der Europäische Rat darlegt, so als wolle er andere EU-Institutionen anweisen, wie die Verordnung zu verstehen ist. Einige dieser Absprachen gehen so weit, dass sie die Reihenfolge festlegen, in der die verschiedenen Institutionen ihre jeweiligen Aufgaben wahrnehmen und wie sie ihre Verantwortlichkeiten ausüben sollen.
Punkt 2(a) versucht, das Hauptziel der Verordnung als „Schutz des Unionshaushalts … und der finanziellen Interessen der Union“ zusammenzufassen, lässt aber jede Erwähnung der Rechtsstaatlichkeit oder gar von Artikel 2 EUV aus.
In Punkt 2(b) heißt es peinlicherweise, dass die Verordnung nicht subjektiv, unfair, diskriminierend usw. angewandt werden soll, während sich der Leser fragt, warum dies notwendig ist.
In Punkt 2(c) wird bauchrednerisch verkündet, dass die Kommission „beabsichtigt, Leitlinien für die Art und Weise, wie sie die Verordnung anwenden wird, einschließlich einer Methodik für die Durchführung ihrer Bewertung, zu entwickeln und anzunehmen.“ Tatsächlich gibt es keine solche Anforderung von „Leitlinien“ in der Verordnung selbst, also wurde diese zusätzliche Stufe im Verfahren in einem Nebengeschäft zwischen dem Europäischen Rat, Angela Merkel und der Kommission und Angela Merkels ehemaligem Verteidigungsminister ausgeheckt.
Darüber hinaus kündigen die EUCO-Schlussfolgerungen an, dass die Kommission diese Leitlinien „in enger Absprache mit den Mitgliedstaaten“ ausarbeiten wird, ohne jegliche Rechtsgrundlage und Rechtfertigung für das, was auf eine weitere Ebene des „Dialogs“ hinausläuft, die in der Verordnung selbst nicht formell erwähnt wird, und natürlich eine weitere Gelegenheit für die Schurkenstaaten bietet, das Durchsetzungsverfahren zu verzögern und zu entgleisen. Es ist auch kaum zu glauben, dass es für den Europäischen Rat in Ordnung ist, das Parlament bei der Entwicklung dieser „Leitlinien“ nicht zu konsultieren.
Aber gerade in Punkt 2(c) ist die Verzögerung, die wir oben erwähnt haben, eingebettet. Der Europäische Rat kündigt an, dass die Kommission „keine Maßnahmen im Rahmen der Verordnung vorschlagen“ wird, bis der Gerichtshof ein Urteil in der Sache gefällt hat, „falls eine Nichtigkeitsklage in Bezug auf die Verordnung eingereicht wird“ (was Ungarn und Polen angedeutet haben).
Darüber hinaus wird die Durchsetzung der Verordnung zusätzlich verzögert, weil die neu hinzugefügten Leitlinien, die im Dialog mit den Mitgliedstaaten entwickelt werden sollen, erst nach einem eventuellen Urteil des Gerichtshofs fertiggestellt werden sollen. Kurzum: Unter Verletzung der Verträge weist der Europäische Rat den Hüter der Verträge an, die Verordnung nicht durchzusetzen, wenn sie in Kraft tritt, bis sie den Spießrutenlauf eines EuGH-Urteils und eines langwierigen Konsultationsverfahrens hinter sich hat. Verzögerungen besänftigen die Schurkenstaaten.
Punkt 2(d) scheint unverfänglicher zu sein, da er lediglich wiederholt, dass die Verordnung darauf abzielt, andere im EU-Recht festgelegte Verfahren zu ergänzen. Aber damit verstärkt er noch die Vorstellung, dass der einzige Sinn der Verordnung darin besteht, „den Haushalt der Union … wirksam zu schützen.“ Der Schutz der Rechtsstaatlichkeit, der der ursprüngliche Sinn des ganzen Unterfangens war, wird mit keinem Wort erwähnt. Auch hier widersprechen die EUCO-Schlussfolgerungen einfach direkt den EUCO-Schlussfolgerungen vom 21. Juli 2020.
Ebenso spiegelt Punkt 2(e) die wiederholten Versuche der deutschen Ratspräsidentschaft wider, die Auslösung dieses Mechanismus so schwierig wie möglich zu gestalten. In den EUCO-Schlussfolgerungen heißt es, die Verordnung verlange, dass „der Kausalzusammenhang“ zwischen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit „und den negativen Folgen für die finanziellen Interessen der Union hinreichend direkt sein und ordnungsgemäß nachgewiesen werden muss.“ Aber, den Verdacht unterstreichend, dass es bei der Konditionalitätsverordnung nun nicht zentral um Rechtsstaatlichkeit geht, wird in diesem Abschnitt der EU-Schlussfolgerungen der ganze Gedanke offen verleugnet:
„Die bloße Feststellung, dass ein Verstoß gegen die Rechtsstaatlichkeit stattgefunden hat, reicht nicht aus, um den Mechanismus auszulösen.“ Leider ist dies nicht falsch. In der Tat hat die deutsche Präsidentschaft das Europäische Parlament dazu bringen können, die Einführung eines extrem belastenden Kausalitätstests in die Verordnung zu akzeptieren (siehe die Verwendung von „sufficiently direct way“ in Artikel 4, die offensichtlich aus den verbundenen Rechtssachen T99/09 und T308/09 entlehnt wurde).
Diese probatio diabolica wurde nur durch die Einführung des Begriffs „ernsthaftes Risiko“ durch das Europäische Parlament weniger „teuflisch“ gemacht, d.h. eine mögliche negative Auswirkung sollte ausreichen, um als Verletzung der Rechtsstaatlichkeit zu gelten. Die Notwendigkeit, den „sufficiently direct way“-Test zu erfüllen, bleibt jedoch bestehen, und es können nur „Verstöße“ und keine generellen Mängel erfasst werden.
Die EUCO-Schlussfolgerungen können jedoch dafür kritisiert werden, dass sie die unbequeme Tatsache auslassen, dass die Verordnung sowohl individuelle Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit als auch weit verbreitete und/oder wiederkehrende Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit in Form von wiederkehrenden Praktiken, Unterlassungen und/oder allgemeinen Maßnahmen erfassen soll.
Noch problematischer ist, dass Punkt 2(f) auf eine Neuformulierung der Verordnung hinausläuft, indem es heißt, dass die „auslösenden Faktoren, die in der Verordnung aufgeführt sind, als eine geschlossene Liste homogener Elemente zu lesen und anzuwenden sind und nicht für Faktoren oder Ereignisse anderer Art offen sind“. Ungeachtet dessen, dass die in Artikel 4 Absatz 2 der Verordnung aufgeführten auslösenden Bedingungen ausdrücklich besagen, dass die Verordnung ausgelöst werden kann, wenn „andere Situationen oder Verhaltensweisen von Behörden, die für die Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung der Union oder den Schutz der finanziellen Interessen der Union von Bedeutung sind.“
Die EUCO-Schlussfolgerungen tilgen im Wesentlichen diesen Teil der Verordnung, indem sie verkünden, dass das, was davor steht, eine „geschlossene Liste“ ist. Der Punkt, dass sich die Verordnung nicht auf „allgemeine Mängel“ bezieht, ist jedoch richtig, da dies ein weiterer Aspekt der erfolgreichen Verwässerung des ursprünglichen Kommissionsvorschlags durch die deutsche Ratspräsidentschaft ist, der sich ebenfalls zunächst, aber nicht mehr auf die Rechtsstaatlichkeit bezieht. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, wie Alice im Wunderland zu sein, der das Grinsen ohne die Katze geblieben ist.
Punkt 2(g) zielt scheinbar darauf ab, hinzuzufügen, dass ein „gründlicher Dialog“ zwischen dem Mitgliedstaat und der Kommission stattfinden muss, bevor die Verordnung gegen einen Mitgliedstaat ausgelöst wird, obwohl dieser Schritt nicht in der Verordnung enthalten ist. Tatsächlich findet sich der einzige Hinweis auf einen Dialog in Artikel 6 der Verordnung, der dem Parlament die Möglichkeit einräumt, „die Kommission zu einem strukturierten Dialog über ihre Feststellungen einzuladen“.
Dieser neue Dialog, der vom Europäischen Rat vorgesehen ist, wird über den Dialog gelegt, der zwischen allen Mitgliedsstaaten und der Kommission stattfinden sollte, wenn die „Leitlinien“ für die Anwendung der Verordnung vorbereitet werden. In diesem Abschnitt fügen die EUCO-Schlussfolgerungen einen weiteren Schritt hinzu, den die Kommission unternehmen muss, bevor die Verordnung in einem konkreten Fall angewandt werden kann, ein Schritt, der nicht in der Verordnung selbst enthalten ist, da sie nur die Übermittlung einer schriftlichen Mitteilung an den betreffenden Mitgliedstaat, die Verpflichtung des betreffenden Mitgliedstaats, alle erforderlichen Informationen zu übermitteln, und die Möglichkeit, Anmerkungen zu machen, vorsieht.
In Punkt 2(h) fügt der Europäische Rat eine ominöse Formulierung ein, die von der Kommission verlangt, dass sie „die volle Verantwortung“ für die Richtigkeit ihrer Feststellungen über einen Mitgliedstaat trägt, und weist darauf hin, dass Maßnahmen, die im Rahmen der Verordnung gegen einen Mitgliedstaat ergriffen werden, auf Antrag des betroffenen Mitgliedstaates unverzüglich mit dem Ziel überprüft werden, sie aufzuheben. In beiden Fällen triefen die Punkte vor dem Verdacht, dass die Kommission ihre Arbeit nicht richtig machen wird, weil sie versucht sein wird, voreingenommene Informationen zu verwenden und/oder die Maßnahmen zu lange aufrechtzuerhalten.
Punkt 2(j) zielt scheinbar darauf ab, einen bloßen Erwägungsgrund der Verordnung in ein formelles Parallelverfahren unter Beteiligung des Europäischen Rates umzuwandeln, eine Option, die vom Parlament im Trilog über die Verordnung entschieden abgelehnt wurde. Die ursprünglich vom Rat vorgeschlagene „Notbremse“ (auch bekannt als „Orbán-Schleife“) hätte es einem betroffenen Mitgliedstaat erlaubt, seinen Fall zur Überprüfung und Entscheidung vom Rat auf den Europäischen Rat zu verlagern, aber diese Bestimmung wurde vom Parlament im Trilogprozess in einen Erwägungsgrund verbannt.
Nun ist die Anrufung des Europäischen Rates wieder in diesem Teil der EUCO-Schlussfolgerungen enthalten. Der Europäische Rat sagt, dass er einen solchen Appell auf seine Tagesordnung setzen wird“ und sich bemühen wird, einen gemeinsamen Standpunkt zu formulieren“, sollte er ausnahmsweise von einem Mitgliedstaat angerufen werden, der von Maßnahmen nach dieser Verordnung betroffen sein könnte. Der Europäische Rat hat also einen Erwägungsgrund in ein paralleles Verfahren verwandelt, eine letzte Chance für einen Mitgliedstaat, die Hunde der Kommission zurückzurufen, bevor sie zubeißen.
Aber welche Kommission würde einem Mitgliedstaat die Mittel kürzen, wenn der „gemeinsame Standpunkt“ des Europäischen Rates in einem solchen Verfahren lautet: „Wir halten diese Maßnahmen nicht für gerechtfertigt“ oder „Geben Sie dem Mitgliedstaat noch eine Chance“? Indem er seine Empfänglichkeit für diese Umgehung des Kommissionsverfahrens angedeutet hat, haben die EU-Schlussfolgerungen die Rolle der Hüterin der Verträge im gesamten Prozess der Verabschiedung von Maßnahmen auf der Grundlage der Verordnung untergraben.
Schließlich wird in Punkt 2(k) die Schlussbestimmung der Verordnung wiederholt, die ihre Anwendung ab dem 1. Januar 2021 sowohl in Bezug auf den neuen mehrjährigen Finanzrahmen als auch auf den EU-Fonds der nächsten Generation sowie ihr Inkrafttreten am zwölften Tag nach der Veröffentlichung der Verordnung im Amtsblatt der EU vorsieht. Wie bereits erwähnt, wurde die Kommission jedoch unter Punkt (c) angewiesen, die Verordnung erst dann anzuwenden, wenn ein EuGH-Urteil ergangen ist und die Kommission dann einige Leitlinien fertiggestellt hat. Das kann nur bedeuten, dass die Verordnung in Kraft tritt und dann auf Drängen des Europäischen Rates so lange nicht angewendet wird, bis die Bedingungen, die er von sich aus festgelegt hat, erfüllt sind. Das ist nicht normal.
In Abschnitt 3 der EUCO-Schlussfolgerungen „begrüßt“ der Europäische Rat eine von der Kommission anzunehmende Erklärung, „in der sie sich verpflichtet“, all die Wege zu beschreiten, auf denen die EU-Schlussfolgerungen die Bedeutung und Funktionsweise der Konditionalitätsverordnung verändert haben. Die Formulierung soll den Anschein erwecken, dass die Kommission sich freiwillig zu einem konstruktiven Vorgehen bereit erklärt hat, was wie ein Angebot klingt, das die Kommission nicht ablehnen kann.
Schließlich enden die EUCO-Schlussfolgerungen mit der Aufforderung an das Parlament und den Rat, den MFR, die Konditionalitätsverordnung und den Eigenmittelbeschluss zur Finanzierung des Konjunkturfonds sofort zu verabschieden, nachdem die EUCO die ganze Sache neu aufgerollt hat, was allerdings von den ungarischen und polnischen Regierungen noch rückgängig gemacht werden kann, indem sie die Ratifizierung des Eigenmittelbeschlusses blockieren oder ihre falschen Verfassungs „gerichte“ dazu bringen, die Konditionalitätsverordnung für ultra vires zu halten, wann immer es ihnen passt.
Inzwischen ist bekannt geworden, dass der Juristische Dienst des Rates ein Gutachten erstellt hat, in dem behauptet wird, dass die EUCO-Schlussfolgerungen „den Inhalt und die Ziele der [Rechtsstaatlichkeits-]Verordnung respektieren und mit ihr vereinbar sind. Insbesondere stehe kein Element … im Widerspruch zur Verordnung, widerspreche ihr oder ändere sie“, da die EUCO-Schlussfolgerungen lediglich „Klarstellungen, interpretative Zusicherungen“ bieten würden. Es wird vorgetragen, dass diese Einschätzung des Juristischen Dienstes des Rates falsch ist. Mehrere Aspekte der EUCO-Schlussfolgerungen verstoßen gegen EU-Recht.
3. Wenn die EUCO-Schlussfolgerungen gegen EU-Recht verstoßen, wie kann der Verstoß behoben werden? Wie Alberto Alemanno und Merijn Chamon im Verfassungsblog und Aleksejs Dimitrovs in EU Law Live überzeugend dargelegt haben, verstoßen die EUCO-Schlussfolgerungen gegen das EU-Primärrecht, insbesondere gegen das Prinzip des institutionellen Gleichgewichts.
Denn a) der Europäische Rat erteilt der Europäischen Kommission Weisungen und verstößt damit gegen die Unabhängigkeit der Kommission;
b) die Schlussfolgerungen die Verordnung de facto ändern, ohne das ordnungsgemäße Verfahren anzuwenden, zumal der EUV dem Europäischen Rat verbietet, gesetzgeberische Funktionen auszuüben, und
c) die Schlussfolgerungen, die Anwendung der Verordnung bis zum Ende der möglichen Nichtigkeitsklage Ungarns und Polens auszusetzen, was direkt in die Vorrechte des Gerichtshofs eingreift, während gleichzeitig eine rechtswidrige Vermutung der Rechtswidrigkeit der Verordnung eingeführt und ein neues rechtswidriges Prinzip erfunden wird, dass eine Nichtigkeitsklage aufschiebende Wirkung haben kann, obwohl der Text von Artikel 278 wörtlich das Gegenteil besagt!
Alemanno und Chamon argumentieren auch, dass eine Nichtigkeitsklage gegen diese Schlussfolgerungen nach Artikel 263 AEUV zulässig wäre, da der Text eindeutig beabsichtigt, Rechtswirkungen zu erzeugen. Wir stimmen mit ihren Argumenten voll und ganz überein und würden nur noch ein paar Punkte über die Art und Weise, wie Klagen vor dem Gerichtshof erhoben werden könnten, hinzufügen.
Erstens könnte eine mögliche Klage auf Nichtigerklärung der EUCO-Schlussfolgerungen durch einen Antrag auf Aussetzung gemäß Artikel 160 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ergänzt werden. Eine Aussetzung als vorläufige Maßnahme während der Prüfung der Rechtssache kann vom Gerichtshof gewährt werden, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind: 1) Die Klage in der Hauptsache darf nicht auf den ersten Blick ohne vernünftigen Grund erscheinen; 2) der Antragsteller muss nachweisen, dass die Maßnahmen dringend sind und dass ohne sie ein ernsthafter und nicht wieder gutzumachender Schaden eintreten würde, und 3) die einstweiligen Maßnahmen müssen die Abwägung der Interessen der Parteien und des öffentlichen Interesses berücksichtigen.
Angesichts dessen, was wir oben bereits festgestellt haben, ist die erste Bedingung sicherlich erfüllt. Darüber hinaus hat der Gerichtshof, insbesondere in seinen einstweiligen Anordnungen in den beiden Rechtssachen Kommission gegen Polen (siehe hier und hier), bereits berücksichtigt, dass Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit schwerwiegend und irreparabel sein können.
Wenn die Anwendung der EUCO-Schlussfolgerungen die Fortsetzung von Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit ermöglicht, dann wäre eine Aussetzung dieser Schlussfolgerungen gerechtfertigt. Da die Aussetzung der Schlussfolgerungen nur zu einer „normalen“ Anwendung der Verordnung ab dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens führen würde, könnte sie kaum als unverhältnismäßig angesehen werden, insbesondere wenn man bedenkt, dass eine Verordnung „in allen ihren Teilen verbindlich und unmittelbar anwendbar“ sein soll.
Zweitens könnte eine Nichtigkeitsklage mit einer Untätigkeitsklage nach Art. 265 AEUV gegen die Kommission verbunden werden, wenn diese es unterlässt, die für die Durchführung der Verordnung erforderlichen Leitlinien zu formulieren. Dies würde jedoch voraussetzen, dass solche Leitlinien durch die Verordnung rechtlich vorgeschrieben sind – was keineswegs offensichtlich ist, da der Text der Verordnung sie nicht ausdrücklich fordert. Tatsächlich ist das Erfordernis, dass die Kommission solche Leitlinien entwickelt, einer der vielen Gründe, warum die EUCO-Schlussfolgerungen ihre eigentliche Rolle im institutionellen Gleichgewicht der EU überschritten haben könnten. Eine Untätigkeitsklage könnte stattdessen erhoben werden, wenn die Kommission sich tatsächlich auf die EU-Schlussfolgerungen verlassen hat, um zu warten, bevor sie die Verordnung durchsetzte, als ein Anlass dazu klar wurde, oder wenn sie es versäumt hat, die für die Durchsetzung der Verordnung erforderlichen Informationen zu sammeln.
Drittens würden beide gerichtlichen Wege erfordern, dass eine qualifizierte Partei den Fall vor den Gerichtshof bringt. Dies wäre der Hauptknackpunkt, weil der Kreis derjenigen, die rechtlich dazu befähigt sind, wohl begrenzt ist. Insbesondere NGOs und Einzelpersonen dürften nicht klagebefugt sein. Die EUCO-Schlussfolgerungen könnten als „Regulierungsakt“ betrachtet werden, da sie eindeutig eine rechtliche Wirkung haben sollen.
Nach Artikel 263 AEUV können juristische und natürliche Personen eine Nichtigkeitsklage gegen einen Rechtsakt erheben, auch wenn sie nicht individuell betroffen sind, sofern dieser keine Durchführungsmaßnahmen beinhaltet und sie unmittelbar betrifft. In seinem Urteil in der Rechtssache Inuit Tapiriit Kanatami 2013 entschied der Gerichtshof, dass Regulierungsakte als „Rechtsakte mit allgemeiner Geltung mit Ausnahme von Gesetzgebungsakten“ zu verstehen sind. Gemäß Artikel 289 Absatz 3 AEUV sind Gesetzgebungsakte „im Wege des Gesetzgebungsverfahrens erlassene Rechtsakte“, was bei Schlussfolgerungen des Europäischen Rates nicht der Fall ist.
Da von den vorliegenden Schlussfolgerungen nicht gesagt werden kann, dass sie einen bestimmten Adressaten haben, können sie auch als „allgemein anwendbar“ angesehen werden und sind somit als „Rechtsakte mit Verordnungscharakter“ einzustufen. Außerdem scheinen sie keine „Durchführungsmaßnahmen“ zu beinhalten. Damit eine natürliche oder juristische Person solche Rechtsakte gerichtlich anfechten kann, müssen diese Rechtsakte jedoch auch „sie unmittelbar betreffen“. Nach ständiger Rechtsprechung bedeutet diese Bedingung, dass der Rechtsakt die Rechtsstellung des Antragstellers unmittelbar berühren muss. Diese Bedingung wäre bei einer Klage gegen die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates schwer zu erfüllen.
Damit verbleiben die sogenannten „privilegierten Antragsteller“, d.h. die Mitgliedstaaten, das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission, die keine Klagebefugnis begründen müssen. Die Europäische Kommission könnte eindeutig eine solche Klage erheben, da ihre Vorrechte nach der Konditionalitätsverordnung am meisten betroffen sind. Die Zusage der Kommission, eine Erklärung anzunehmen, in der sie ihre Absicht zum Ausdruck bringt, sich an die Schlussfolgerungen zu halten, auf die in den Schlussfolgerungen selbst verwiesen wird, macht einen solchen Schritt jedoch äußerst unwahrscheinlich. Ein Mitgliedstaat könnte beschließen, Klage zu erheben, aber das würde bedeuten, dass er seine Zustimmung zu diesen Schlussfolgerungen im Europäischen Rat verweigern würde.
Bleibt also das Europäische Parlament. Zunächst ließen die Reaktionen der wichtigsten Fraktionen es unwahrscheinlich erscheinen, dass es eine Klage anstreben würde. Aber mit ein paar Tagen Zeit, um die substanziellen Änderungen in der Konditionalitätsverordnung, die die EUCO-Schlussfolgerungen mit sich brachten, zu verarbeiten, scheint sich das Parlament zum Handeln zu rüsten. Während wir diese Zeilen schreiben, haben wir erfahren, dass die wichtigsten parlamentarischen Fraktionen eine parallele Erklärung zu den EUCO-Schlussfolgerungen diskutieren, in der das Parlament sein eigenes Verständnis der Verordnung darlegt. Als echter Mitgesetzgeber sollten die Ansichten des Parlaments zwingender sein als die des Europäischen Rates.
Könnte das Parlament nicht nur eine parallele Erklärung verabschieden, sondern gleich eine Nichtigkeitsklage gegen die EUCO-Schlussfolgerungen sowie eine Untätigkeitsklage gegen die Kommission einreichen, wenn sich die Kommission von den EUCO-Schlussfolgerungen leiten lässt? Es würde einen außergewöhnlichen Akt des politischen Willens erfordern, aber während der Rechtsstaatskrise des letzten Jahrzehnts war es immer das Parlament, das sich am stärksten für die europäischen Grundwerte eingesetzt hat.
Wenn das Parlament jedoch nicht in der Lage ist, die EUCO-Schlussfolgerungen anzufechten, könnten wir in einer Situation enden, in der ein illegaler Akt des Europäischen Rates mangels gerichtlicher Anfechtung aufrechterhalten wird. Ironischerweise könnte ein Text über den Schutz der Rechtsstaatlichkeit auf nationaler Ebene daher einen Fehler in der Rechtsstaatlichkeit offenbaren… auf EU-Ebene.
Die neoliberalen Staatsverächter sind jedes Mal mit ihrem Latein am Ende, wenn das Ganze (das System) in Gefahr ist. Wir erinnern uns an die weltweite Finanz-, Immobilien- und Wirtschaftskrise von 2007 bis 2009. Und auch jetzt während der Corona-Pandemie gibt es eine weltweit (generalisierende) Rückbesinnung auf den Staat. Selbst die marktradikalsten Neoliberalen und Kapitaleigner besinnen sich dann auf den Briten Sir John Maynard Keynes, der das kapitalistische System mit seinem deficit-spending vor dem Kollaps retten muss. Die Privaten sind nämlich zur Krisenbekämpfung unfähig.
Die Krise ist aber noch nicht ganz überwunden, da wollen die Neoliberalen und das Kapital vom Staat und seinen Interventionen in den Markt nichts mehr wissen. Die krisenbedingt aufgebaute Staatsverschuldung müsse jetzt schnellstens mit einer Austeritätspolitik zurückgeführt werden. Steuererhöhungen und Kapitalschnitte gegen die Reichen durchzusetzen traut sich Politik dagegen nicht und es fehlt auch die notwendige Macht. Dies stellte bereits am 3. Februar 1996 ganz nüchtern der damalige Präsident der Deutschen Bundesbank, Hans Tietmeyer, auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos vor vielen Staatspräsidenten aus der ganzen Welt unumwunden fest, als er sagte: „Ich habe bisweilen den Eindruck, dass sich die meisten Politiker immer noch nicht darüber im Klaren sind, wie sehr sie bereits heute unter der Kontrolle der Finanzmärkte stehen und sogar von diesen beherrscht werden“.
So verwerflich sich das hier auch anhört, aber Tietmeyer formulierte nur, was schon 1996 Realität geworden war. Auch der Finanzwissenschaftler Marc Chesney kommt in einem Interview mit der „Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ) zu einem verheerenden Befund, wenn er sagt: „Die Finanzlobbys sind in der Lage, ihre Interessen der Gesellschaft aufzuzwingen.“ Und 2020 sagte in diesem Kontext der aus dem Macron-Kabinett zurückgetretene französische Umweltminister Nicolas Hulot auf die Frage, warum er sein Amt aufgegeben habe. „Ich merkte, dass die Politik entmachtet worden ist durch die Finanzwelt.“ Und trotzdem tut die herrschende Politik so, als wäre sie noch im Besitz des staatlichen Gewaltmonopols gegen die Finanzlobbys, wenn schon alleine der Finanzinvestor Blackrock über ein Vermögen von 7,4 Billionen Dollar verfügt.
Der Autor ist Sprecher der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik.
EU Politik: Das war wohl nichts mit der Hoffnung auf Standhaftigkeit von Kommission und Rat in der entscheidenden Frage nach der Einhaltung des Rechtsstaatsprinzips in der nächsten Zeit! Der Fisch stinkt immer vom Kopfe her. Nicht wahr Frau Freifrau von der Leyen und Frau Dr.Merkel?
Das müssen die Gesellschaften in den betroffenen Ländern halt dann wohl schon selbst organisieren in Polen, Ungarn, Rumänien usw. Sollte man meinen. Wir hier in Deutschland haben aber dann mitentschieden für die weitere Förderung des Präfaschismus in Europa. Es ist nämlich unser Steuergeld, mit dem die präfaschistischen Regierungen in Polen, Ungarn usw. den Präfaschismus in ihren Ländern stärken.
Halten wir uns deshalb zuerst an die von uns in Deutschland Gewählten EU-Abgeordneten. Sie sind dem Grundgesetz verpflichtet. Deshalb müssen sie das Vordringen des internationalen und nationalen Präfaschismus verhindern ( https://bit.ly/3777xXJ ).
Dafür steht nämlich das Rechtsstaatsprinzip. Deshalb kann und sollte man jetzt auf das EU-Parlament hoffen, auf die Webers, Barleys, Giegolds, Ernsts aus Deutschland und ihre europäischen FreundInnen.
Bei einer Blockade der Autoritären böte sich zunächst an, den Corona-Fonds vom EU-Haushalt zu trennen: Das ist der bestehende bereits ausgearbeitete Vorschlag der 25 EU-Mitglieder. Im Verfahren der verstärkten Zusammenarbeit nach Art.43 EUV würde der Fonds dann beschlossen. Das Parlament und der Europäische Gedanke hätten wieder Strahlkraft.
Am 17.12.2020 hat das EU Parlament die Entschließung verabschiedet, die textlich den Schlussfolgerungen von Rat und Kommission diametral entgegensteht.
https://michaelbouteiller.de/archive/1550
EU-Haushalt: Und der Verlierer ist… der Rechtsstaat.Ein Kommentar von Markus Becker, Brüssel,Spiegel-online 11.12.2020: Auszug:
Der Mechanismus ist, anders als zunächst angedacht, eng auf Haushaltsfragen begrenzt: Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit sollen nur noch dann geahndet werden, wenn sie die Verwendung von EU-Mitteln betreffen. Andere Verletzungen der Grundwerte, etwa die Einschränkung der Medien- und Meinungsfreiheit oder die Unterdrückung von Minderheiten, sind außen vor.
Ein weiteres Problem ist die für die Auslösung notwendige Mehrheit. Nach dem ersten Vorschlag der Kommission sollten Sanktionen gegen Rechtsstaatssünder quasi automatisch erfolgen – es sei denn, eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedsländer wäre dagegen. Jetzt ist es umgekehrt: 15 der 27 EU-Länder mit mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung müssen dafür sein. Beobachter gehen davon aus, dass diese Hürde nur in extremen Fällen genommen werden kann – wenn überhaupt.
Der Mechanismus wird von einer Erklärung der Staats- und Regierungschefs begleitet. Sie besagt unter anderem, dass die EU-Kommission den Mechanismus erst anwenden soll, wenn der Europäische Gerichtshof über dessen Rechtmäßigkeit geurteilt hat. Das soll nach Einschätzung der Kommission ein knappes Jahr dauern. Sollte sie den Mechanismus danach in Gang setzen, würde das Verfahren weitere Monate in Anspruch nehmen.
Zwar ist die Erklärung rechtlich nicht bindend; die Kommission könnte sie ignorieren. Dass sie das tut, ist allerdings unwahrscheinlich, da Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen selbst am Entstehen der Erklärung beteiligt war. Realer ist hingegen die Gefahr, dass die Kommission künftig äußerst zurückhaltend sein wird, den Mechanismus überhaupt zu aktivieren. Das Problem daran: Kein anderer darf es.
All das bedeutet, dass der Mechanismus mindestens eineinhalb Jahre gar nicht angewandt werden könnte und in den Sternen steht, wie wirkungsvoll er anschließend sein wird.
Es ist zur Zeit nichts da außer Geld. So scheint es. Das ist vielleicht der kleinste gemeinsame Nenner der sogenannten Europäischen „Union“. Ich nenne sie so in Anführungszeichen, weil es eine Union, die Einstimmigkeit bei der Abstimmung über eine Änderung ihrer Verfassung fordert, in keiner Verfassung eines Staatenbundes auf der Welt gibt und geben kann.
Zu Recht. Denn Einstimmigkeit und Einheit schließen sich aus. Das Prinzip der Einstimmigkeit war aber das einzige europäische Signal, was die „großen“ Politiker meiner Generation bisher vollbrachten. Die Einstimmigkeit jeder Vertragsänderung ist festgemauert, und zwar in folgenden Bereichen:
1. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (mit Ausnahme einiger eindeutig festgelegter Fälle, in denen eine qualifizierte Mehrheit erforderlich ist, etwa die Ernennung eines Sonderbeauftragten)
2. Bürgerrechte (Gewährung neuer Rechte für EU-Bürger)
3. EU-Mitgliedschaft Harmonisierung nationaler Rechtsvorschriften über indirekte Besteuerung
5. Einige Bestimmungen im Bereich Justiz und Inneres (europäischer Staatsanwalt, Familienrecht, operative polizeiliche Zusammenarbeit, usw.)
6. Harmonisierung der nationalen Rechtsvorschriften im Bereich soziale Sicherheit und Sozialschutz .
Der 2009 in Kraft getretene (zeitlich letzte) europäische Vertrag (Lissabon) reduzierte zwar die Zahl der in der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 vorgesehenen Bereiche der Einstimmigkeit auf die oben genannten. Die EU bleibt aber politisch wegen des verbliebenen Einstimmigkeits-Erfordernis einer Vertragsänderung eine „Lame Duck“.
Deshalb liegt ihr Schicksal auch -am Ende- in den Händen u.a. der Autokraten (Ungarn, Polen, Tschechien usw.). Diese pfeifen auf den Rechtsstaat. Wer sie (außer ihrer eigenen Bevölkerung) zur Räson bringen will, dem wird (etwa) mit der Weigerung gedroht, dem Finanzpaket oder dem EU-Haushalt usw. nicht zuzustimmen. Geld heiligt offenbar jeden Zweck. Eine Änderung des Europäischen Vertragswerks ist deshalb dringend geboten. Es ist jetzt so, wie es ist, einfach zum Verzweifeln!
Gleichwohl ist der Wert der bestehenden Europäischen Ordnung, auch so, wie sie ist, unbestreitbar. Ihr nicht zu überschätzender Vorteil, den wir bei den augenblicklichen Konflikten der jetzigen EU leicht übersehen, liegt für die BürgerInnen im Netzwerk des europäischen Rechts. In der Letztentscheidungsbefugnis des EU-Gerichtshofs.
Die außerordentliche soziale Stabilität, die dieser rechtliche Rahmen den politisch so volatilen Gebilden der europäischen Nationalstaaten verleiht, bemerkt man vielleicht nicht im Alltag. Er verhindert indes, dass es zum Äußersten kommt. Ein Blick in die zurückliegende Katastrophen-Geschichte unseres Landes klärt darüber auf. Die Weimarer Verfassung kannte keinen Verfassungsgerichtshof, der die Grundrechte der BürgerInnen und die soziale und föderale Struktur des Landes geschützt hätte. Sie bot gegen den politischen Extremismus keinen Schutz. Dieses rechtsstaatliche Loch ermöglichte in den Finanzkrisen legale Gewalt, Terror, Massenmord und Krieg.
Die ungeheuren Vorzüge eines Rechtsstaates EU gegenüber einer (reinen) Demokratie lehrt uns übrigens die fast 2000 Jahre alte Geschichte des Neuen Testaments, worauf uns Hans Kelsens kluges Buch über „Wesen und Wert der Demokratie“ hinweist. Im 18.Kapitel des Evangelium Johannis wird eine Volksabstimmung geschildert: „Wollt ihr nun, dass ich Euch den König der Juden freigebe“, fragt Pilatus. Da schrien alle: „Nicht diesen, sondern Barabas“.
Das Risiko reiner Demokratie ist es, dass man in Kauf nimmt, das Wertvollste zu zerstören. Deshalb harren wir lieber aus im jetzigen Rechtsstaat Europa und hoffen auf die Wahl engagierter PolitikerInnen für ein zukünftiges Europa, das Sich bewähren kann in dem Dreieck US, Europa, China.
Sieh an, sieh an Timotheus….so ändern sich die Ansichten!
„Abschied von der Schuldenphobie
(Handelsblatt v.8.6.2020 S.12)
Das Konjunkturpaket ist überzeugend. Es reicht aber nicht aus, um Deutschland in die Zukunft zu führen, meint Bert Rürup.
…Das Wichtigste wäre aber eine realistische Einschätzung darüber, wer künftig die zuverlässigen (Handels-)Partner und Freunde sein werden. So mag die deutsche Exportwirtschaft im Chinageschäft zuletzt hohe Wachstumsraten erzielt haben. Doch die deutschen Exporte in die Staaten Europas waren im Jahr 2019 rund viermal so hoch wie die gesamte Ausfuhr nach Asien. Ein stabiles und prosperierendes Europa ist also gerade in einer protektionistischer werdenden Welt im ureigenen Interesse Deutschlands. Daher ist es richtig, jetzt mit einem gemeinsamen solidarischen „Wiederaufbauprogramm“ die Wirtschaft Europas nachhaltig zu stärken.
Die damit verbundenen Staatsschulden müssen von den nachfolgenden Generationen bedient werden, sind aber kein Problem, wenn das Wirtschaftswachstum höher ist als der Zinssatz für die Schulden. Da aber eine Rückkehr der Inflation auf absehbare Zeit nicht zu erwarten ist, kann die EZB ihre Nullzinspolitik noch länger fortsetzen, um die Währungsunion zusammenzuhalten und zu stabilisieren.
Es wäre also an der Zeit, dass auch die Deutschen ihre Schuldenphobie kritisch hinterfragen. Denn Staatsschulden sind per se ebenso wenig schlecht, wie Haushaltsüberschüsse zwangsläufig gut sind. Denn es spricht nichts dagegen, zukunftsträchtige und damit vorrangig den künftigen Generationen zugutekommende Investitionen auf Kredit zu finanzieren. Anders als oft behauptet ist das „Wiederaufbaupaket“ der EU keineswegs ein Programm zulasten künftiger Generationen, sondern eher eines zu deren Gunsten. Wenn die Deutschen und nicht wenige ihrer Politiker zudem noch erkennen würden, dass die Länder Südeuropas nicht nur als sonnige Urlaubsziele für sie von Interesse sind, sondern dass die eigene ökonomische Zukunft von Befindlichkeit, Zusammenhalt und Zukunftsperspektiven der gesamten EU abhängt, dann hätte die Pandemie langfristig womöglich auch etwas Gutes bewirkt. (Hervorhebung, M.B.)
Bekanntlich steckt in jeder Krise auch stets eine Chance, die es nun zu nutzen gilt.
Der Autor ist Chefökonom des Handelsblatts und Präsident des Handelsblatt Research Institute.Sie erreichen ihn unter: rürup@handelsblatt.com.“
Kommen die Grundrechte unter die Räder? Zwischenruf eines Richters
Corona hat die Welt verändert wie kein Ereignis seit dem Zweiten Weltkrieg. Das gilt unabhängig davon, wie man die Gefährlichkeit des Virus und die zu seiner Abwehr getroffenen Maßnahmen einstuft. Auch wer diese für unangemessen und schädlich hält, kommt an der Einsicht nicht vorbei, dass das Virus die halbe Welt lahmgelegt hat und schon jetzt volkswirtschaftliche Schäden in Billionenhöhe verursacht hat.
Es ist nicht einfach, in dem heftigen Meinungskampf zwischen Corona-Verängstigten und Corona- Beschwichtigern einen verlässlichen Standort für die eigene Position zu finden.
Bestandsaufnahme
Auffällig ist: Noch nie in der für mich überschaubaren Zeit waren sich die für mein Wohl zuständigen politischen Instanzen so einig wie jetzt. Bürgermeister, Landrat, Ministerpräsident, Bundeskanzlerin, EU- Kommissionspräsidentin und UN-Generalsekretär stimmen in ihren Corona Bedrohungsanalysen überein und rufen zu entschiedenem Handeln auf. Wie ist diese Einigkeit zu erklären? Verfolgen sie gemeinsame Interessen und wenn ja – welche?
Meine Lebenserfahrung sagt mir, es ist wenig wahrscheinlich, dass all diese ehrenwerten Personen ausnahmslos gewissenlose Erfüllungsgehilfen von Big Pharma sind. Andere Profiteure des globalen Shutdowns vermag ich nicht zu erkennen. Nicht einmal das immer in Verdacht stehende Großkapital taugt als überzeugendes Erklärungsmuster. Denn soweit erkennbar, sind am Ende alle Verlierer, der Bettler ebenso wie der Konzernbesitzer.
Abgesehen davon, was hätten die Staatsführer dieser Welt – von Xi Jinping über Putin, Bolsonaro, Macron und Merkel bis hin zu Papst Franziskus und zur Queen – davon, wenn sie die ihrer Fürsorge anvertrauten Menschen im Gleichschritt in den wirtschaftlichen und sozialen Ruin führen? Das legt den Schluss nahe, dass die Mächtigen dieser Welt bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Persönlichkeiten und ihrer politischen Heimat eine gemeinsame politische Agenda verfolgen, nämlich die Bekämpfung einer höchst bedrohlichen Pandemie.
Selbst der tiefgründigste politische Denker der Gegenwart, Donald J. Trump, hat angesichts der Horrorszenarien von NY zwar nicht seine Großmäuligkeit aufgegeben, sich aber widerwillig den Notwendigkeiten einer Seuchenbekämpfung gebeugt.
Kurzum: Ich kann mir trotz einer über Jahrzehnte gewachsenen Politikskepsis nicht vorstellen, dass alle Verantwortungsträger dieser Welt Mitglieder eines globalen Verschwörungssyndikats sind. Noch weniger kann ich mir vorstellen, dass sie alle Opfer von neurotischen Zwangsvorstellungen sind und eine Seuche bekämpfen, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt.
Das hauptsächliche Gegenargument der Corona-Verharmloser, die Zahl der Erkrankten und Verstorbenen liege unter den langjährigen statistischen Mittelwerten, taugt nicht wirklich als Beruhigungspille. Denn zum einen stehen wir noch am Anfang eines Jahres. Zum anderen sprechen gute Gründe dafür, dass die von der Politik verordneten Abwehrmaßnahmen zu einer Verlangsamung der Virusausbreitung geführt haben. Außerdem sind die Horrorbilder von Bergamo, Brescia und NY nicht dazu angetan, die Letalität des Corona Virus in Zweifel zu ziehen. Doch noch wissen wir nicht genau, wer Recht hat und wer falsch liegt. Am Jahresende werden wir klarer sehen.
Neue Fragestellungen
Es zeichnet sich bereits ab, dass zumindest vorübergehend der Streit über die Gefährlichkeit des Corona Virus in den Hintergrund tritt. Dafür gewinnt die Frage an Gewicht, was die angeordneten Verbote für das gesellschaftliche Leben bedeuten.
Mehrere Anrufer beklagen, dass die verfassungsrechtlich verbrieften Grund- und Freiheitsrechte unter die Räder gekommen seien. Einer moniert, dass wir gerade Zeugen des Übergangs einer Demokratie in einen autoritären Staat sind. Ein weiterer äußert die Sorge, dass der Deutsche Bundestag ein Ermächtigungsgesetz für die Regierung erlassen habe. Eine Heidelberger Anwältin hat Rechtsschutz durch das Bundesverfassungsgericht beantragt. Nach ihrer Meinung drohen die „vollständige Beseitigung des Bestands der Bundesrepublik Deutschland“ und eine „beispiellose Beschränkung fast aller Grundrechte von 83 Millionen Bürgern“ und die „Errichtung eines diktatorischen Polizeistaats“. Auch wenn man diese Lagebeurteilung nicht teilt, gemeinsam ist allen Fragen die Sorge, dass der Rechtsstaat durch Corona in Gefahr ist.
Beengte Freiräume
Richtig an den aufgeworfenen Fragen ist, dass in den letzten Wochen rigoros in unsere Freiräume eingegriffen worden ist. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik sind Grundrechte so flächendeckend und so radikal eingeschränkt worden.
Als sie in das Grundgesetz geschrieben worden sind, lag Deutschland in Schutt und Asche. Heute, 70 Jahre später, stehen sie – jedenfalls nach Meinung vieler umtriebiger Blogger – nur noch auf dem Papier. Die Wohnung darf nur noch verlassen werden, wenn triftige Gründe vorliegen. Der Besuch von Kindergärten, Schulen, Unis, Gottesdiensten, Kinos, Theatern, Sportplätzen, Veranstaltungen, Gaststätten – bis auf weiteres ausgesetzt. Kein Spaziergang mehr mit Freunden, auch kein Gang zum Friseur. Nicht einmal die kranke Großmutter im Altenheim darf besucht werden. Nur gestorben werden darf noch wie bisher, aber bei der Beerdigung gelten starke Restriktionen. Heribert Prantl meint, das Virus habe nicht nur Menschen befallen, sondern auch den Rechtsstaat.
Grenzen der Grundrechte
Man muss kein Jurist sein, um zu erkennen, dass die genannten Verbote u. a. das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG), das Recht auf ungestörte Religionsausübung (Art. 4 Abs. 2 GG), die Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) und die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) einschränken.
Das besagt aber nicht, dass die Beschränkungen schlechthin unzulässig sind. Denn entgegen einem verbreiteten Missverständnis sind Grundrechte keine absoluten Rechte in dem Sinne, dass jede Einschränkung verfassungswidrig wäre.
Diese Erkenntnis ist im Grunde banal, aber sie ist kaum im Bewusstsein der Menschen. Das ist verwunderlich, denn wir kennen aus unserem Alltagsleben viele massive Begrenzungen unserer Freiheitsrechte. Kein Autofahrer darf unter Berufung auf das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit auf der linken Fahrbahnhälfte oder mit 100 km/h durch einen Ort fahren. Der Gesetzgeber hat der individuellen Freiheit durch das StVG und die StVO Beschränkungen (Verkehrsregeln) auferlegt.
Das ist kein Verfassungsverstoß. Denn die Beschränkungen sind durch das Grundgesetz gedeckt. Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG sagt wörtlich: „In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“ Weiteres Beispiel: Art. 8 Abs. 2 GG besagt: „Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.“ Auch die Eigentumsgarantie ist nicht unbeschränkt. Denn Art 14 Abs. 1 GG lautet: „Inhalt und Schranken [des Eigentums] werden durch die Gesetze bestimmt.“ Das ist der rechtliche Grund, warum wir Steuern bezahlen müssen.
Zwischenergebnis: Die genannten Grundrechte stehen unter einem verfassungsmäßigen „Gesetzesvorbehalt“. Sie dürfen vom einfachen Gesetzgeber beschränkt werden. Will der Gesetzgeber hiervon Gebrauch machen, dann muss er bestimmte im GG geregelte Schranken beachten, wie etwa das Zitiergebot, d. h. das einzuschränkende Grundrecht muss benannt werden (vgl. Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG), die Wesensgehaltsgarantie, d. h. das Grundrecht darf in seinem Kern nicht angetastet werden (vgl. Art. 19 Abs. 2 GG) oder das Übermaßverbot (Verhältnismäßigkeitsprinzip).
Bundesinfektionsschutzgesetz
Nach Ausbruch der Corona-Pandemie hat der Bundesgesetzgeber das seit 2000 geltende Infektionsschutzgesetz (IfSG) durch das „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ vom 27. März 2020 umfassend geändert. Zweck des mit „heißer Nadel“ gestrickten Gesetzes ist es, übertragbaren Krankheiten beim Menschen vorzubeugen, Infektionen frühzeitig zu erkennen und ihre Weiterverbreitung zu verhindern.
Das IfSG umfasst auf 58 Seiten zahlreiche Regelungen und Ermächtigungen der Gesundheitsbehörden zum Erlass von Einzelanordnungen (sog. Verwaltungsakte). Ferner werden die Landesregierungen zum Erlass von Rechtsverordnungen ermächtigt. § 32 IfSG regelt für diesen Fall ausdrücklich, dass die Grundrechte der Freiheit der Person (Artikel 2 Abs. 2 Satz 2 GG), der Freizügigkeit (Artikel 11 Abs. 1 GG), der Versammlungsfreiheit (Artikel 8 GG), der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Abs. 1 GG) und des Brief- und Postgeheimnisses (Artikel 10 GG) eingeschränkt werden können. Damit ist dem Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG Folge geleistet; insoweit bestehen gegen die formelle Verfassungsmäßigkeit der Beschränkungen keine Bedenken.
Landesgesetzgebung
Gestützt auf die Ermächtigung im IfSG haben die Bundesländer ergänzende Rechtsverordnungen erlassen. Daneben bestehen noch Infektionsschutzgesetze der Bundesländer, z. B. das Bayerische Infektionsschutzgesetz (BayIfSG) vom 25. März 2020. In der Zusammenschau all dieser Rechtsgrundlagen zeigt sich, dass Bund und Länder den Gesundheitsverwaltungen ein breites Instrumentarium zur Bekämpfung von Seuchengefahren zur Verfügung gestellt haben.
Die entscheidende Frage der Zukunft wird sein, ob die vielen in den Gesetzen und Verordnungen enthaltenen Regelungen auch materiellrechtlich den strengen Anforderungen des Grundgesetzes gerecht werden. Dies erfordert genaue Überprüfungen im Einzelfall. Es ist jetzt schon absehbar, dass diese Verfahren die Verwaltungsgerichtsbarkeit und das Bundesverfassungsgericht über Jahre hinaus auslasten werden.
Schwierige Abwägungen
Die Politik hatte in den letzten Wochen schwierige Abwägungsentscheidungen zwischen Gesundheitsschutz, Freiheitswunsch der Menschen, den Interessen der Wirtschaft und der Arbeitnehmer, der Schulen, der Glaubensgemeinschaften, der Kultur und des Sports sowie der öffentlichen Finanzen zu treffen. Erschwert wurde das durch den enormen Zeitdruck, unter dem angesichts der Pandemie gehandelt werden musste. Vertiefte verfassungsrechtliche Vorabprüfungen waren kaum möglich.
Bemerkenswert ist, dass die Verbote in der Gesellschaft auf große Zustimmung stießen. Oft hatte ich den Eindruck, dass die Akzeptanz umso größer war, je tiefer die Einschnitte in das Alltagsleben waren. Motto: Viel hilft viel. Aufbegehren gab es nur, als das Handy-Tracking ins Gesetz geschrieben werden sollte. Die Schriftstellerin Juli Zeh bemerkte hierzu, offensichtlich sei den Menschen ihr Handy wichtiger als ihre Bewegungsfreiheit.
Es wäre vermessen, im Rahmen dieses Artikels Aussagen zur Rechtmäßigkeit einzelner Maßnahmen zu machen. Dies schließt jedoch nicht aus, einige Prüfkriterien zu benennen:
Es besteht allseits Einigkeit, dass die Folgen der Virusbekämpfung nicht schlimmer sein dürfen als die zu bekämpfende Ursache (das Virus).
Es muss immer das mildestmögliche Mittel angewandt werden. Außerdem muss jede Einschränkung von Grundrechten geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sein. Dies wäre dann nicht der Fall, wenn ein bestimmtes Verbot nicht geeignet wäre, die Virusausbreitung zu verhindern oder wenn ein weniger stark eingreifendes Mittel denselben Zweck erfüllen würde. Besondere Wachsamkeit ist immer dann geboten, wenn die Politik ihre Maßnahmen als alternativlos bezeichnet und Zweifel mit dem lapidaren Hinweis auf die Verhältnisse in Italien oder Spanien abtut.
Eine offene Flanke der Corona-Maßnahmepakete besteht darin, dass es bei ihrem Erlass „nur“ ein paar hundert Corona-Tote in Deutschland gab. Die Grippewelle von 2017/2018 hat nach amtlichen Angaben (RKI) ca. 25.000 Menschenleben gefordert, ohne dass der Staat besondere Maßnahmen ergriffen hat. Das bedeutet, dass die jetzigen rigorosen Verbote nur dann eine innere Rechtfertigung haben, wenn die Politik in einer Prognoseentscheidung (worst case Einschätzung) mit einem dramatischen Verlauf der Corona Pandemie rechnen musste. Hierbei ist nicht der heutige Kenntnisstand maßgeblich. Vielmehr kommt es allein auf die damalige Sicht der Politik unter maßgeblicher Einbeziehung der Expertise von anerkannten Virologen und Epidemiologen an. Entscheidendes Kriterium war die Wertordnung des Grundgesetzes: im Zweifel zugunsten des Lebens und der Gesundheit.
Ein wesentliches Kriterium für die Rechtmäßigkeit von Grundrechtsbeschränkungen ist deren zeitliche Dauer. Je länger ein Versammlungs- oder Demonstrationsverbot andauert, desto gewichtiger müssen die Gründe für seine Beibehaltung sein. Denn hierbei handelt es sich um ein elementares Grundrecht, das auch oder gerade in Krisenzeiten von allergrößter Bedeutung ist. Ähnliches gilt für Beschränkungen von Gottesdienstbesuchen und Besuchen naher Angehöriger in Pflegeheimen. Es ist stets abzuwägen, ob das Ziel des Lebens- und Gesundheitsschutzes auch durch andere Maßnahmen wie etwa Besuchs- und Teilnahmebegrenzungen, Abstandsgebote und Maskenpflicht erreicht werden kann.
Der Politik ist zugute zu halten, dass sie sich von Anfang an des Spannungsverhältnisses zwischen Grundrechtsbeschränkungen und deren Dauer bewusst war. Das zeigt sich an den eng begrenzten Laufzeiten der erlassenen Verbotsregelungen. Ergänzend wird in kurzen Zeitabständen überprüft, ob und welche Verbote gelockert werden können. Das ist ein Indiz dafür, dass die Verantwortlichen an einer schnellen Beendigung des Ausnahmezustands interessiert sind. Die Gefahr eines autoritären Umbaus von Rechtsstaat und Demokratie sehe ich derzeit nicht.
Ausblick
Ich vermute, dass die Gerichte demnächst die Frage beschäftigen wird, welche rechtlichen Folgen es hat, wenn der Gesetzgeber weiterhin mögliche Schutzvorkehrungen wie etwa Masken und Tracking-App verzögert. Es ist offensichtlich, dass die Politik eine ausreichende Ausstattung des Gesundheitssystems mit Atemmasken, Desinfektionsmitteln und Geräten der medizinischen Intensivpflege verschlafen hat. China und Südkorea haben schon vor Monaten bewiesen, dass sich die Ausbreitung der Pandemie durch solche Schutzmaßnahmen entscheidend eindämmen lässt. Spätestens Ende Februar war auch hierzulande absehbar, dass Corona auf ein schlecht vorbereitetes Gesundheitssystem treffen wird.
Die Politik wird auf lange Zeit gefordert sein, eine Balance zwischen Leben und Gesundheit einerseits und Wirtschaft und Wohlstand andererseits zu finden. In einer Mail stand in größter Verdichtung, es sei die Entscheidung zwischen Opa und Bruttosozialprodukt. Das Dilemma besteht darin, dass jede Entscheidung für das Leben (etwa durch Verlängerung von Ausgangsbeschränkungen) ebendieses Schutzgut Leben auf andere Weise gefährden kann (Existenzverlust, Hunger, Gewaltexzesse, Suizide).
Lockerungen
Seit sich die Corona Ansteckungskurve etwas abgeflacht hat, werden aus bestimmten Kreisen des Handels und der Wirtschaft Lockerungsübungen gefordert. Fatal ist, je mehr darüber geredet wird, desto stärker wird der Druck auf die Entscheidungsträger. Es ist beobachtbar, dass Personen, die sich derzeit um Posten und Ämter bemühen, diesem Erwartungsdruck immer mehr nachgeben.
Gleichzeitig warnen ernst zu nehmende Wissenschaftler vor Leichtsinn in der jetzigen Phase. Eine verfrühte Öffnung der Schleusen könne zu neuen, schwer kontrollierbaren Infektionswellen führen und begleitend dazu zu Motivationsverlusten der Menschen. Deshalb empfehlen besorgte Stimmen, die Restriktionen noch ein paar Wochen beizubehalten, zumindest solange bis ein Dreierpack aus genügend Schutzausrüstung, Tracking-App und Laborkapazitäten für verlässliche Testverfahren zur Verfügung stehen. So vorbereitet lasse sich die Zeit bis zum Vorhandensein wirksamer Medikamente oder einer Schutzimpfung ohne das Risiko großer Rückschläge überbrücken.
Schlusswort
Es ist verantwortungslos zu behaupten, dass wir jetzt in grundrechtsfreien Zeiten leben. Diese vermeintlichen „Schutzpatrone der Grundrechte“ haben entweder nicht begriffen, wie Grundrechte funktionieren, oder es liegt ihnen daran, Verunsicherung zu erzeugen.
Wo Menschen handeln, geschehen Fehler. Die meisten der jetzt sichtbar gewordenen Fehler liegen ursächlich in der Vergangenheit. Neue Fehler dürften vorwiegend auf Fehleinschätzungen der aktuellen Lage oder auf juristischen Abwägungsdefiziten beruhen. Ein Hauptproblem der nächsten Zeit wird die Abgrenzung sein, was wieder erlaubt wird und was nicht. Jede Öffnung eines Teilbereichs wird Unverständnis bei denen auslösen, deren Betrieb weiterhin geschlossen bleibt.
Die Erfahrung lehrt, dass eine Befreiung von einem Verbot zehn weitere Befreiungsanträge („Bezugsfälle“) nach sich zieht, eine ertragreiche Nährwiese für Anwaltskanzleien. Das Bundesverfassungsgericht und die Verwaltungsgerichte haben inzwischen die ersten Korrekturen – vorwiegend im Bereich des Versammlungsrechts – vorgenommen. Hunderte werden folgen.
Das Frühjahr 2020 hat uns vor schwere Herausforderungen gestellt. Auch im Sommer wird es noch bedrückende soziale Abstürze geben. Und viele Menschen werden noch Opfer des Corona Virus werden. Es wird vermutlich lange dauern, bis wieder normale Verhältnisse herrschen. Mehr als das: Wahrscheinlich wird das neue Normale anders sein als es das alte war.
Aber ich bin zuversichtlich, dass der Rechtsstaat die Prüfung bestehen wird.
Peter Vonnahme war bis zu seiner Penionierung Richter am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in München. Er ist Mitglied der deutschen Sektion der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA). Von 1995 bis 2001 war er Mitglied des Bundesvorstandes der Neuen Richtervereinigung (NRV).