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Allgemein/Politik/Geschichte

Was geht uns die Welt an?

Freitag, 7.12.2022, S. 3

Realitätsverlust Finanzminister Christian Lindner darf erst Schulden machen, wenn eine Notlage eingetreten ist. Das entspricht dem Gegenteil von vorausschauender Politik – und gefährdet das Wohl aller

Von Kathrin Gerlof

„Mechanismen der Verneinung sind aufrichtige Lügen“, schreibt Guillaume Paoli in seinem Buch Geist und Müll. Zumindest das ließe sich Finanzminister Christian Lindner (FDP) unterstellen. Er, so wie seine möglichen künftigen Koalitionspartner Friedrich Merz (CDU) und Markus Söder (CSU), lügen aufrichtig, was die Verteidigung der Schuldenbremse anbelangt. Das lässt sich allerdings nur durchhalten, wenn man bereit ist, völlig zu ignorieren, was die grüne Umweltministerin Steffi Lemke mit dem Satz „Die Schmerzgrenze des Planeten ist erreicht“ zusammenfasste. Kein Problem, doch, das geht. Und Klientelpolitiker, wie der Liberale Lindner einer ist, sind sich auch nicht zu schade, große Teile der Realität einfach auszublenden. Sie GLAUBEN an die Schuldenbremse, weil nur so aufrichtige Lüge werden kann, was sie jeden Tag erzählen.

Die schwäbische Hausfrau sollte endlich Klage beim Bundesverfassungsgericht einreichen, wegen ständigen Missbrauchs durch Männer, die sie immer wieder zitieren, um zu beweisen, dass man richtig liege. Viele Finanzminister – auch sozialdemokratische – haben ihr die düstere Anmutung einer Zuchtmeisterin gegeben, deren Herz eine schwarze Null ist und deren Tür verschlossen bleibt, wenn die Spätzle nur für zwei reichen, aber noch drei arme Schlucker Einlass begehren. Die Schuldenbremse wurde 2009 zum Gesetz erhoben und legte fest, dass Deutschlands maximal zulässige strukturelle Kreditaufnahme ab 2016 jedes Jahr bis zu einer Höhe von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes betragen darf. So steht es im Grundgesetz. Eine solche Festlegung enthält bereits in der Formulierung, was sie ermöglicht und was sie ausschließt.

Todesstoß fürs Denken

Sie ermöglicht tatsächlich Neuverschuldung über diese ominösen 0,35 Prozent hinaus, wenn Notlagen eingetreten sind. Das Verfassungsgericht hält das für „vollumfänglich verfassungsrechtlich prüfbar“. Vielleicht ließe sich an der Stelle – wenn das Gericht da schon vor Selbstbewusstsein strotzt – noch mal überlegen, ob diese Sache mit dem Klima nicht eine Notlage ist. Gerade erst hat doch der Klimabericht erklärt, Deutschland sei um 1,7 Grad wärmer geworden und verliere massiv an Wasser (jährlich einen ganzen Bodensee voll). Aber nein, so ist das natürlich nicht gemeint. Es geht eher um Wirtschaft, die ja herzlich wenig mit dem Klima zu tun hat, und eben das Bruttoinlandsprodukt, das ebenso unschuldig ist an der Klimakatastrophe.

Die Notlage hat nach gegenwärtiger Rechtslage und Rechtsprechung ein Ablaufdatum. Sie muss jährlich neu ausgerufen und begründet werden. Allerdings gilt auch, sie kann wiederholt beschlossen werden, wenn es länger dauert mit der Krise. Könnte man bei der Sache mit dem Klima hinbekommen, aber, wie geschrieben, darum geht es gar nicht. Das Verfassungsgericht hat die deutsche Einheit und die Weltwirtschaftskrise 2008 als Beispiele für eine solche Notlage genannt. Nicht das Überschreiten fast aller planetaren Grenzen. Vielleicht ist das auch zu groß.

Lukas Märtin und Carl Mühlbach schreiben auf der Webseite verfassungsblog.de den finsteren Herzen der schwarzen Null ins Buch: „Letztlich ist die Schuldenbremse, wie sie sich nun durch das Urteil darstellt, ein Todesstoß für politisches Denken in langfristigen Zusammenhängen.“ Denn natürlich kann sie im Fall von Naturkatastrophen (die Klimakrise kommt als solche daher, ist aber eine menschengemachte Katastrophe) oder außergewöhnlichen Notsituationen ausgesetzt werden. Aber: „Mit Blick auf die Konstruktion der Notlage fällt auf, dass Kreditaufnahmen nur re-aktiv möglich sind. Das Kind muss also schon in den Brunnen gefallen sein, bevor der Gesetzgeber mit Hilfe von Kreditaufnahmen tätig werden darf.“ Lasst uns warten, bis wir tot sind.

Präventive Politik, das aktive Verhindern von möglichen Notlagen und Katastrophen müssen ohne Kredite stattfinden. Eine solchen Kriterien folgende Politik ist mehr als unterlassene Hilfeleistung. „Unter Berücksichtigung der Erwägung des Senats wäre beispielsweise ein Ereignis wie die Flut im Ahrtal eine solche Naturkatastrophe. Für die Bekämpfung der Ursache, die vielen Naturkatastrophen zugrunde liegt, der Klimakrise, darf der Staat allerdings keine Kredite verwenden, was geradezu paradox anmutet“, schreiben die Verfassungsblogautoren Märtin und Mühlbach.

Luisa Neubauer (Fridays for Future) schlägt ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für Klimaschutz vor. Der Ökonom Marcel Fratzscher antwortet auf X, ein solches Sondervermögen sei gerechtfertigt, aber unzureichend, denn die Klimakrise „ist nicht temporär und unvorhersehbar, sondern eine Krise mit Ansage“. Der arbeitgebernahe Ökonom Michael Hüther bringt 400 Milliarden Euro ins Spiel (Lesen Sie das Freitag-Gespräch mit ihm auf Seite 5).

Die Erkenntnis, zu der viele kluge Menschen schon gelangt sind und andere vielleicht dieser Tage gelangen, ist: Die Schuldenbremse funktioniert sowieso nur, wenn man davon ausgeht, gehörig viel Kosten auszulagern und auf dem Rücken anderer, ärmerer Teile und Menschen der Welt die damit verbundene Austeritätspolitik zum ewigen Wahlkampfschlager zu machen. Unter der Schuldenbremse made in Germany leiden nicht nur all jene Menschen, die hierzulande in schwierigen und schwierigsten sozialen und ökonomischen Verhältnissen leben.

Es soll nicht darum gehen, das Verfassungsgericht für etwas anzuklagen, das die Politik zu verantworten hat. Die Richter*innen machen ihre Arbeit, ob uns die Ergebnisse nun passen oder nicht, und sie haben die Schuldenbremse nicht ins Grundgesetz gedengelt. Sie urteilen nur auf Basis dessen, was vorher getan oder versäumt wurde.

Das elfte Gebot

Auch der aktuelle Finanzminister hört wie seine Vorgänger nicht auf, die Schuldenbremse zu preisen, als sei sie ein Gebot Gottes – Nummer elf vielleicht. Die britische Financial Times – linksgrünsozialer Umtriebe nicht allzu verdächtig – schrieb denn auch, die grundgesetzliche Verpflichtung zu einem nahezu ausgeglichenen Haushalt sei eine denkbar schlechte Idee gewesen. Es werde sicher schwierig, aber ein politischer Konsens, die Schuldenbremse zu lockern, müsse wohl gefunden werden. Zumal das Urteil des Verfassungsgerichts Deutschland erschweren werde, seinen Anteil an der Aufstockung des EU-Haushaltes zu leisten.

Die Ökonomin Philippa Sigl-Glöckner und ihr Kollege Max Krahé formulierten es in einem Beitrag auf der Webseite dezernatzukunft.org (ein überparteilicher Thinktank, der uns und der Politik Geld-, Finanz- und Wirtschaftspolitik verständlich erklärt und einordnet) so: „Eines erlaubt aber weder die wiederholte Notlage noch die Konjunkturkomponente: wirklich vorausschauende Politik. Die Schuldenbremse gestattet keine mittelfristige strukturelle Neuverschuldung in signifikanter Höhe. (…) Um die Wirtschaft zu dekarbonisieren, unser Bildungssystem und die Bahn generalzuüberholen, über einen voll ausgelasteten Arbeitsmarkt die Löhne und die Produktivität zu steigern und mit kluger Industriepolitik die Wertschöpfungscluster der Zukunft zu uns zu holen – für diese Stärkung der Realwirtschaft, die erst die öffentlichen Finanzen langfristig tragfähig macht, trifft die Schuldenbremse keine Vorkehrungen.“ Verschulden dürfe man sich erst, wenn die Notlage da ist und der Abschwung in vollem Gange. Die völlig willkürliche Zahl von 0,35 Prozent führe zu einer nicht-nachhaltigen Politik.

Lesen die Politiker*innen, denen wir ja gewählt ausgeliefert sind, eigentlich solche Texte? Hören die den von ihnen gelobten Ökonomen zu? Peter Bofinger bezeichnet die Schuldenbremse als zukunftsfeindlich, Jens Südekum fragt, ob die der Realität überhaupt standhalte (der Freitag 47/2023). Natürlich, es gibt auch die anderen, die von einem fiskalischen Scherbenhaufen für nachfolgende Generationen reden, wie Friedrich Heinemann vom Zentrum Europäische Wirtschaftsforschung. Aber auch er plädiert dafür, die Bremse in ihrer jetzigen Form zu überprüfen. Das will Finanzminister Christian Linder aber genauso wenig wie Steuererhöhungen oder eine Reform der Erbschaftssteuer oder irgendetwas anderes, das geeignet wäre, auf richtige Art und Weise wenigstens ein bisschen umzuverteilen. Auch der Ökonom Heinemann kann die Frage nicht beantworten, was nachfolgende Generationen eigentlich mit einem ausgeglichenen Haushalt anfangen können, wenn ihnen die Luft zum Atmen und das Wasser ausgeht. Ist aber auch nicht wichtig, der Mann ist dann schon tot.

Da sei Gott vor!

Es ist nicht sinnvoll, sich an Christian Lindner festzubeißen und Merz zu vergessen. Dessen Ziel, die Regierung vor sich herzutreiben, zu destabilisieren und ins vorzeitige Aus zu prügeln, um dann selber Regierung sein zu dürfen (niemand sollte den Namen des Herrn missbrauchen, aber da sei Gott nun wirklich vor), hat nichts, aber auch gar nichts mit den Interessenslagen der lebenden und der kommenden Generationen zu tun. Merz macht ausschließlich Politik für Merz und bei vielen seiner Kollegen im Geiste ist es nicht anders. Dass er nun aus den eigenen Reihen wahrscheinlich nicht nur Nettes zu hören bekommt, dafür, dass er sich die Hände reibt, weil 60 Milliarden im Haushalt fehlen, wird er vorerst verschmerzen können. Merz denkt wahrscheinlich über den nächsten Coup nach und die AfD ärgert sich vielleicht, dass sie nicht selbst auf die Idee gekommen ist, tröstet sich aber damit, Nutznießerin zu sein.

Die Regierung und ihr Finanzminister machen es Merz leider ziemlich einfach. In leichter, aber folgenschwerer Abwandlung der Worte des Bundeskanzlers: Wir sind ziemlich allein, draußen ist es dunkel, das Wasser geht aus, auf den Autobahnen braust der Verkehr, den Tafeln wird das Essen knapp, anderswo auf der Welt ist nach der Dürre vor der Dürre und nach der Flut vor der Flut, Klimaflüchtlinge gibt es nicht, solange wir sagen, dass es sie nicht gibt, und überhaupt, was geht uns die Welt an?

Am Ende muss man sich dann noch Regierungserklärungen dieses Bundeskanzlers anhören, der die Kunst des Weglächelns zwar beherrscht, seinen Wirtschafts- und Klimaminister jedoch alone walken lässt. Und das ever, wie es aussieht.

Wir sollten über eine grundgesetzlich verankerte Schuldbremse reden

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Global Tipping Points«-Bericht Diese fünf Kipppunkte könnten unser Klima schon bald radikal verändern

1. der grönländische Eisschild sowie
2. der Eisschild in der Westantarktis,
3. sämtliche Warmwasser-Korallenriffe,
4. die subpolaren Wirbelzirkulation im Nordatlantik und
5. die Permafrost-Regionen

https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/klimakrise-diese-fuenf-kipppunkte-koennten-die-welt-schon-bald-radikal-veraendern-a-44f5d586-d70d-4702-acb0-c387cca15a9f?sara_ref=re-so-app-sh

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Die Ausbildung des Menschen zum Massenmord

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Allgemein/Politik/Geschichte Lübeck

Den Lübecker Graben überwinden!

Was an den letzten Bürgerschaftssitzungen spektakulär war und unverzüglich geändert werden sollte, ist das gegenseitige Misstrauen und die gegenseitige Isolation von Bürgerschaft und Verwaltung in Lübeck. Hinzu kommt – seit dem unglücklichen Koalitionsbruch der SPD im Januar 2023 mit der Wahl der Bausenatorin – der tiefe Graben zwischen CDU und SPD, den die beiden stärksten Fraktionen kultivieren.

Besonders abschreckend waren dabei die Verleumdungen des Amtsinhabers. Ein Indiz für die negative Wirkung kommunaler Politik ist die gegenüber 2017 noch geringere Wahlbeteiligung von 37% beim ersten Wahlgang der Wahl des Bürgermeisters oder der Bürgermeisterin. 2017 waren es bei der Direktwahl im ersten Wahlgang noch 39,2%. Eine Wahlbeteiligung, die zwar  ebenfalls beschämend gering ist, aber für Wahlen von Bürgermeister- oder Bürgermeisterinnen in den Kreisfreien Städten Schleswig-Holsteins leider nicht unüblich. 

Was tun? Die Antwort darauf ist kompliziert. Der spektakuläre Graben zwischen Verwaltung und Bürgerschaft oder besser, das Ohren-Verschließen vor den Fakten der Verwaltung in Lübeck, liegt nicht nur an den handelnden Personen. Die geänderte Kommunalverfassung von 1997, die den Senat als kommunalverfassungsrechtlich vermittelndes Organ abschaffte, ist eine wesentliche Ursache für das »Neue Schweigen«.

In der Senats-Verfassung bis 1997 wäre diese Nichtkommunikation unmöglich gewesen, weil die hauptamtlichen- und ehrenamtlichen Senatsmitglieder fest in die Fraktionen eingebunden waren. Dort übermittelten sie das alltägliche Verwaltungswissen in die Fraktionen und umgekehrt das Fraktionswissen wiederum in den Senat. Die neue Bürgermeister-Verfassung überlässt indes diesen für das kommunale Leben existenziellen Informationsaustausch der Willkür der führenden Personen. Diese kommunalverfassungsrechtlich vorgegebene Nicht-Organisation einer gegenseitigen verlässlichen Kommunikation ist äußerst schädlich.

Deshalb ist es nun in erster Linie eine neu erwachsene verfassungspolitische Pflicht der gleichgeordneten Repräsentanten beider Organe, hier des Stadtpräsidenten und des Bürgermeisters, proaktiv eine förderliche Kommunikationsordnung herzustellen. Dabei sorgt der Stadtpräsident in der Bürgerschaft und der Bürgermeister in der Stadtverwaltung für die jeweilige kommunikative Ordnung. Beide haben Störungen wie etwa Fake News in ihrer verheerenden Wirkung auf die Stadtpolitik auszuschließen. Ein Weitermachen wie bisher, die verbissene Optimierung des Falschen, ist zwar subjektiv naheliegender als die Suche nach Wegen, die man bisher noch nicht gegangen ist. Es ist indes für Lübeck hohe Zeit, die Inschrift des Holstentores, „CONCORDIA DOMI FORIS PAX“ (Eintracht drinnen, Frieden außen), nach 160 Jahren wiederzubeleben!

Demgegenüber ist die Analyse der Lübecker Nachrichten vom 8.11. 2023, die fragt, ob die hohe Zahl der Nichtwähler von über 60% auf die Einführung der Direktwahlen der Bürgermeister oder Bürgermeisterinnen ab 1998 zurückzuführen, und deshalb wieder abzuschaffen sei, offensichtlich ein Holzweg:

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24 Stunden, in denen die Republik wankte

Vor 100 Jahren wollte sich Hitler in München an die Macht putschen. Der Versuch war dilettantisch – und doch voller Gefahren für Juden und Jüdinnen. Von Dirk Walter

Hitler-Putsch 1923: Die Nazis marschieren in München ein. gemini/Imago Images

Manchmal kann man eine Geschichte auch von ihrem Ende her erzählen. Am 8. November 1939 sprengte der schwäbische Schreiner Georg Elser den Münchner Bürgerbräusaal an der Rosenheimer Straße mit einer Bombe in die Luft. Durch die Detonation gab es acht Tote – leider war nicht Adolf Hitler darunter, denn er hatte den Saal eine Viertelstunde vorher verlassen. Der Bürgerbräusaal, der rund 2000 Personen fasste und in den 1920er- und 1930er-Jahren einer der größten Veranstaltungssäle Münchens war, wurde 1979 abgerissen. Heute steht an dieser Stelle ein Verwaltungsgebäude – dort, wo einst der detonierte Stützpfeiler war, ist am Boden eine Gedenkplakette eingelassen.

Warum eigentlich war Hitler am 8. November 1939 zu einer Gedenkveranstaltung im Bürgerbräusaal? Das führt direkt zu der Geschichte, die jetzt 100 Jahre zurückliegt: der Hitlerputsch am 8./9. November 1923. Seitdem hatten Ort und Termin eine „hohe symbolische Bedeutung“, wie der Historiker Wolfgang Benz schreibt. 1939 begingen die Nationalsozialisten den 16. Jahrestag des Putsches – wie immer mit einer pompösen Veranstaltung. In der NS-Zeit war der Bürgerbräu eine zentrale Erinnerungsstätte an jene dramatischen Tage im November 1923, als Hitler erstmals eine „Machtergreifung“ versuchte – nicht wie 1933 auf legalem Wege, sondern durch einen Putsch, der Politik und Polizei überrumpelte.

Zwischen der Ausrufung des Putsches am Abend des 8. November 1923 und dem blutigen Ende am Odeonsplatz – 15 Putschisten, ein Schaulustiger und vier Polizisten starben – liegen keine 24 Stunden. Und doch verursachte der Putsch Schockwellen in ganz Deutschland. München schien wie paralysiert, während rechtsradikale Bürgerwehren ungehindert durch die Stadt marschierten, Juden und politische Gegner verhafteten und sich für einen angeblichen Marsch auf Berlin rüsteten.

Das Jahr 1923 war ein absolutes Krisenjahr. Die „Münchener Zeitung“ jener Tage ist voller Katastrophenmeldungen. Die Besetzung von Rhein und Ruhr durch französische und zu einem kleinen Teil auch belgische Truppen, Hyperinflation, Separatismus, kommunistische Unruhen („Der Bolschewismus sagt dem Reiche den Kampf an“, lautete eine Überschrift jener Tage) und dann auch noch nationalistische Putschpläne in Bayern und Küstrin östlich von Berlin – im Rückblick ist es fast ein Wunder, dass die junge Weimarer Republik überlebte.

Die Vorgeschichte des Hitlerputsches beginnt am 26. September 1923, als die von einer Großen Koalition gestützte Reichsregierung unter Reichskanzler Gustav Stresemann von der bürgerlichen DVP den passiven Widerstand gegen die Ruhrbesetzung abbrach. Das löste im fernen Bayern nationalistische Empörung aus. Die amtierende bayerische Regierung unter dem blassen Ministerpräsidenten von Knilling sah sich gezwungen, einen sogenannten Generalstaatskommissar einzusetzen: Gustav von Kahr (60), Protestant, seit 1917 Regierungspräsident von Oberbayern und 1920/21 schon einmal Ministerpräsident, war so etwas wie eine Verkörperung der bayerischen Ordnungszelle. Der in der Verfassung nicht vorgesehene Generalstaatskommissar – wie andere Blätter auch sprach die „Münchener Zeitung“ von einer „Diktatur“, meinte das aber durchaus positiv – hatte umfassende exekutive Vollmachten. Auf ihn setzte die tonangebende Bayerische Volkspartei (BVP) große Hoffnungen. Und Kahr enttäuscht sie anfangs nicht. So wies er im Oktober 1923 geschätzt 400 Personen, 90 Prozent davon Juden mit ausländischer Staatsangehörigkeit, als „wirtschaftliche Schädlinge“ aus, drangsalierte sie mit Hausdurchsuchungen, weil sie angeblich – wie es in einem Polizei-Protokoll hieß, „im wirtschaftlichen Leben nicht notwendig“ seien. Wie angespannt die Lage für die Jüdinnen und Juden war, veranschaulicht eine Anzeige in der „Münchener Zeitung“ vom 27. Oktober 1923.

Die Firma Bernheimer am Lenbachplatz wehrte sich darin gegen „unerhörte Gerüchte“, sie seien „Geldgeber der kommunistischen Partei“ und stünden vor der Ausweisung. In den Akten des Generalstaatskommissariats gibt es zudem Hinweise, dass Kahr die Todesstrafe „für besonders schwere Fälle der Volksausbeutung“ einführen wollte. Mit Volksausbeutung war Wucher gemeint – und dafür machte man ja primär Juden verantwortlich.

Lion Feuchtwanger hat im „Erfolg“, dem 1930 geschriebenen, heute noch lesenswerten Bestseller, treffend die damalige Lage beschrieben. Bei ihm ist Kahr der „Flaucher“, die Nationalsozialisten sind die „Wahrhaft Deutschen“: Bauernschlau, so heißt es da, machte Flaucher „die zugkräftigsten Programmpunkte der Wahrhaft Deutschen zu seinen eigenen. Nahm ihnen den Wind aus den Segeln. (…) Setzte den von der Berliner Regierung über das ganze Reich proklamierten Ausnahmezustand für Bayern außer Kraft, erklärte statt dessen seinen eigenen bayerischen Ausnahmezustand. Regierte wild drauf los.“ Und weiter: „Verjagte altansässige Juden in großer Anzahl aus München. (…) Ernannte den von Berlin abgesetzten General zum bayerischen Landeskommandanten“ – gemeint war der Reichswehr-General Otto von Lossow, der noch eine wichtige Rolle beim Putsch spielen sollte. Weiter schrieb Feuchtwanger: „Im Rundfunk, durch den Äther, verkündete er der Welt, die Reichsregierung stehe im Banne des Marxismus. (…) Bayern, Hochburg des bedrängten Deutschlands, sei nicht gewillt, das länger zu dulden, nehme den Kampf auf, den Berlin ihm aufgedrängt habe.“

In der Tat: Vom Generalstaatskommissar v. Kahr versprach sich die nationalistische Rechte weit über Bayern hinaus, die Errungenschaften der Revolution rückgängig zu machen. In welche Richtung das dann konkret gelaufen wäre, war 1923 ganz unklar. In nationalistischen Verbänden existierten damals diverse Planspiele für eine Militärdiktatur, für die Rückkehr zur Monarchie oder auch Varianten davon. Aber man muss auch sagen: Vor einem blutigen Putsch „von unten“, der Anwendung von Straßengewalt und der öffentlichen Hinrichtung politischer Gegner, wie es sich Hitler ausmalte, schauderte vielen Konservativen.

Mit Spannung sah man nun am Vorabend des 5. Jahrestags der Revolution einer Rede entgegen, zu der Kahr über den Bayerischen Industrieverband in den Bürgerbräukeller eingeladen hatte. In der Woche zuvor hatte hier noch einer der populären „Faustkämpfe“ stattgefunden, der Boxer Stein (1860) gegen den Boxer Eindder vom Verein Frohsinn – „und anderes gutes Kämpfermaterial“, wie es in einer Anzeige in der „Münchener Zeitung“ hieß. Jetzt kam es im Bürgerbräu zum politischen Schlagabtausch.

Etwa 2000 Menschen, Honoratioren aus Politik, Beamtenschaft und Wirtschaft, versammelten sich am Abend in dem Bierkeller. Das Bier floss in Strömen, als Gustav von Kahr gegen 20 Uhr seine Rede begann. Der deutschnational gesinnte Münchner Historiker Karl-Alexander von Müller berichtete davon in seinen Erinnerungen: „Kahr hielt keine Rede für eine Volksversammlung, sondern einen akademischen Vortrag, ja eine Vorlesung über den Marxismus“, schrieb er. „Ein paar ganz gute Sätze am Anfang, dann ohne Salz, langstielig und langweilig.“ Er „mochte vielleicht eine halbe Stunde gesprochen“ haben, da „hörte man über die ganze Menge hinweg wachsende Unruhe am Eingang … Kahr hörte zu Sprechen auf. Viele stiegen auf die Bänke, um zu sehen, was vor sich ging. Plötzlich sah ich, schon ganz nah vor mir, Adolf Hitler, bleich, die dunkle Haarsträhne ins Gesicht hereinhängend, rechts und links von ihm ein Sturmtruppler mit roter Armbinde, Pistolen in den erhobenen Händen an den Kopf gehalten. Hitler stieg vielleicht zehn Schritte vor Kahr auf einen Stuhl und gab dem Begleiter zu seiner Rechten ein Zeichen. Ein Schuss krachte, man sah das Loch, das die Kugel in die Saaldecke riß. ,Die deutsche Revolution ist ausgebrochen!‘’, rief Hitler in die Stille. ,Der Saal ist umstellt‘.“ 

In der „Münchener Zeitung“ sind noch weitere Passagen von Hitlers Rede wiedergegeben. De

mnach erklärte er die „Regierung der Novemberverbrecher in Berlin“ für abgesetzt und rief „Exzellenz von Kahr“ zum „Landesverweser“ aus – was auch immer das sein sollte. Der Mitputschist Ernst Pöhner, von 1919 bis 1921 Münchner Polizeipräsident, sollte neuer Ministerpräsident, Ludendorff neuer Leiter einer deutschen nationalen Armee werden. Für sich selbst hatte Hitler die Rolle als Leiter „der Politik in dieser provisorischen Nationalregierung“ vorgesehen – also Reichskanzler.

Sodann bat Hitler Kahr, den bayerischen Landeskommandanten Lossow und den Chef der bayerischen Landespolizei Johann von Seißer zu einer Aussprache hinaus. Im Saal entstand Unruhe – „Mein erster Gedanke nach diesem Auftritt war, dass es im Saal zu einem heillosen Unglück käme“, schrieb ein weiterer Augenzeuge, der Münchner Lehrer Friedrich Lüers, in sein bis heute unveröffentlichtes Tagebuch. „Wir waren samt und sonders Gefangene von den Hitler-Banden.“

Der deutschnational gesinnte Historiker Karl-Alexander von Müller erinnert sich: „Ein Schuss krachte, man sah das Loch,  das die Kugel in die Saaldecke riß. ,Die deutsche Revolution ist ausgebrochen!‘, rief Hitler in die Stille. ,Der Saal ist umstellt‘.“

Quellenangabe: FR Deutschland vom 07.11.2023, Seite 24

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Allgemein/Politik/Geschichte Lübeck Persönliches Profil

Brief von bosnischen Kindern 1992?

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Allgemein/Politik/Geschichte

Den nicht zu gewinnenden Ukrainekrieg endlich beenden!

https://michaelbouteiller.de/wp-content/uploads/2023/09/Friedensaufruf_2023-web.pdf

Wer mehr über beide Seiten des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Putins gegen die Ukraine wissen will: Interview mit Henrik Baab

Noam Chomsky : https://youtu.be/JbJQa53-aAI?si=M66V0ltTgb8hGq8g

https://www.linksnet.de/artikel/4841

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Allgemein/Politik/Geschichte Theorie/Diskussion

Der verfassungswidrige  Wortgebrauch des  Begriffes »Staatsraison« durch die Bundesregierung

  1. »Staatsräson« ist ein Prinzip, das die Interessen des Staates über alle anderen (partikularen oder individuellen) Interessen stellt. Nach diesem absolutistischen bzw. obrigkeitsstaatlichen Prinzip ist die Erhaltung der Macht, die Einheit und das Uberleben des Staates ein Wert an sich und rechtfertigt letztlich den Einsatz aller Mittel, unabhängig von Moral oder Gesetz. Das Prinzip der S. wird heute noch von autoritären Regimen gepflegt.( Schubert, Klaus/Martina Klein: Das Politiklexikon. 7, aktual. u. erw. Aufl. Bonn: Dietz 2020. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung).

Oder, wer es genauer wissen will: 

(Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, S.90).

  1. Mit dem regierungsamtlichen Wortgebrauch »Staatsraison« reiht sich unsere Regierung ein in die verhängnisvolle Reihe der Verächter unserer Verfassung und ihrer Nomenklatur. Wer darüber mehr wissen will, der lese: Der aufhaltsame Weg in den Faschismus.
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Allgemein/Politik/Geschichte

Wilhelm Bouteiller an Karl Kautsky, den Herausgeber der „Neuen Zeit“ 1895

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Den Krieg mit einem Friedensvorschlag beenden

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